Matt Ruff, the critically acclaimed cult novelist, makes visceral the terrors of life in Jim Crow America and its lingering effects in this brilliant and wondrous work of the imagination that melds historical fiction, pulp noir, and Lovecraftian horror and fantasy.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.09.2018Weißes Genre,
schwarzer Zauber
Abkehr vom Whitewashing:
Matt Ruffs „Lovecraft County“
„Wassermelonen“, hat der weiße Kunde zum damals siebenjährigen Horace gesagt, der in einem Gebrauchtwagenladen entsetzt auf eine Kiste starrte, deren Etikett die Karikatur eines sommersprossigen Negerjungen zeigte: „Kleine Wassermelonen, etwa so groß wie deine Birne. Mit dunkler Schwarte und wolligen Härchen am Strunk.“ Deshalb trage sie auch die Aufschrift, die Horace so schockiert: „NIGGERKÖPFE AUS GEORGIA.“
Auf der Heimfahrt hat Horace von Köpfen farbiger Jungen geträumt, die in der Gemüseabteilung eines Supermarktes ordentlich zu einer Pyramide gestapelt waren. Und so rundet sich diese Anekdote zu einer kleinen Etüde eines Horrors, der den banalen Dingen des Alltags entspringt und damit eher an Stephen King als an Howard Philipp Lovecraft erinnert, den Matt Ruff im Titel seines aktuellen Romans „Lovecraft Country“ beschwört. Lovecrafts neuenglisches Stammland aber bildet den sinistren Schauplatz der Rahmenhandlung, die auf fantastische Weise ins Leben einer afroamerikanischen Familie im Chicago der Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts eingreift.
Der Held Atticus Turner nämlich ist der Nachfahre eines missbrauchten schwarzen Dienstmädchens und damit der letzte direkte Nachkomme des weißen Magiers Titus Braithwhite, des Begründers des „Adamitischen Ordens von der Alten Morgenröte“. Titus war 1795 ein Opfer magischer Energien geworden, deren unkontrollierte Beschwörung ihn mitsamt seiner engsten Familie auslöschte. Nun hat ein Seitenzweig der Familie das magische Geschäft übernommen. Dessen Anführer Caleb Braithwhite ist kein altmodischer weißer Zauberer und nicht einmal ein Rassist, sondern einfach ein skrupelloser Pragmatiker mit dem Charme des Jungen aus bestem Hause.
Caleb wird Atticus und seine Verwandten als charmante Heimsuchung begleiten, ihnen eine Immobilie zuschustern, die sich als Spukhaus erweist, mit Zugängen zu fremden Welten und Verbindungen zu weiteren Kapiteln aus dem Wettstreit weißer Zauberer, bei dem Schwarze nur als Dienstboten willkommen sind. All dies wäre nicht mehr als etwas überkandidelte Genreliteratur, wenn es nicht vor dem Hintergrund der rassistischen Jim-Crow-Gesetze auch von der Entwicklung einer schwarzen Mittelschicht erzählen würde. Gleich zu Beginn macht die Begegnung von Atticus mit einem herrischen weißen State Trooper klar, warum es 1954 einen besonderen Reiseführer für Afroamerikaner gab, der im Buch „The Safe Negro Travel Guide“ heißt und vom Onkel des Helden herausgegeben wird. Das eigene Auto ersparte Schwarzen die demütigende Behandlung in öffentlichen Verkehrsmitteln. Doch es gab seinerzeit auch sogenannte „Sundown Towns“, wo ihnen geraten wurde, sich nach Sonnenuntergang nicht dort blicken zu lassen. Wenn der talentierte Mr. Braithwhite seinem Antagonisten Atticus am Ende droht, er werde „nirgends sicher“ sein, dann lacht deshalb die ganze Community: „Meinen Sie, ich wüsste nicht, in was für einem Land wir leben?“
Ruffs Helden leben im Land der Genre-literatur, das ihnen zum Zeitpunkt der Handlung noch verschlossen war. „Lovecraft Country“ ist eine literarische Antwort auf Pam Noles’ Essay „Shame“, in dem die Autorin vor gut einem Jahrzehnt beschrieb, was es für sie hieß, ein afroamerikanischer Fan von Science-Fiction und Fantasy zu sein. Auf eine Bemerkung ihres Vaters hin habe sie als Teenager verkündet, schwarze Leute könnten keine Zauberer und Astronauten sein, nicht das Böse bekämpfen und also auch nicht in solchen Geschichten auftreten. Die Realität der Genreliteratur gab ihr recht. Die wenigen farbigen Helden wurden, etwa im „Erdsee“-Epos von Ursula Le Guin, bei der Vermarktung einem „Whitewashing“ unterzogen. „Erdsee wurde mit Bleiche gewaschen“, sagte Le Guin dazu selbst.
