Grundlage für Thomas Manns Goethe-Roman ist der historisch verbürgte Besuch Charlotte Kestners Goethes Jugendliebe und Vorbild für die Figur der Lotte im »Werther« 1816 in Weimar. 1939 ist der Roman unter schwierigen Bedingungen im Exil veröffentlicht worden. Im Rahmen der »Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe« wird »Lotte in Weimar« zum ersten Mal nach der Handschrift ediert und damit von zahlreichen Lese- und Druckfehlern bereinigt. Der Kommentar erschließt das Werk von Grund auf in seiner komplexen philologischen und quellengeschichtlichen Struktur und wird so zum hilfreichen Wegweiser durch diesen Roman.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.01.2004Im Krater des Olymp
Aus dem Hause Goethe: Zur Neuedition von Thomas Manns „Lotte in Weimar”
Wie nannten in Deutschland die Spottverse und Flugschriften, die im Zuge der Befreiungskriege aufkamen, den Kaiser der Franzosen? Sie nannten ihn „Nöppel”. So stand es in allen bisherigen Drucken von Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar” (1939) zu lesen. Nun, in der vorzüglichen Neuedition innerhalb der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, wird der Volksmund erstmals korrekt zitiert, und es drängt den verletzten jungen Heros, den Adele Schopenhauer und Ottilie von Pogwisch, die künftige Gemahlin von Goethes Sohn, im Park an der Ilm entdecken zur baldigen Genesung, „um ,Näppel‘, wie er den Corsen nannte, aufs Haupt zu schlagen, das Vaterland zu befreien und Paris in Asche zu legen”. Es ist dies nur eine von zahlreichen Korrekturen, die der umsichtige Herausgeber Werner Frizen auf Basis der Handschrift an der bisherigen Überlieferung des Textes anbringt, die auf den katastrophalen Erstdruck der Stockholmer Ausgabe zurückgeht.
Durch die konsequente Orientierung am Manuskript restauriert Frizen nicht nur – so bei den Namen von Generälen, Orten, Begriffen etc. – das mühsam erarbeitete historische Kolorit des Romans, er bewahrt zugleich den Reiz der eigentümlich zwittrigen Orthographie Thomas Manns, in der sich nach durchaus laxen Gesetzen die Mimikry mit dem frühen 19. Jahrhundert und die Schreibgewohnheiten des im späten 19. Jahrhundert sozialisierten Autors mischen.
Ein Ereignis ist diese Ausgabe aber vor allem durch ihren Kommentar. Er ist in einem separaten Band gedruckt, der doppelt so dick ist wie der Roman selbst. Dies nicht deshalb, weil er weitschweifig wäre. Sondern weil er eine ebenso einfache wie vertrackte Frage mustergültig klärt: Wie und zu welchem Ende hat Thomas Mann kurz vor, während und nach der Übersiedlung ins amerikanische Exil dieses Buch verfasst? Wie hat er aus dem Besuch der Hannöverschen Hofrätin Charlotte Kestner und ihrer Tochter in Weimar im September 1816, der Goethe selbst nur zwei lapidare Notizen („Mittags Ridels und Madame Kestner” / „Hofrätin Kestner aus Hannover”) wert war, einen ganzen Roman gemacht, in dem sich wie in einem Spiegelkabinett er selbst und Goethe, die Deutschen von 1816 und die von 1939, vor allem aber Dichtung und Wahrheit, Literatur und Leben begegnen?
Frizen liefert nicht nur eine minutiöse Nachzeichnung der Entstehungsgeschichte des Romans, sondern auch – durch den Abdruck der einschlägigen Exzerpte aus dem Thomas Mann-Archiv in Zürich – einen kommentierten Überblick über die Quellen Thomas Manns. So wird deutlich, wie der Romancier als stilvoller Parasit sowohl die Goethe-Reminiszenzen der Weimarer Zeitgenossen wie die Goethe-Philologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nutzte. Zum anderen, wie entschlossen Thomas Mann die Anregungen der nicht-zünftigen Goethe-Philologie aufgriff. Die Obsession dieser „wilden” Philologie war, seit dem späten 19. Jahrhundert, der „pathologische” Goethe, dessen sich bald auch die Psychoanalyse annahm. Die Schrift des Psychoanalytikers Felix Aaron Theilhaber „Goethe. Sexus und Eros” (1929) akzentuiert Frizen als eine der wichtigsten Anregungen. Lotte in Weimar, ein Schatten aus der 44 Jahre zurückliegenden Inkubationsphase des „Werther” – erst bei Theilhaber wird aus den dürren Goethe-Notizen eine veritable Anekdote.
Thomas Mann fand die Form seines Romans nicht schon dadurch, dass er sie aufgriff, sondern erst, indem er das Anekdotische im Dämonisch-Pathologischen aufhob und verdampfen ließ. Die Treue hielt er der Anekdote vor allem durch die komödiantische Struktur des Romans. Deren Faktotum, Mager, der Kellner des Weimarer Gasthofes „Zum Elefanten”, ist von der ersten bis zur letzten Seite als Hintergrundfigur anwesend.
Der komödiantische Reigen ergibt sich durch das Defilee der Figuren, die der Hofrätin Kestner, oder genauer: der „Lotte” des „Werther”, der man in ihr zu begegnen hofft, ihre Aufwartung machen: die englische Journalistin Miss Cuzzle, der mit seinem devot-bösen Blick auf Goethe essayistisch brillierende Riemer, die Inkarnation der Weimarer Fama und des Klatsches, Adele Schopenhauer, und schließlich der Sohn des Dichters, der Kammerrat August von Goethe. Erst im siebten, heikelsten Kapitel des Romans, tritt Goethe selbst monologisierend erstmals auf, aber jeder der Teppiche, die ihm bis dahin ausgerollt wurden, ist ein schwankender Grund.
