Verloren in den Tunneln des Vergessens: Als Lennart nachts im Hamburger Hauptbahnhof erwacht, weiß er weder wo er ist, noch wer er ist oder warum er hier ist. Nur mit dem Foto eines ihm unbekannten Mädchens in der Tasche macht er sich auf die Suche nach seiner Identität und seiner scheinbar verlorenen Liebe. Seine Reise führt ihn tief in die Clubszene Berlins und bringt ihn seiner Vergangenheit immer näher. Nach und nach findet Lennart heraus, dass er den musikalischen Manipulationen des charismatischen, aber gefährlichen DJs Bulgur verfallen ist. Wird Lennart sich retten können? Der neue Roman vom Autor von "Lost Places".
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.08.2017Ekstase
Die Geschichte von einem, der
zu sich zurückfinden muss
Heranwachsende brauchen ihre geheimen Rückzugsorte. Kinder errichten Lager im Wald, Jugendliche feiern an ausgefallenen Locations. Lennart steht kurz vor dem Abitur. Seine Zeit jedoch verbringt er mit Raves im Untergrund von Berlin. In stillgelegten U-Bahn-Schächten und Bunkern macht er die Nacht zum Tag. Doch Lennart tanzt nicht nur zu den hämmernden Bässen, sondern liefert seinem DJ-Freund, der sich nicht umsonst DJ Evil nennt, auch die passenden Soundschnipsel: zum Beispiel das Fiepen eines Zahnarztbohrers, das sich, rückwärts abgespielt, noch fieser in die Gehirnwindungen des zappelnden Partyvolks schraubt als die anderen Sounds. „Lost Boy“ hat Johannes Groschupf seinen jüngsten Jugendroman genannt. Der Titel ist Programm, denn eines Tages gerät eine dieser Underground-Feiern außer Kontrolle. Nur was eigentlich genau passiert ist, daran kann sich Lennart anfangs überhaupt nicht erinnern. Das Buch beginnt mit seinem bösen Erwachen. Lennart, den Groschupf-Leser bereits aus dem 2013 erschienenen Roman „Lost Places“ kennen, findet sich frühmorgens am Hamburger Hauptbahnhof wieder: ohne Geldbeutel, Ausweis, Handy. Vor allem jedoch ohne irgendeine Ahnung, wer er ist und wie er heißt. Nun ist er nicht mehr der coole, abenteuerhungrige Berliner „Urban Explorer“ auf der Suche nach verlassenen Orten, sondern ein Haufen Elend ohne Gedächtnis und Vergangenheit. Wir verfolgen, wie dieser orientierungslose Jugendliche wieder zu sich selbst findet.
Oder sollte man besser sagen, zu sich selbst hetzt? Denn Groschupf gönnt seinem Helden bis zum furiosen Showdown in Berlin, der selbst James Bond zur Ehre gereichen würde, kaum eine Verschnaufpause. Der Beat, den der Autor seiner Geschichte unterlegt hat, scheint in die Sprache eingedrungen zu sein und sie vorwärtszutreiben: „Vereinzelt kamen Schreie aus der Menge der Tanzenden, Schreie der Begeisterung und der Ekstase. Hände flogen hoch, von der Decke tropfte der Schweiß zurück auf die dampfenden Gesichter, die Rhythmen zwangen uns weiter bergauf, aber das machte nichts, mir auch nicht, weil ich längst tanzte, mitgerissen war, meinen Körper tun ließ, was er tun musste, so anstrengend und irrsinnig es auch war. Irgendwann wird es ungesund.“
Die erzählerische Rasanz überträgt sich auf den Leser, und auch die Liebe kommt nicht zu kurz, sie entwickelt sich hier als eine Art Kontrapunkt: langsam und mit Hindernissen. Dass sie auch mit Klischees aufwartet – hier der lässig-abgeranzte Berliner, dort die adrett-hanseatische Blondine Jule: der Drive von „Lost Boy“ lässt einen über manches rasch hinweglesen.
Groschupf arbeitet als Journalist, schreibt für Erwachsene, vor allem aber für Jugendliche. Und immer auf Augenhöhe mit seinen Lesern, bei ihm gibt es keinen falschen Jugendsprech, keine enervierende Anbiederung. „Lost Boy“, von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur zum Jugendbuch des Monats März gewählt, ist auch ein Roman über die Suche nach der eigenen Identität, zu der auch die Grenzüberschreitung gehört. Im September erscheint das weibliche Pendant „Lost Girl“. (ab 14 Jahre)
FLORIAN WELLE
Johannes Groschupf: Lost Boy. Oetinger Verlag, Hamburg 2017. 240 Seiten, 9,99 Euro.