Matt Ruff gibt dem eine ironische Wendung. Seine Protagonisten sind Fans einer Genreliteratur, in der sie ihresgleichen als Helden schmerzlich vermissen, obwohl sie doch gerade dabei sind, selbst dazu zu werden. Diese Abwendung vom Whitewashing ist ein Trend, der sich aktuell auch in Tom Franklins „Krumme Type, krumme Type“ (Verlag Pulp Master) und „Grant Park“ (Polar-Verlag) von Leonard Pitts Jr. studieren lässt. Franklins Roman ist ein Country noir, in dem ein schwarzer Polizist mit dem Fall seines weißen Jugendfreundes konfrontiert wird, den alle Welt für einen Mädchenmörder hält. Und der Pulitzer-Preisträger Pitts hat einen Politthriller geschrieben, in dem ein desillusionierter schwarzer Bürgerrechtler und Karrierejournalist am Tag der Wahl Barack Obamas von zwei weißen Terroristen entführt wird. Während Ruffs „Lovecraft Country“ auch ein historischer Roman aus der Jim-Crow-Ära ist, geht es bei Pitts um den aktuellen zählebigen Rassismus und um die notorische Opferrolle, in der sich selbst wohletablierte Afroamerikaner gefangen sehen. Es wird noch vieler schwarzer Zauberer und Weltraumhelden bedürfen, um daran etwas zu ändern.
ULRICH BARON
Matt Ruff: Lovecraft Country. Roman. Aus dem Englischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube. Carl Hanser Verlag, München 2018. 432 S., 24 Euro.
Lange Zeit gab es in der
Genreliteratur kaum schwarze
Helden. Das ändert sich gerade
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
schwarzer Zauber
Abkehr vom Whitewashing:
Matt Ruffs „Lovecraft County“
„Wassermelonen“, hat der weiße Kunde zum damals siebenjährigen Horace gesagt, der in einem Gebrauchtwagenladen entsetzt auf eine Kiste starrte, deren Etikett die Karikatur eines sommersprossigen Negerjungen zeigte: „Kleine Wassermelonen, etwa so groß wie deine Birne. Mit dunkler Schwarte und wolligen Härchen am Strunk.“ Deshalb trage sie auch die Aufschrift, die Horace so schockiert: „NIGGERKÖPFE AUS GEORGIA.“
Auf der Heimfahrt hat Horace von Köpfen farbiger Jungen geträumt, die in der Gemüseabteilung eines Supermarktes ordentlich zu einer Pyramide gestapelt waren. Und so rundet sich diese Anekdote zu einer kleinen Etüde eines Horrors, der den banalen Dingen des Alltags entspringt und damit eher an Stephen King als an Howard Philipp Lovecraft erinnert, den Matt Ruff im Titel seines aktuellen Romans „Lovecraft Country“ beschwört. Lovecrafts neuenglisches Stammland aber bildet den sinistren Schauplatz der Rahmenhandlung, die auf fantastische Weise ins Leben einer afroamerikanischen Familie im Chicago der Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts eingreift.