Das Spiel mit der Zahl sieben hatte Thomas Mann schon im „Zauberberg” betrieben. In diesem Roman, der sich als Hügel in Mittelgebirgslage tarnt, führt er es unauffällig fort. Und zwar so, dass der energischen Mimikry mit der Mythisierung Goethes in der deutschen Kultur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts die nicht minder energische Entmythologisierung des „heiteren Olympiers” die Waage hält.
Das überaus hartnäckige Interesse am kranken und vor allem: am krank machenden Goethe, subtilerweise besonders eindringlich seinem natürlichen Sohn August in den Mund gelegt, spielt hierbei eine Hauptrolle. Es verbindet sich mit der Überblendung der zeithistorischen und der psychologischen Figur des Tyrannen. Bis in seine feinsten Verästelungen ist „Lotte in Weimar” von der Überblendung des Herrschers am Frauenplan mit der auratisch-dämonischen Herrscher- und Erobererfigur Napoleon geprägt.
Nicht nur für seine Hausgenossen wird Goethe dadurch zu einem Idol, dessen Nähe Gefahren birgt. Es wird so zugleich ein Keil zwischen die Deutschen und ihren größten Dichter getrieben. Resolut nutzt Thomas Mann alle Quellen, die Goethes Distanz zu den Befreiungskriegen, seine herablassende Indifferenz gegenüber dem Aufschwung des Nationalen hervorheben, und zugleich diejeingen, die vom Unverständnis und vom moralischen Verdacht des Publikums gegen Goethes spätere Werke berichten. Aus dieser Distanz zwischen Goethe und den Deutschen gehen die Energien des Exilromans hervor, als der „Lotte in Weimar” kritisch an die Deutschen der Jahre 1938/39, im Blick auf die Bücherverbrennung und die Pogrome gegen die Juden.
Gelesen an der Jahreswende 2003/2004 fällt aber mehr noch als die Stimme des Exilanten Thomas Mann und das Interesse am pathologischen Goethe seine dritte tragende Schicht ins Auge: die Fallstudie zum Thema, wie das Leben der Literatur Tribut zu zollen hat. Nur weil der „Werther”, Goethes einziger großer Bestseller, als Schlüsselroman gelesen werden konnte, hat die Episode ,Lotte in Weimar‘ das Zeug zu einem Thomas-Mann-Roman. Er ist nicht zuletzt eine Art Aufklärung in eigener Sache: er erforscht im Blick auf Goethe das moderne Phänomen desProminentendaseins.
Das dämonische Doppelgängertum der abgelebten Schatten, die mit falschen Augenfarben auf ewig aus einem Buch herausschauen, ist die aktuellste Facette in diesem Roman über die Voraussetzungen, Folgen und Nebenwirkungen eines Schlüsselromans. Komödie und Abgrund werden hier identisch, und der Autor ist sich nicht zu schade, seinem Roman kraft dokumentarisch-imaginativer Recherche eine veritable Homestory aus dem Hause Goethe einzuschreiben. Sie tritt im Rückblick nicht zuletzt deshalb hervor, weil Thomas Mann an Goethe eben den Typus Nachruhm musterte, der ihm selbst blühte.
LOTHAR MÜLLER
THOMAS MANN: Lotte in Weimar. Roman. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Werner Frizen. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Band 9.1 und Band 9.2. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 450 und 950 Seiten, zus. 78 Euro.
Silhouetten von Johann Christian und Charlotte Kestner, geborene Buff.
Abb.: Wetzlar, Städtische Sammlungen
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Aus dem Hause Goethe: Zur Neuedition von Thomas Manns „Lotte in Weimar”
Wie nannten in Deutschland die Spottverse und Flugschriften, die im Zuge der Befreiungskriege aufkamen, den Kaiser der Franzosen? Sie nannten ihn „Nöppel”. So stand es in allen bisherigen Drucken von Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar” (1939) zu lesen. Nun, in der vorzüglichen Neuedition innerhalb der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, wird der Volksmund erstmals korrekt zitiert, und es drängt den verletzten jungen Heros, den Adele Schopenhauer und Ottilie von Pogwisch, die künftige Gemahlin von Goethes Sohn, im Park an der Ilm entdecken zur baldigen Genesung, „um ,Näppel‘, wie er den Corsen nannte, aufs Haupt zu schlagen, das Vaterland zu befreien und Paris in Asche zu legen”. Es ist dies nur eine von zahlreichen Korrekturen, die der umsichtige Herausgeber Werner Frizen auf Basis der Handschrift an der bisherigen Überlieferung des Textes anbringt, die auf den katastrophalen Erstdruck der Stockholmer Ausgabe zurückgeht.
Durch die konsequente Orientierung am Manuskript restauriert Frizen nicht nur – so bei den Namen von Generälen, Orten, Begriffen etc. – das mühsam erarbeitete historische Kolorit des Romans, er bewahrt zugleich den Reiz der eigentümlich zwittrigen Orthographie Thomas Manns, in der sich nach durchaus laxen Gesetzen die Mimikry mit dem frühen 19. Jahrhundert und die Schreibgewohnheiten des im späten 19. Jahrhundert sozialisierten Autors mischen.