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Die Geschichte von einem, der
zu sich zurückfinden muss
Heranwachsende brauchen ihre geheimen Rückzugsorte. Kinder errichten Lager im Wald, Jugendliche feiern an ausgefallenen Locations. Lennart steht kurz vor dem Abitur. Seine Zeit jedoch verbringt er mit Raves im Untergrund von Berlin. In stillgelegten U-Bahn-Schächten und Bunkern macht er die Nacht zum Tag. Doch Lennart tanzt nicht nur zu den hämmernden Bässen, sondern liefert seinem DJ-Freund, der sich nicht umsonst DJ Evil nennt, auch die passenden Soundschnipsel: zum Beispiel das Fiepen eines Zahnarztbohrers, das sich, rückwärts abgespielt, noch fieser in die Gehirnwindungen des zappelnden Partyvolks schraubt als die anderen Sounds. „Lost Boy“ hat Johannes Groschupf seinen jüngsten Jugendroman genannt. Der Titel ist Programm, denn eines Tages gerät eine dieser Underground-Feiern außer Kontrolle. Nur was eigentlich genau passiert ist, daran kann sich Lennart anfangs überhaupt nicht erinnern. Das Buch beginnt mit seinem bösen Erwachen. Lennart, den Groschupf-Leser bereits aus dem 2013 erschienenen Roman „Lost Places“ kennen, findet sich frühmorgens am Hamburger Hauptbahnhof wieder: ohne Geldbeutel, Ausweis, Handy. Vor allem jedoch ohne irgendeine Ahnung, wer er ist und wie er heißt. Nun ist er nicht mehr der coole, abenteuerhungrige Berliner „Urban Explorer“ auf der Suche nach verlassenen Orten, sondern ein Haufen Elend ohne Gedächtnis und Vergangenheit. Wir verfolgen, wie dieser orientierungslose Jugendliche wieder zu sich selbst findet.
Oder sollte man besser sagen, zu sich selbst hetzt? Denn Groschupf gönnt seinem Helden bis zum furiosen Showdown in Berlin, der selbst James Bond zur Ehre gereichen würde, kaum eine Verschnaufpause. Der Beat, den der Autor seiner Geschichte unterlegt hat, scheint in die Sprache eingedrungen zu sein und sie vorwärtszutreiben: „Vereinzelt kamen Schreie aus der Menge der Tanzenden, Schreie der Begeisterung und der Ekstase. Hände flogen hoch, von der Decke tropfte der Schweiß zurück auf die dampfenden Gesichter, die Rhythmen zwangen uns weiter bergauf, aber das machte nichts, mir auch nicht, weil ich längst tanzte, mitgerissen war, meinen Körper tun ließ, was er tun musste, so anstrengend und irrsinnig es auch war. Irgendwann wird es ungesund.“
Die erzählerische Rasanz überträgt sich auf den Leser, und auch die Liebe kommt nicht zu kurz, sie entwickelt sich hier als eine Art Kontrapunkt: langsam und mit Hindernissen. Dass sie auch mit Klischees aufwartet – hier der lässig-abgeranzte Berliner, dort die adrett-hanseatische Blondine Jule: der Drive von „Lost Boy“ lässt einen über manches rasch hinweglesen.
Groschupf arbeitet als Journalist, schreibt für Erwachsene, vor allem aber für Jugendliche. Und immer auf Augenhöhe mit seinen Lesern, bei ihm gibt es keinen falschen Jugendsprech, keine enervierende Anbiederung. „Lost Boy“, von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur zum Jugendbuch des Monats März gewählt, ist auch ein Roman über die Suche nach der eigenen Identität, zu der auch die Grenzüberschreitung gehört. Im September erscheint das weibliche Pendant „Lost Girl“. (ab 14 Jahre)
FLORIAN WELLE
Johannes Groschupf: Lost Boy. Oetinger Verlag, Hamburg 2017. 240 Seiten, 9,99 Euro.
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"Groschupf versteht es meisterlich, Spannung aufzubauen [...] Das Ende soll nicht verraten werden, doch man könnte sich gut eine Fortsetzung vorstellen. Das Potenzial dazu hat dieser aufregende Metropolenroman allemal." Der Tagesspiegel, 02.03.2017