Der Held Atticus Turner nämlich ist der Nachfahre eines missbrauchten schwarzen Dienstmädchens und damit der letzte direkte Nachkomme des weißen Magiers Titus Braithwhite, des Begründers des „Adamitischen Ordens von der Alten Morgenröte“. Titus war 1795 ein Opfer magischer Energien geworden, deren unkontrollierte Beschwörung ihn mitsamt seiner engsten Familie auslöschte. Nun hat ein Seitenzweig der Familie das magische Geschäft übernommen. Dessen Anführer Caleb Braithwhite ist kein altmodischer weißer Zauberer und nicht einmal ein Rassist, sondern einfach ein skrupelloser Pragmatiker mit dem Charme des Jungen aus bestem Hause.
Caleb wird Atticus und seine Verwandten als charmante Heimsuchung begleiten, ihnen eine Immobilie zuschustern, die sich als Spukhaus erweist, mit Zugängen zu fremden Welten und Verbindungen zu weiteren Kapiteln aus dem Wettstreit weißer Zauberer, bei dem Schwarze nur als Dienstboten willkommen sind. All dies wäre nicht mehr als etwas überkandidelte Genreliteratur, wenn es nicht vor dem Hintergrund der rassistischen Jim-Crow-Gesetze auch von der Entwicklung einer schwarzen Mittelschicht erzählen würde. Gleich zu Beginn macht die Begegnung von Atticus mit einem herrischen weißen State Trooper klar, warum es 1954 einen besonderen Reiseführer für Afroamerikaner gab, der im Buch „The Safe Negro Travel Guide“ heißt und vom Onkel des Helden herausgegeben wird. Das eigene Auto ersparte Schwarzen die demütigende Behandlung in öffentlichen Verkehrsmitteln. Doch es gab seinerzeit auch sogenannte „Sundown Towns“, wo ihnen geraten wurde, sich nach Sonnenuntergang nicht dort blicken zu lassen. Wenn der talentierte Mr. Braithwhite seinem Antagonisten Atticus am Ende droht, er werde „nirgends sicher“ sein, dann lacht deshalb die ganze Community: „Meinen Sie, ich wüsste nicht, in was für einem Land wir leben?“
Ruffs Helden leben im Land der Genre-literatur, das ihnen zum Zeitpunkt der Handlung noch verschlossen war. „Lovecraft Country“ ist eine literarische Antwort auf Pam Noles’ Essay „Shame“, in dem die Autorin vor gut einem Jahrzehnt beschrieb, was es für sie hieß, ein afroamerikanischer Fan von Science-Fiction und Fantasy zu sein. Auf eine Bemerkung ihres Vaters hin habe sie als Teenager verkündet, schwarze Leute könnten keine Zauberer und Astronauten sein, nicht das Böse bekämpfen und also auch nicht in solchen Geschichten auftreten. Die Realität der Genreliteratur gab ihr recht. Die wenigen farbigen Helden wurden, etwa im „Erdsee“-Epos von Ursula Le Guin, bei der Vermarktung einem „Whitewashing“ unterzogen. „Erdsee wurde mit Bleiche gewaschen“, sagte Le Guin dazu selbst.
Matt Ruff gibt dem eine ironische Wendung. Seine Protagonisten sind Fans einer Genreliteratur, in der sie ihresgleichen als Helden schmerzlich vermissen, obwohl sie doch gerade dabei sind, selbst dazu zu werden. Diese Abwendung vom Whitewashing ist ein Trend, der sich aktuell auch in Tom Franklins „Krumme Type, krumme Type“ (Verlag Pulp Master) und „Grant Park“ (Polar-Verlag) von Leonard Pitts Jr. studieren lässt. Franklins Roman ist ein Country noir, in dem ein schwarzer Polizist mit dem Fall seines weißen Jugendfreundes konfrontiert wird, den alle Welt für einen Mädchenmörder hält. Und der Pulitzer-Preisträger Pitts hat einen Politthriller geschrieben, in dem ein desillusionierter schwarzer Bürgerrechtler und Karrierejournalist am Tag der Wahl Barack Obamas von zwei weißen Terroristen entführt wird. Während Ruffs „Lovecraft Country“ auch ein historischer Roman aus der Jim-Crow-Ära ist, geht es bei Pitts um den aktuellen zählebigen Rassismus und um die notorische Opferrolle, in der sich selbst wohletablierte Afroamerikaner gefangen sehen. Es wird noch vieler schwarzer Zauberer und Weltraumhelden bedürfen, um daran etwas zu ändern.