Ein Ereignis ist diese Ausgabe aber vor allem durch ihren Kommentar. Er ist in einem separaten Band gedruckt, der doppelt so dick ist wie der Roman selbst. Dies nicht deshalb, weil er weitschweifig wäre. Sondern weil er eine ebenso einfache wie vertrackte Frage mustergültig klärt: Wie und zu welchem Ende hat Thomas Mann kurz vor, während und nach der Übersiedlung ins amerikanische Exil dieses Buch verfasst? Wie hat er aus dem Besuch der Hannöverschen Hofrätin Charlotte Kestner und ihrer Tochter in Weimar im September 1816, der Goethe selbst nur zwei lapidare Notizen („Mittags Ridels und Madame Kestner” / „Hofrätin Kestner aus Hannover”) wert war, einen ganzen Roman gemacht, in dem sich wie in einem Spiegelkabinett er selbst und Goethe, die Deutschen von 1816 und die von 1939, vor allem aber Dichtung und Wahrheit, Literatur und Leben begegnen?
Frizen liefert nicht nur eine minutiöse Nachzeichnung der Entstehungsgeschichte des Romans, sondern auch – durch den Abdruck der einschlägigen Exzerpte aus dem Thomas Mann-Archiv in Zürich – einen kommentierten Überblick über die Quellen Thomas Manns. So wird deutlich, wie der Romancier als stilvoller Parasit sowohl die Goethe-Reminiszenzen der Weimarer Zeitgenossen wie die Goethe-Philologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nutzte. Zum anderen, wie entschlossen Thomas Mann die Anregungen der nicht-zünftigen Goethe-Philologie aufgriff. Die Obsession dieser „wilden” Philologie war, seit dem späten 19. Jahrhundert, der „pathologische” Goethe, dessen sich bald auch die Psychoanalyse annahm. Die Schrift des Psychoanalytikers Felix Aaron Theilhaber „Goethe. Sexus und Eros” (1929) akzentuiert Frizen als eine der wichtigsten Anregungen. Lotte in Weimar, ein Schatten aus der 44 Jahre zurückliegenden Inkubationsphase des „Werther” – erst bei Theilhaber wird aus den dürren Goethe-Notizen eine veritable Anekdote.
Thomas Mann fand die Form seines Romans nicht schon dadurch, dass er sie aufgriff, sondern erst, indem er das Anekdotische im Dämonisch-Pathologischen aufhob und verdampfen ließ. Die Treue hielt er der Anekdote vor allem durch die komödiantische Struktur des Romans. Deren Faktotum, Mager, der Kellner des Weimarer Gasthofes „Zum Elefanten”, ist von der ersten bis zur letzten Seite als Hintergrundfigur anwesend.
Der komödiantische Reigen ergibt sich durch das Defilee der Figuren, die der Hofrätin Kestner, oder genauer: der „Lotte” des „Werther”, der man in ihr zu begegnen hofft, ihre Aufwartung machen: die englische Journalistin Miss Cuzzle, der mit seinem devot-bösen Blick auf Goethe essayistisch brillierende Riemer, die Inkarnation der Weimarer Fama und des Klatsches, Adele Schopenhauer, und schließlich der Sohn des Dichters, der Kammerrat August von Goethe. Erst im siebten, heikelsten Kapitel des Romans, tritt Goethe selbst monologisierend erstmals auf, aber jeder der Teppiche, die ihm bis dahin ausgerollt wurden, ist ein schwankender Grund.
Das Spiel mit der Zahl sieben hatte Thomas Mann schon im „Zauberberg” betrieben. In diesem Roman, der sich als Hügel in Mittelgebirgslage tarnt, führt er es unauffällig fort. Und zwar so, dass der energischen Mimikry mit der Mythisierung Goethes in der deutschen Kultur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts die nicht minder energische Entmythologisierung des „heiteren Olympiers” die Waage hält.
Das überaus hartnäckige Interesse am kranken und vor allem: am krank machenden Goethe, subtilerweise besonders eindringlich seinem natürlichen Sohn August in den Mund gelegt, spielt hierbei eine Hauptrolle. Es verbindet sich mit der Überblendung der zeithistorischen und der psychologischen Figur des Tyrannen. Bis in seine feinsten Verästelungen ist „Lotte in Weimar” von der Überblendung des Herrschers am Frauenplan mit der auratisch-dämonischen Herrscher- und Erobererfigur Napoleon geprägt.
Nicht nur für seine Hausgenossen wird Goethe dadurch zu einem Idol, dessen Nähe Gefahren birgt. Es wird so zugleich ein Keil zwischen die Deutschen und ihren größten Dichter getrieben. Resolut nutzt Thomas Mann alle Quellen, die Goethes Distanz zu den Befreiungskriegen, seine herablassende Indifferenz gegenüber dem Aufschwung des Nationalen hervorheben, und zugleich diejeingen, die vom Unverständnis und vom moralischen Verdacht des Publikums gegen Goethes spätere Werke berichten. Aus dieser Distanz zwischen Goethe und den Deutschen gehen die Energien des Exilromans hervor, als der „Lotte in Weimar” kritisch an die Deutschen der Jahre 1938/39, im Blick auf die Bücherverbrennung und die Pogrome gegen die Juden.
Gelesen an der Jahreswende 2003/2004 fällt aber mehr noch als die Stimme des Exilanten Thomas Mann und das Interesse am pathologischen Goethe seine dritte tragende Schicht ins Auge: die Fallstudie zum Thema, wie das Leben der Literatur Tribut zu zollen hat. Nur weil der „Werther”, Goethes einziger großer Bestseller, als Schlüsselroman gelesen werden konnte, hat die Episode ,Lotte in Weimar‘ das Zeug zu einem Thomas-Mann-Roman. Er ist nicht zuletzt eine Art Aufklärung in eigener Sache: er erforscht im Blick auf Goethe das moderne Phänomen desProminentendaseins.
Das dämonische Doppelgängertum der abgelebten Schatten, die mit falschen Augenfarben auf ewig aus einem Buch herausschauen, ist die aktuellste Facette in diesem Roman über die Voraussetzungen, Folgen und Nebenwirkungen eines Schlüsselromans. Komödie und Abgrund werden hier identisch, und der Autor ist sich nicht zu schade, seinem Roman kraft dokumentarisch-imaginativer Recherche eine veritable Homestory aus dem Hause Goethe einzuschreiben. Sie tritt im Rückblick nicht zuletzt deshalb hervor, weil Thomas Mann an Goethe eben den Typus Nachruhm musterte, der ihm selbst blühte.
LOTHAR MÜLLER
THOMAS MANN: Lotte in Weimar. Roman. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Werner Frizen. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Band 9.1 und Band 9.2. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 450 und 950 Seiten, zus. 78 Euro.
Silhouetten von Johann Christian und Charlotte Kestner, geborene Buff.
Abb.: Wetzlar, Städtische Sammlungen
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.2002Ein Mann in geordneten Verhältnissen
Endlich fester Boden unter den Füßen: Die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke, Tagebücher und Briefe Thomas Manns
Am 20. November 1921 kommt ihm ein Paket ins Haus: "Die Neudrucke von Fischer sind da", notiert das Tagebuch. ",Rede und Antwort' und ,Buddenbrooks' in den Einzelbänden der ,Gesammelten Werke'. Sie sind hübsch. Ich habe jedoch an dem neuen Buch, das schon im Vorwort drei Druckfehler enthält, nicht die geringste Freude." Es gab Weiteres zu beanstanden: "Auch leide ich seelisch und körperlich darunter, daß No 4 aller Unterkleider mir zu klein, No 5 mir zu groß ist." Eine peinliche Lage. Daß aber Thomas Mann nicht von Unterhosen spricht, hat mit einer Gepflogenheit zu tun, deren Gründe nicht jedermann einsichtig sind. Schon der junge Autor redet von Beinkleidern: "Er war, mit seinen siebenzig Jahren, der Mode seiner Jugend nicht untreu geworden; nur auf den Tressenbesatz zwischen den Knöpfen und den großen Taschen hatte er verzichtet, aber niemals im Leben hatte er lange Beinkleider getragen."
Der alte Buddenbrook wurzelt tief im 18. Jahrhundert und kleidet sich entsprechend, auch wenn inzwischen, in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, in welchen die Romanhandlung einsetzt, eine andere Mode herrscht. Johann Buddenbrook ist eine Figur wie aus der Zeit gefallen, für deren Beharrlichkeit Thomas Mann Sympathie hatte und die er später anhand seines Hausgottes eindringlich beschreiben sollte. Sein "Schopenhauer"-Essay aus dem Jahre 1938 nämlich nimmt das Motiv von der Treue, die sich auch auf die Garderobe erstreckt, wieder auf. Hier sehen wir den Philosophen als älteren Herrn mit "altmodischer Eleganz" durch Frankfurt laufen.
Die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns im S. Fischer Verlag ist da. Und was wir dem "Buddenbrooks"-Kommentar von Eckhard Heftrich und Stephan Stachorski (Mitarbeit Herbert Lehnert) zum Thema Hosen entnehmen können, verweist auf eine sprachliche Sorgfalt bereits des jungen Romanciers, die zwar auch bisher nicht verborgen geblieben war, die aber nun, durch den üppigen Kommentar, erheblich transparenter wird: "lange Beinkleider] Der alte Buddenbrook trägt Kniehosen nach der Mode der höheren Stände aus der vorrevolutionären Zeit des 18. Jahrhunderts. ,Beinkleid' diente vor allem im 19. Jahrhundert in der gehobenen Sprache dazu, das auf weibliche Unterwäsche beziehbare und somit tabuisierte Wort ,Hose' zu vermeiden." So steht es auf Seite 231 des Kommentars, der den Band 1.2 in der auf 38 Bände (in 58 Teilbänden) angelegten Ausgabe bildet.
Es hat seinen guten Sinn, daß die "Buddenbrooks" den ersten Band, Band 1.1 bilden - mit dem Buch fing alles an, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat. Und mit ihnen fängt nun etwas an, das lange brauchte, bis es begann, und das vermutlich, wenn sich der - angesichts der Monumentalität der Aufgabe keineswegs großzügige - Zeitplan durchhalten läßt, erst im Jahre 2015 aufgehört haben wird, wenn wir den sechzigsten Todestag Thomas Manns begehen. Dieser hatte, im Alter von gut siebzig Jahren, mit seinem literarischen Leben abgeschlossen, obwohl noch manches kam nach dem "Doktor Faustus", zu dessen Fertigstellung ihn Katia am 29. Januar 1947 in Kalifornien beglückwünschte. Das Tagebuch fragt: "Mit Grund?" Er weiß es nicht; nur soviel: "Ich anerkenne die moralische Leistung."
Der von Heftrich (unter Mitarbeit von Stachorski und Lehnert) herausgegebene und textkritisch durchgesehene Text der "Buddenbrooks" ist mit 837 Seiten etwa um ein Zehntel länger als die bisher in der Forschung gebräuchliche, von Hans Bürgin besorgte Ausgabe der "Gesammelten Werke". Er folgt, auch das hat seine guten Gründe, dem Druck der Erstausgabe von 1901, deren Jubiläum im vergangenen Herbst (F.A.Z. vom 20. Oktober 2001) gefeiert wurde. Die Briefe, die dazu gewechselt wurden, sind in der "Entstehungsgeschichte" genauso ausführlich zitiert und kommentiert wie alles übrige, das dazu zu sagen ist - es ist eine Menge.