ULRICH BARON
Matt Ruff: Lovecraft Country. Roman. Aus dem Englischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube. Carl Hanser Verlag, München 2018. 432 S., 24 Euro.
Lange Zeit gab es in der
Genreliteratur kaum schwarze
Helden. Das ändert sich gerade
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2018Diese Fischmenschen sind ja weiß!
Ku-Klux-Klan statt Cthulhu-Kult: Matt Ruff will mit "Lovecraft Country" ein altbekanntes Erzählmodell allzu zeitgemäß verändern
Jeder Lovecraft-Leser kennt das: Ein Mann kommt in eine Stadt, in der Fremde offensichtlich nicht willkommen sind; eine Atmosphäre des Grauens herrscht in den halbverfallenen Straßen. Die Sonne geht unter, der letzte Zug ist abgefahren. Der Fremde muss in der Stadt übernachten und wird Zeuge unheimlicher Ereignisse. Schließlich wird er fast von einem rasenden Mob gelyncht. "Schatten über Innsmouth" heißt diese Geschichte, in der sich die Bewohner der unheimlichen Stadt als Fischmenschen entpuppen, als Zwitterwesen, die sich auf Vermischung mit Aliens aus der Tiefe eingelassen haben.
Das Grauen aus den Grüften, archaische Kulte, Angst vor Degeneration und kulturellem Verfall, die Obsession einer Verunreinigung der "Rasse" - Lovecrafts Horror erscheint heute oft auch schrecklich inkorrekt. Selbst die Anhänger des Autors gestehen sein fragwürdiges Weltbild der white supremacy ein. Nun hat der New Yorker Schriftsteller Matt Ruff einen Roman geschrieben, der zum einen Lovecraft-Hommage, zum anderen aber auch Teufelsaustreibung sein will. Er nimmt die Konstellation der berühmten Novelle auf, gibt ihr aber einen ebenso ungewöhnlichen wie plausiblen Dreh: Die Hauptfiguren von "Lovecraft Country" sind fast allesamt Schwarze, und sie leben im Jahr 1954 in einer Welt, die etwas erschreckend Innsmouthhaftes für sie hat: Blicke, in denen der Hass glimmt, Misstrauen und Unterstellungen, wo sie auch hinkommen. Sie sind die unwillkommenen Fremden in der Welt der Weißen, die hier die Rolle der Fischmenschen einnehmen.
Der Korea-Veteran, Science-Fiction-Fan und Lovecraft-Leser Atticus Turner bricht von Chicago aus auf, um seinen verschwundenen Vater in einem mysteriösen Ort namens Ardham im Hinterwäldlergebiet zu suchen. Eine schikanöse Reise: Autowerkstätten verweigern Schwarzen die Hilfe, in vielen Restaurants werden sie nicht bedient, und jede Begegnung mit einem Sheriff kann lebensgefährlich werden. Überall lauern sie, diese Sheriffs und Hilfssheriffs, stellen Fragen, auf die jede Antwort prinzipiell falsch ist, geborene Sadisten, die ihre Opfer in absurde Dialoge verstricken. Wenn er Glück hat, bekommt der verängstigte Schwarze eine Viertelstunde, um hinter der nächsten Staatsgrenze zu verschwinden. Matt Ruff gelingt es, eine Lovecraft-Atmosphäre der ständigen Bedrohung zu schaffen, ohne dafür monströse Wesen in Anspruch nehmen zu müssen. Der Alltag in den Vereinigten Staaten von 1954 bietet Horror genug. Ku-Klux-Klan statt Cthulhu-Kult.