Mit einer Entstehungsgeschichte im engeren Sinne, die anhand der Korrespondenz, in der Thomas Mann über seine Pläne und Fortschritte Auskunft gab, leicht zu skizzieren und in vielen Ausgaben auch schon skizziert worden ist, begnügt sich Heftrich aber nicht und werden sich wohl auch die Herausgeber der anderen erzählerischen Werke nicht begnügen. Wir bekommen hier, in einer essayistischen, also ungemein lesbaren und großangelegten Chronik, alle wichtigen literarischen wie überhaupt geistesgeschichtlichen Quellen und Anregungen aufgezeigt, die bekannten wie auch die unbekannten oder bisher nur in der Fachliteratur mitgeteilten. Daß etwa Szenen aus Tolstois "Anna Karenina" anregend auf die landwirtschaftlichen Passagen in Thomas Manns Erstling gewirkt haben könnten, war bisher nur an entlegener Stelle mitgeteilt worden. Quellenkritisch läßt sich dergleichen fürs Frühwerk nur schwer nachweisen; aber es ist ohne Zweifel ein Gewinn, wenn solche Überlegungen Eingang in den Kommentar finden.
Doch es arbeiten nicht alle gleich, und die Unterschiede im Vorgehen sind temperamentsabhängig. So steht zu vermuten, daß der im kommenden Herbst erscheinende "Zauberberg", den Michael Neumann herausgibt und kommentiert, in der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte anders ausbalanciert sein wird als bei Heftrich, der die grundlegenden Quellen und Anregungen ausführlich behandelt und die "Entstehungsgeschichte" zu einer weit ausholenden Interpretation nutzt, aber dafür im Stellenkommentar wohltuend knapp bleibt. Roland Spahr, der für die Gesamtausgabe verantwortliche Lektor, ist der Ansicht, daß es aufgrund der unterschiedlichen Forschungspositionen ein "Spannungsfeld" gibt. Denn es kommen drei Generationen zusammen: Neben Forschern wie Heftrich und Lehnert, die seit den sechziger und siebziger Jahren publizieren, stehen solche der mittleren Generation wie Neumann und Werner Frizen, daneben wiederum Wissenschaftler wie Heinrich Detering, die mit ihrer Arbeit begonnen haben, als Heftrich und Lehnert emeritiert wurden.
In jedem Fall bekommen wir einen Thomas Mann, der von seinen bedeutendsten Erforschern bearbeitet ist, kein Werk aus einem Guß - aber wie wäre das auch möglich bei diesem Werk? Es handelt sich um die erste kommentierte und, im erzählerischen Werk sowie den Essays, auch vollständige Ausgabe, die für die Forschung, aber auch für die tiefer interessierte Leserschaft gedacht ist und diese, den bisherigen Eindrücken nach zu urteilen, auch erreichen wird.
Ob der Strom der Sekundärliteratur jetzt abschwillt, wird man sehen, wenn mehr Bände dieser Ausgabe erschienen sind. Was Editionsphilologie zu leisten imstande ist, läßt sich beispielhaft an den "Buddenbrooks"-Bänden illustrieren. Wir haben hier, neben den Familienchroniken, den Briefen und einem Auszug aus Meyers Konversations-Lexikon, das fürs Typhuskapitel genutzt wurde, auch die Textstellen, die im Roman dann doch nicht auftauchen. Wer die "Ausgeschiedenen Blätter" liest, wird dankbar sein für manche Aussortierung, die Thomas Mann vorgenommen hat und die dem Werk zugute gekommen ist. Insbesondere die Passagen mit dem Makler Gosch sind in der Dialogführung weniger elegant, als es der Roman zur Gänze ist; sie hätten sich, in der überlieferten Form, teilweise wie ein Fremdkörper ausgenommen.
Daß die Rechtschreibung einer Regelung folgt, wie sie bis zur Reform von 1903 bestand, erzwingt mit dem häufigen "th" in "thun" und "That", dem großgeschriebenen "Alles" und manchem "Anderen" eine Umstellung, die der Leser leicht leisten wird. Es wird, auch dadurch, vieles transparenter. Daß etwa der betrügerische Bankrotteur Hugo Weinschenk "Orangenmarmelade" für eine Mehlspeise hält, ist ein Witz, der so recht erst verständlich wird, wenn man das Wort in der nun präsentierten Form liest und merkt, daß es sich dabei um einen englischen und von den Buddenbrooks vermutlich auch so ausgesprochenen Ausdruck handelt: "orange-marmelade". Die französischen Ausdrücke, die Legion sind, werden natürlich ebenfalls alle in der ursprünglichen Schreibung präsentiert, also statt "Kontor" nun wieder "Comptoir"; und das hat etwas zur Folge, das wiederum in die Interpretation hineinspielt: Der europäische Charakter des Romans, den Thomas Mann in seinen Rezensionsanordnungen an den Freund Otto Grautoff zunächst heruntergespielt hatte, tritt jetzt noch deutlicher hervor. Wir haben, nach all den geglätteten Fassungen der vergangenen hundert Jahre, nun wieder die etwas rauhere, kulturgeschichtlich gewissermaßen nach hinten offene vor uns.
Die Entscheidung, auch in allen übrigen Bänden keine Mischtexte zu bieten, erweist sich als wahrer Segen; daß auch sie nicht ideal ist, liegt daran, daß es die Vorlagen selbst nicht sind. Es ist aber die einzig richtige und gehört zu den "philologischen Grundprinzipien" der neuen Ausgabe. Daß in einzelnen Fällen nicht der Erstdruck zugrunde gelegt wird, sondern eine andere, philologisch-historisch zuverlässige und geprüfte Fassung, ließ sich nicht vermeiden.
"Die Welt ist meine Vorstellung" - so ist die "Einführung in die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe" überschrieben, die der S. Fischer Verlag im Herbst vergangenen Jahres herausgegeben hat. Eigentlich hätten die "Buddenbrooks" schon zu diesem Zeitpunkt, dem großen Jubiläum, herauskommen sollen. Nun haben wir sie wie auch die von Detering (unter Mitarbeit von Stachorski) herausgegebenen und kommentierten frühen Essays von 1893 bis 1914 (Essays I, Band 14.1 und 14.2) - einen Bruchteil der insgesamt rund zwölfhundert, die alle publiziert werden. Von den rund fünfundzwanzigtausend Briefen wird es eine Auswahl von dreitausend geben. Die Tagebücher werden in revidierter Fassung erscheinen.
Im ersten Essayband findet sich auch der programmatische Aufsatz "Bilse und ich" von 1906. "Wie aber", fragt Thomas Mann dort, "kann ich mein ganzes Selbst preisgeben, ohne zugleich die Welt preiszugeben, die meine Vorstellung ist?" Das fußt auf Schopenhauers Dichotomie von Wille und Vorstellung, die Nietzsche umwandelte ins Dionysische und Apollinische; letzteres prangte symbolhaft als Bogen und Leier auf einer alten Thomas-Mann-Ausgabe und war Gegenstand schon mancher akademischen Prüfung. Jetzt, dank der vorliegenden, der ersten wirklich und richtig kommentierten Ausgabe, dringen solche Dinge auf dezente, aber unaufhaltsame Weise in den außerakademischen Bereich vor, und es ist zu hoffen, daß die Schnittmenge, die seit je aus Forschern und Liebhabern bestand, noch größer wird. Thomas Manns Vorstellungswelt, in der alles mit allem zusammenhängt, wird uns nun noch klarer; die Ausgabe stiftet, was Thomas Mann selbst so liebte: ein Beziehungsfest.
Wer sich klarmachen will, wie tief der Grund zur Freude über diese Ausgabe reicht, der halte sich die Defizite manch früherer vor Augen, auch wenn man damit an alte Wunden rührt. Es war Hermann Kurzke, der zum siebenköpfigen Hauptherausgeber-Gremium gehört und unter anderem die "Betrachtungen eines Unpolitischen" bearbeitet, der anläßlich der zwanzigbändigen Frankfurter Ausgabe von Peter de Mendelssohn harte, aber nicht ungerechte Worte in dieser Zeitung fand. Er attestierte dem damals schon verstorbenen Herausgeber eine "philologische Bankrotterklärung" und sprach hinsichtlich der auch sonst komplett uneinheitlichen Textüberlieferung von einem "sumpfigen Grund" (F.A.Z. vom 23. August 1986). Nun bekommen wir festen Boden unter die Füße. Die neue Ausgabe ist, darauf läuft es hinaus, für die Forschung, was Thomas Mann über seinen "Doktor Faustus" sagte: "Werk letzter Konsequenz, Endwerk in jedem Sinn". Mehr brauchen wir nicht. Wir anerkennen die philologische Leistung.
Thomas Mann: "Große kommentierte Frankfurter Ausgabe". Werke - Briefe - Tagebücher. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002 ff.
Band 1.1.: "Buddenbrooks. Verfall einer Familie". Roman. Band 1.2: "Kommentar". 844 S. u. 748 S., geb., zus. 76,- [Euro].
Band 14.1: "Essays I 1893-1914". Band 14.2: "Kommentar". 420 S. u. 686 S., geb., zus. 82,- [Euro].
Band 21: "Briefe I 1889-1913". 936 S., geb., 95,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Endlich fester Boden unter den Füßen: Die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke, Tagebücher und Briefe Thomas Manns
Am 20. November 1921 kommt ihm ein Paket ins Haus: "Die Neudrucke von Fischer sind da", notiert das Tagebuch. ",Rede und Antwort' und ,Buddenbrooks' in den Einzelbänden der ,Gesammelten Werke'. Sie sind hübsch. Ich habe jedoch an dem neuen Buch, das schon im Vorwort drei Druckfehler enthält, nicht die geringste Freude." Es gab Weiteres zu beanstanden: "Auch leide ich seelisch und körperlich darunter, daß No 4 aller Unterkleider mir zu klein, No 5 mir zu groß ist." Eine peinliche Lage. Daß aber Thomas Mann nicht von Unterhosen spricht, hat mit einer Gepflogenheit zu tun, deren Gründe nicht jedermann einsichtig sind. Schon der junge Autor redet von Beinkleidern: "Er war, mit seinen siebenzig Jahren, der Mode seiner Jugend nicht untreu geworden; nur auf den Tressenbesatz zwischen den Knöpfen und den großen Taschen hatte er verzichtet, aber niemals im Leben hatte er lange Beinkleider getragen."
Der alte Buddenbrook wurzelt tief im 18. Jahrhundert und kleidet sich entsprechend, auch wenn inzwischen, in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, in welchen die Romanhandlung einsetzt, eine andere Mode herrscht. Johann Buddenbrook ist eine Figur wie aus der Zeit gefallen, für deren Beharrlichkeit Thomas Mann Sympathie hatte und die er später anhand seines Hausgottes eindringlich beschreiben sollte. Sein "Schopenhauer"-Essay aus dem Jahre 1938 nämlich nimmt das Motiv von der Treue, die sich auch auf die Garderobe erstreckt, wieder auf. Hier sehen wir den Philosophen als älteren Herrn mit "altmodischer Eleganz" durch Frankfurt laufen.
Die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns im S. Fischer Verlag ist da. Und was wir dem "Buddenbrooks"-Kommentar von Eckhard Heftrich und Stephan Stachorski (Mitarbeit Herbert Lehnert) zum Thema Hosen entnehmen können, verweist auf eine sprachliche Sorgfalt bereits des jungen Romanciers, die zwar auch bisher nicht verborgen geblieben war, die aber nun, durch den üppigen Kommentar, erheblich transparenter wird: "lange Beinkleider] Der alte Buddenbrook trägt Kniehosen nach der Mode der höheren Stände aus der vorrevolutionären Zeit des 18. Jahrhunderts. ,Beinkleid' diente vor allem im 19. Jahrhundert in der gehobenen Sprache dazu, das auf weibliche Unterwäsche beziehbare und somit tabuisierte Wort ,Hose' zu vermeiden." So steht es auf Seite 231 des Kommentars, der den Band 1.2 in der auf 38 Bände (in 58 Teilbänden) angelegten Ausgabe bildet.