Über Rassismus wird heute viel geredet und theoretisiert, aber wie sich Rassismus anfühlt, das vermittelt dieser Roman auf unter die Haut gehende Weise. George, der Onkel von Atticus, ist im Übrigen Herausgeber des "Safe Negro Travel Guide", eines sehr spezifischen Reiseführers, der Orte und Unterkünfte, Routen und Restaurants nach ihrer Gefährlichkeit bewertet und Empfehlungen in einer Welt der Trolle gibt. Inspiration hierfür ist das "Negro Motorist Green Book", das es wirklich gab - so wie die Ängste und Frustrationen, denen es seine Existenz verdankte.
So weit alles bestens. Matt Ruff bewährt sich als Erzähler, der zwar formal konventionell erzählt, inhaltlich aber zum Experimentieren aufgelegt ist - zuletzt hat er im Roman "Mirage" die Anschläge des 11. September 2001 nach Arabien verlegt. Leider aber verliert "Lovecraft Country" dann deutlich an Zugkraft. Der Vater von Atticus Turner ist in Ardham in die Fänge einer weißen Geheimgesellschaft um den mysteriösen Mr. Braithwhite geraten, aus dem Atticus und seine Helfer ihn knapp befreien können. Trotzdem durchzieht allzu viel Geheimbund-Hokuspokus fortan den Roman - als verbindendes Hintergrundgeflecht eines Zyklus von Novellen, die jeweils aus dem Blickwinkel eines Angehörigen oder nahen Vertrauten von Atticus Turner erzählt werden.
Da geht es um ein Zauberbuch (Lovecrafts Necronomicon ist das Vorbild), um blutsaugende Steine, menschenfressende Felsblöcke und andere phantastische Bedrohungen. Es wird erzählt von einer jungen Frau aus Harlem, die Astronomie studieren möchte und in einer verwunschenen Sternwarte wahrhaft universale Erlebnisse hat, aber auch von verbürgten historischen Ereignissen wie den Tulsa Riots von 1921 - schweren Rassenunruhen, die dreihundert Tote forderten, zumeist Schwarze. In einer weiteren Episode wird der jungen Ruby ein magischer Trank verabreicht, der sie in eine Ohnmacht versetzt, aus der sie als weiße Frau erwacht. Zunächst ist sie schockiert, sobald sie aber draußen in den Straßen unterwegs ist, erlebt sie, welche Vorzüge die veränderte Hautfarbe mit sich bringt. Während den Lesern zuvor die "schwarze" Perspektive nahegebracht wurde, können sie nun die Privilegien des Weiß-Seins erleben.
Allerdings wirkt die Antirassismus-Sensibilisierung auf Dauer doch zu berechenbar und pädagogisch. Wenn ein weißer Autor sich so emphatisch in die schwarze Leidensgeschichte hineinschreibt, Mitgefühl lediglich für schwarze Figuren aufbringt und die weißen fast ausnahmslos zu Karikaturen macht, dann ist das zu viel literarische affirmative action. Der Haupteinwand gegen den Roman ist jedoch ein anderer. Er mag trickreich ersonnen sein und hat auch immer wieder starke Passagen, trotzdem aber liest man ihn zunehmend gleichgültig, weil das Übernatürliche und das daraus resultierende Grauen ohne psychologische Tiefenwirkung beschrieben werden. Wer bei Lovecraft die subtile Einfädelung des Schreckens schätzt, die atmosphärische Verdichtung des Bedrohlichen, den gleitenden Übergang von der vertrauten Realität ins Unheimliche bis hin zum offenen Durchbruch einer grauenhaften Hinter- und Anderswelt, der kann Matt Ruffs pulphafte Darbietung solcher Motive nur enttäuschend finden. Solange der Roman sicher auf dem Boden der rassistischen Realität von 1954 steht, wirkt er überzeugend und geradezu magisch; sobald er ins Phantastische driftet, wird er fade. Aber womöglich wird die in Arbeit befindliche HBO-Fernsehserie nach "Lovecraft Country" die Stärken des Werks herausstellen und die Schwächen der Romanvorlage, die durch ihre episodische Form dem Serienformat bereits sehr entgegenkommt, vergessen lassen.