Es hat seinen guten Sinn, daß die "Buddenbrooks" den ersten Band, Band 1.1 bilden - mit dem Buch fing alles an, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat. Und mit ihnen fängt nun etwas an, das lange brauchte, bis es begann, und das vermutlich, wenn sich der - angesichts der Monumentalität der Aufgabe keineswegs großzügige - Zeitplan durchhalten läßt, erst im Jahre 2015 aufgehört haben wird, wenn wir den sechzigsten Todestag Thomas Manns begehen. Dieser hatte, im Alter von gut siebzig Jahren, mit seinem literarischen Leben abgeschlossen, obwohl noch manches kam nach dem "Doktor Faustus", zu dessen Fertigstellung ihn Katia am 29. Januar 1947 in Kalifornien beglückwünschte. Das Tagebuch fragt: "Mit Grund?" Er weiß es nicht; nur soviel: "Ich anerkenne die moralische Leistung."
Der von Heftrich (unter Mitarbeit von Stachorski und Lehnert) herausgegebene und textkritisch durchgesehene Text der "Buddenbrooks" ist mit 837 Seiten etwa um ein Zehntel länger als die bisher in der Forschung gebräuchliche, von Hans Bürgin besorgte Ausgabe der "Gesammelten Werke". Er folgt, auch das hat seine guten Gründe, dem Druck der Erstausgabe von 1901, deren Jubiläum im vergangenen Herbst (F.A.Z. vom 20. Oktober 2001) gefeiert wurde. Die Briefe, die dazu gewechselt wurden, sind in der "Entstehungsgeschichte" genauso ausführlich zitiert und kommentiert wie alles übrige, das dazu zu sagen ist - es ist eine Menge.
Mit einer Entstehungsgeschichte im engeren Sinne, die anhand der Korrespondenz, in der Thomas Mann über seine Pläne und Fortschritte Auskunft gab, leicht zu skizzieren und in vielen Ausgaben auch schon skizziert worden ist, begnügt sich Heftrich aber nicht und werden sich wohl auch die Herausgeber der anderen erzählerischen Werke nicht begnügen. Wir bekommen hier, in einer essayistischen, also ungemein lesbaren und großangelegten Chronik, alle wichtigen literarischen wie überhaupt geistesgeschichtlichen Quellen und Anregungen aufgezeigt, die bekannten wie auch die unbekannten oder bisher nur in der Fachliteratur mitgeteilten. Daß etwa Szenen aus Tolstois "Anna Karenina" anregend auf die landwirtschaftlichen Passagen in Thomas Manns Erstling gewirkt haben könnten, war bisher nur an entlegener Stelle mitgeteilt worden. Quellenkritisch läßt sich dergleichen fürs Frühwerk nur schwer nachweisen; aber es ist ohne Zweifel ein Gewinn, wenn solche Überlegungen Eingang in den Kommentar finden.
Doch es arbeiten nicht alle gleich, und die Unterschiede im Vorgehen sind temperamentsabhängig. So steht zu vermuten, daß der im kommenden Herbst erscheinende "Zauberberg", den Michael Neumann herausgibt und kommentiert, in der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte anders ausbalanciert sein wird als bei Heftrich, der die grundlegenden Quellen und Anregungen ausführlich behandelt und die "Entstehungsgeschichte" zu einer weit ausholenden Interpretation nutzt, aber dafür im Stellenkommentar wohltuend knapp bleibt. Roland Spahr, der für die Gesamtausgabe verantwortliche Lektor, ist der Ansicht, daß es aufgrund der unterschiedlichen Forschungspositionen ein "Spannungsfeld" gibt. Denn es kommen drei Generationen zusammen: Neben Forschern wie Heftrich und Lehnert, die seit den sechziger und siebziger Jahren publizieren, stehen solche der mittleren Generation wie Neumann und Werner Frizen, daneben wiederum Wissenschaftler wie Heinrich Detering, die mit ihrer Arbeit begonnen haben, als Heftrich und Lehnert emeritiert wurden.
In jedem Fall bekommen wir einen Thomas Mann, der von seinen bedeutendsten Erforschern bearbeitet ist, kein Werk aus einem Guß - aber wie wäre das auch möglich bei diesem Werk? Es handelt sich um die erste kommentierte und, im erzählerischen Werk sowie den Essays, auch vollständige Ausgabe, die für die Forschung, aber auch für die tiefer interessierte Leserschaft gedacht ist und diese, den bisherigen Eindrücken nach zu urteilen, auch erreichen wird.
Ob der Strom der Sekundärliteratur jetzt abschwillt, wird man sehen, wenn mehr Bände dieser Ausgabe erschienen sind. Was Editionsphilologie zu leisten imstande ist, läßt sich beispielhaft an den "Buddenbrooks"-Bänden illustrieren. Wir haben hier, neben den Familienchroniken, den Briefen und einem Auszug aus Meyers Konversations-Lexikon, das fürs Typhuskapitel genutzt wurde, auch die Textstellen, die im Roman dann doch nicht auftauchen. Wer die "Ausgeschiedenen Blätter" liest, wird dankbar sein für manche Aussortierung, die Thomas Mann vorgenommen hat und die dem Werk zugute gekommen ist. Insbesondere die Passagen mit dem Makler Gosch sind in der Dialogführung weniger elegant, als es der Roman zur Gänze ist; sie hätten sich, in der überlieferten Form, teilweise wie ein Fremdkörper ausgenommen.
Daß die Rechtschreibung einer Regelung folgt, wie sie bis zur Reform von 1903 bestand, erzwingt mit dem häufigen "th" in "thun" und "That", dem großgeschriebenen "Alles" und manchem "Anderen" eine Umstellung, die der Leser leicht leisten wird. Es wird, auch dadurch, vieles transparenter. Daß etwa der betrügerische Bankrotteur Hugo Weinschenk "Orangenmarmelade" für eine Mehlspeise hält, ist ein Witz, der so recht erst verständlich wird, wenn man das Wort in der nun präsentierten Form liest und merkt, daß es sich dabei um einen englischen und von den Buddenbrooks vermutlich auch so ausgesprochenen Ausdruck handelt: "orange-marmelade". Die französischen Ausdrücke, die Legion sind, werden natürlich ebenfalls alle in der ursprünglichen Schreibung präsentiert, also statt "Kontor" nun wieder "Comptoir"; und das hat etwas zur Folge, das wiederum in die Interpretation hineinspielt: Der europäische Charakter des Romans, den Thomas Mann in seinen Rezensionsanordnungen an den Freund Otto Grautoff zunächst heruntergespielt hatte, tritt jetzt noch deutlicher hervor. Wir haben, nach all den geglätteten Fassungen der vergangenen hundert Jahre, nun wieder die etwas rauhere, kulturgeschichtlich gewissermaßen nach hinten offene vor uns.
Die Entscheidung, auch in allen übrigen Bänden keine Mischtexte zu bieten, erweist sich als wahrer Segen; daß auch sie nicht ideal ist, liegt daran, daß es die Vorlagen selbst nicht sind. Es ist aber die einzig richtige und gehört zu den "philologischen Grundprinzipien" der neuen Ausgabe. Daß in einzelnen Fällen nicht der Erstdruck zugrunde gelegt wird, sondern eine andere, philologisch-historisch zuverlässige und geprüfte Fassung, ließ sich nicht vermeiden.
"Die Welt ist meine Vorstellung" - so ist die "Einführung in die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe" überschrieben, die der S. Fischer Verlag im Herbst vergangenen Jahres herausgegeben hat. Eigentlich hätten die "Buddenbrooks" schon zu diesem Zeitpunkt, dem großen Jubiläum, herauskommen sollen. Nun haben wir sie wie auch die von Detering (unter Mitarbeit von Stachorski) herausgegebenen und kommentierten frühen Essays von 1893 bis 1914 (Essays I, Band 14.1 und 14.2) - einen Bruchteil der insgesamt rund zwölfhundert, die alle publiziert werden. Von den rund fünfundzwanzigtausend Briefen wird es eine Auswahl von dreitausend geben. Die Tagebücher werden in revidierter Fassung erscheinen.
Im ersten Essayband findet sich auch der programmatische Aufsatz "Bilse und ich" von 1906. "Wie aber", fragt Thomas Mann dort, "kann ich mein ganzes Selbst preisgeben, ohne zugleich die Welt preiszugeben, die meine Vorstellung ist?" Das fußt auf Schopenhauers Dichotomie von Wille und Vorstellung, die Nietzsche umwandelte ins Dionysische und Apollinische; letzteres prangte symbolhaft als Bogen und Leier auf einer alten Thomas-Mann-Ausgabe und war Gegenstand schon mancher akademischen Prüfung. Jetzt, dank der vorliegenden, der ersten wirklich und richtig kommentierten Ausgabe, dringen solche Dinge auf dezente, aber unaufhaltsame Weise in den außerakademischen Bereich vor, und es ist zu hoffen, daß die Schnittmenge, die seit je aus Forschern und Liebhabern bestand, noch größer wird. Thomas Manns Vorstellungswelt, in der alles mit allem zusammenhängt, wird uns nun noch klarer; die Ausgabe stiftet, was Thomas Mann selbst so liebte: ein Beziehungsfest.
Wer sich klarmachen will, wie tief der Grund zur Freude über diese Ausgabe reicht, der halte sich die Defizite manch früherer vor Augen, auch wenn man damit an alte Wunden rührt. Es war Hermann Kurzke, der zum siebenköpfigen Hauptherausgeber-Gremium gehört und unter anderem die "Betrachtungen eines Unpolitischen" bearbeitet, der anläßlich der zwanzigbändigen Frankfurter Ausgabe von Peter de Mendelssohn harte, aber nicht ungerechte Worte in dieser Zeitung fand. Er attestierte dem damals schon verstorbenen Herausgeber eine "philologische Bankrotterklärung" und sprach hinsichtlich der auch sonst komplett uneinheitlichen Textüberlieferung von einem "sumpfigen Grund" (F.A.Z. vom 23. August 1986). Nun bekommen wir festen Boden unter die Füße. Die neue Ausgabe ist, darauf läuft es hinaus, für die Forschung, was Thomas Mann über seinen "Doktor Faustus" sagte: "Werk letzter Konsequenz, Endwerk in jedem Sinn". Mehr brauchen wir nicht. Wir anerkennen die philologische Leistung.
Thomas Mann: "Große kommentierte Frankfurter Ausgabe". Werke - Briefe - Tagebücher. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002 ff.
Band 1.1.: "Buddenbrooks. Verfall einer Familie". Roman. Band 1.2: "Kommentar". 844 S. u. 748 S., geb., zus. 76,- [Euro].
Band 14.1: "Essays I 1893-1914". Band 14.2: "Kommentar". 420 S. u. 686 S., geb., zus. 82,- [Euro].
Band 21: "Briefe I 1889-1913". 936 S., geb., 95,- [Euro].
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