WOLFGANG SCHNEIDER
Matt Ruff: "Lovecraft Country". Roman.
Aus dem Englischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube. Hanser Verlag, München 2018. 432 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ku-Klux-Klan statt Cthulhu-Kult: Matt Ruff will mit "Lovecraft Country" ein altbekanntes Erzählmodell allzu zeitgemäß verändern
Jeder Lovecraft-Leser kennt das: Ein Mann kommt in eine Stadt, in der Fremde offensichtlich nicht willkommen sind; eine Atmosphäre des Grauens herrscht in den halbverfallenen Straßen. Die Sonne geht unter, der letzte Zug ist abgefahren. Der Fremde muss in der Stadt übernachten und wird Zeuge unheimlicher Ereignisse. Schließlich wird er fast von einem rasenden Mob gelyncht. "Schatten über Innsmouth" heißt diese Geschichte, in der sich die Bewohner der unheimlichen Stadt als Fischmenschen entpuppen, als Zwitterwesen, die sich auf Vermischung mit Aliens aus der Tiefe eingelassen haben.
Das Grauen aus den Grüften, archaische Kulte, Angst vor Degeneration und kulturellem Verfall, die Obsession einer Verunreinigung der "Rasse" - Lovecrafts Horror erscheint heute oft auch schrecklich inkorrekt. Selbst die Anhänger des Autors gestehen sein fragwürdiges Weltbild der white supremacy ein. Nun hat der New Yorker Schriftsteller Matt Ruff einen Roman geschrieben, der zum einen Lovecraft-Hommage, zum anderen aber auch Teufelsaustreibung sein will. Er nimmt die Konstellation der berühmten Novelle auf, gibt ihr aber einen ebenso ungewöhnlichen wie plausiblen Dreh: Die Hauptfiguren von "Lovecraft Country" sind fast allesamt Schwarze, und sie leben im Jahr 1954 in einer Welt, die etwas erschreckend Innsmouthhaftes für sie hat: Blicke, in denen der Hass glimmt, Misstrauen und Unterstellungen, wo sie auch hinkommen. Sie sind die unwillkommenen Fremden in der Welt der Weißen, die hier die Rolle der Fischmenschen einnehmen.
Der Korea-Veteran, Science-Fiction-Fan und Lovecraft-Leser Atticus Turner bricht von Chicago aus auf, um seinen verschwundenen Vater in einem mysteriösen Ort namens Ardham im Hinterwäldlergebiet zu suchen. Eine schikanöse Reise: Autowerkstätten verweigern Schwarzen die Hilfe, in vielen Restaurants werden sie nicht bedient, und jede Begegnung mit einem Sheriff kann lebensgefährlich werden. Überall lauern sie, diese Sheriffs und Hilfssheriffs, stellen Fragen, auf die jede Antwort prinzipiell falsch ist, geborene Sadisten, die ihre Opfer in absurde Dialoge verstricken. Wenn er Glück hat, bekommt der verängstigte Schwarze eine Viertelstunde, um hinter der nächsten Staatsgrenze zu verschwinden. Matt Ruff gelingt es, eine Lovecraft-Atmosphäre der ständigen Bedrohung zu schaffen, ohne dafür monströse Wesen in Anspruch nehmen zu müssen. Der Alltag in den Vereinigten Staaten von 1954 bietet Horror genug. Ku-Klux-Klan statt Cthulhu-Kult.
Über Rassismus wird heute viel geredet und theoretisiert, aber wie sich Rassismus anfühlt, das vermittelt dieser Roman auf unter die Haut gehende Weise. George, der Onkel von Atticus, ist im Übrigen Herausgeber des "Safe Negro Travel Guide", eines sehr spezifischen Reiseführers, der Orte und Unterkünfte, Routen und Restaurants nach ihrer Gefährlichkeit bewertet und Empfehlungen in einer Welt der Trolle gibt. Inspiration hierfür ist das "Negro Motorist Green Book", das es wirklich gab - so wie die Ängste und Frustrationen, denen es seine Existenz verdankte.
So weit alles bestens. Matt Ruff bewährt sich als Erzähler, der zwar formal konventionell erzählt, inhaltlich aber zum Experimentieren aufgelegt ist - zuletzt hat er im Roman "Mirage" die Anschläge des 11. September 2001 nach Arabien verlegt. Leider aber verliert "Lovecraft Country" dann deutlich an Zugkraft. Der Vater von Atticus Turner ist in Ardham in die Fänge einer weißen Geheimgesellschaft um den mysteriösen Mr. Braithwhite geraten, aus dem Atticus und seine Helfer ihn knapp befreien können. Trotzdem durchzieht allzu viel Geheimbund-Hokuspokus fortan den Roman - als verbindendes Hintergrundgeflecht eines Zyklus von Novellen, die jeweils aus dem Blickwinkel eines Angehörigen oder nahen Vertrauten von Atticus Turner erzählt werden.
Da geht es um ein Zauberbuch (Lovecrafts Necronomicon ist das Vorbild), um blutsaugende Steine, menschenfressende Felsblöcke und andere phantastische Bedrohungen. Es wird erzählt von einer jungen Frau aus Harlem, die Astronomie studieren möchte und in einer verwunschenen Sternwarte wahrhaft universale Erlebnisse hat, aber auch von verbürgten historischen Ereignissen wie den Tulsa Riots von 1921 - schweren Rassenunruhen, die dreihundert Tote forderten, zumeist Schwarze. In einer weiteren Episode wird der jungen Ruby ein magischer Trank verabreicht, der sie in eine Ohnmacht versetzt, aus der sie als weiße Frau erwacht. Zunächst ist sie schockiert, sobald sie aber draußen in den Straßen unterwegs ist, erlebt sie, welche Vorzüge die veränderte Hautfarbe mit sich bringt. Während den Lesern zuvor die "schwarze" Perspektive nahegebracht wurde, können sie nun die Privilegien des Weiß-Seins erleben.
Allerdings wirkt die Antirassismus-Sensibilisierung auf Dauer doch zu berechenbar und pädagogisch. Wenn ein weißer Autor sich so emphatisch in die schwarze Leidensgeschichte hineinschreibt, Mitgefühl lediglich für schwarze Figuren aufbringt und die weißen fast ausnahmslos zu Karikaturen macht, dann ist das zu viel literarische affirmative action. Der Haupteinwand gegen den Roman ist jedoch ein anderer. Er mag trickreich ersonnen sein und hat auch immer wieder starke Passagen, trotzdem aber liest man ihn zunehmend gleichgültig, weil das Übernatürliche und das daraus resultierende Grauen ohne psychologische Tiefenwirkung beschrieben werden. Wer bei Lovecraft die subtile Einfädelung des Schreckens schätzt, die atmosphärische Verdichtung des Bedrohlichen, den gleitenden Übergang von der vertrauten Realität ins Unheimliche bis hin zum offenen Durchbruch einer grauenhaften Hinter- und Anderswelt, der kann Matt Ruffs pulphafte Darbietung solcher Motive nur enttäuschend finden. Solange der Roman sicher auf dem Boden der rassistischen Realität von 1954 steht, wirkt er überzeugend und geradezu magisch; sobald er ins Phantastische driftet, wird er fade. Aber womöglich wird die in Arbeit befindliche HBO-Fernsehserie nach "Lovecraft Country" die Stärken des Werks herausstellen und die Schwächen der Romanvorlage, die durch ihre episodische Form dem Serienformat bereits sehr entgegenkommt, vergessen lassen.
WOLFGANG SCHNEIDER
Matt Ruff: "Lovecraft Country". Roman.
Aus dem Englischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube. Hanser Verlag, München 2018. 432 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Nonstop adventure that includes time-shifting, shape-shifting, and Lovecraft-like horrors ... Ruff, a cult favorite for his mind-bending fiction, vividly portrays racism as a horror worse than anything conceived by Lovecraft in this provocative, chimerical novel" Booklist (starred review)