Der 12-jährige Théo ist ein stiller, aber guter Schüler. Dennoch glaubt seine Lehrerin Hélène besorgniserregende Veränderungen an ihm festzustellen. Doch keiner will das hören. Théos Eltern sind geschieden und mit sich selbst beschäftigt. Der Junge funktioniert und kümmert sich um die unglückliche Mutter und den vereinsamten Vater. Um ihren Sohn müssen sie sich keine Sorgen machen. Doch Théo trinkt heimlich, und nur sein Freund Mathis weiß davon. Der Alkohol wärmt und schützt ihn vor der Welt. Eines Tages wird ihn der Alkohol ganz aufsaugen, das weiß Théo. Doch wer sollte ihm helfen? Hélène, seine Lehrerin, würde es tun, wie aber soll das gehen, ohne dass er die Eltern verrät? Mathis beobachtet das alles voller Angst. Zu gerne würde er sich seiner Mutter anvertrauen, allerdings ist Théo sein einziger Freund. Und einen Freund verrät man nicht. Außerdem würde er damit auch demjenigen in den Rücken fallen, der den Minderjährigen den Alkohol besorgt. Und der ist es, der das gefährliche Spiel in dem schneebedeckten Park vorschlägt, bei dem Théo bewusst den eigenen Tod in Kauf nimmt.Wer möchte nicht denen gegenüber loyal sein, die er liebt? In ihrem neuen Roman erzählt Delphine de Vigan von der manchmal gefährlichen Komplexität unserer Beziehungen. Dabei erweist sie sich einmal mehr als unbestechliche Chronistin zwischenmenschlicher Missstände.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2018Wie ein elektrischer Schlag
Delphine de Vigan erzählt in ihrem Roman "Loyalitäten" von familiären Brüchen, krankhaften Beziehungen und verborgenen Antrieben.
In der Buchhandelsausgabe von Delphine de Vigans Roman "Loyalitäten", der in Frankreich dieses Jahr erschienen ist und gleich übersetzt wurde, finden sich zwei Interviews: Eines haben die Journalisten von "Marie Claire", ein anderes jene von "Les Inrockuptibles" geführt. Botschaft: Der Autorin ist das Kunststück gelungen, es beiden recht zu machen, dem Magazin für weibliche Mode und der linksrockigen Kulturzeitschrift. Das ist sicherlich der Tatsache geschuldet, dass die Schriftstellerin seit "No & ich" (2007) international bekannt ist und ihr Roman "Nach einer wahren Geschichte" (2015) von Roman Polanski verfilmt wurde (2017). Es sagt aber auch einiges über die verschiedenen literarischen Sensibilitäten aus, die Vigan zu berühren vermag.
Die im Titel genannten Loyalitäten sind zunächst die der Kinder zu ihren Eltern. Im Zentrum steht der zwölfjährige Théo Lubin, ein Scheidungskind, das es schier zerreißt: Seine Mutter schweigt den Vater und Théos Leben dort systematisch tot. Das führt dazu, dass Théo die Situation seines Vaters nicht ansprechen kann: Der steht am Abgrund, vegetiert - von Arbeitslosigkeit, Armut, Depression und Medikamentenmissbrauch ruiniert - in einer verwahrlosten, zugemüllten Wohnung vor sich hin. Wenn er beim Vater ist, versucht Théo den Schein zu wahren, räumt auf, putzt, kocht, kauft ein; der Kampf wirkt aussichtslos, und Théo beginnt, sich mit Alkohol zu betäuben.
Gemeint ist zweitens die Treue der Kinder zueinander, besonders die von Mathis, Théos bestem Freund, der ihn bewundert: "Théo spricht wenig, aber er lässt sich nichts gefallen. Er wird gefürchtet. Respektiert. Er hat sich nie prügeln, nicht einmal drohen müssen. In seinem Innern grollt etwas, das jeden von einem Angriff und Kommentar abhält." Mathis macht das Abenteuer des heimlichen Trinkens erst mit und hält anschließend auch dann noch zu seinem Freund, als dessen selbstzerstörerische Tendenz offensichtlich wird; Mathis belügt seine Eltern und versucht, das Schlimmste zu vermeiden.
Drittens sind die Loyalitäten der Erwachsenen zu den Kindern im Spiel: Im Zentrum steht hier die Lehrerin Hélène, die ahnt, dass mit Théo nicht alles zum Besten steht, und deshalb nichts unversucht lässt, um ihm zu helfen; dabei verrennt sie sich mitunter, wird ausfällig und übergriffig, etwa als sie Théos Mutter zur Rede stellt und vor der Wohnung spioniert. Der verborgene Antrieb ihres Tuns ist, dass sie dem Kind in sich treu bleiben möchte, das von seinem Vater misshandelt wurde.
Die letzte der Loyalitäten sind die zwischen Erwachsenen, die intakte zwischen den Lehrern Hélène und Frédéric, aber auch die schwer beschädigte zwischen den Eltern von Mathis. Céciles und Williams in Routine und Gleichgültigkeit erstickende Ehe geht der Auflösung entgegen, als Cécile entdeckt, was ihr bürgerlich-distinguierter Gatte allabendlich in seinem Arbeitszimmer treibt: Unter Pseudonym betreibt er einen Blog und betätigt sich als Troll, und zwar mittels "Texten, deren rassistische, antisemitische, homophobe und frauenfeindliche Tendenzen sich nicht leugnen ließen". Vigan entführt den Leser in eine wenig erfreuliche Welt: die der scheiternden Ehen, des sozialen Abstiegs, der verletzten Kinder. Es gibt mehrere Gründe, warum ihr das gelingt. Da wären die Perspektiven von vier Erzählern - zwei Jungen, Théo und Mathis, sowie zwei Frauen, Hélène und Cécile -, die sich kapitelweise abwechseln und komplementäre Sichtweisen entwickeln. So gelingt es der Autorin, facettenreiche Porträts zu entwerfen, die authentisch wirken. Der Falle eines wohlfeilen Miserabilismus entgeht der Text zudem durch falsche Fährten: Die von Lehrerin Hélène befürchtete Misshandlung ist keine, Théos Lage ist schlimm, aber eben der Treue zum Vater und der Blockade der Mutter geschuldet; die unbegründete Vermutung, er würde körperlich gequält, ist Hélènes eigenen Erfahrungen als Prügelkind geschuldet.
Das Verfahren wendet Vigan später direkt auf den Leser an: Als Andeutungen über Williams suspektes Treiben am Rechner fallen, denkt man ans Schlimmste und ist geradezu erleichtert, als Cécile herausfindet, "nur" einen reaktionären Wutbürger geehelicht zu haben. Die Entlarvung erzeugt einen Realitätseffekt: Der Leser versteht seine Katastrophenängste als das, was sie sind, Projektionen, und schenkt der trist geschilderten Welt im Roman umso leichter Glauben. Das hat "Loyalitäten" zum Beispiel "Tage ohne Hunger" (2001) voraus. In diesem Roman, der voriges Jahr auf Deutsch erschienen ist, erzählt Vigan die Magersucht der neunzehnjährigen Laure. Die langsame Genesung und (im Rückblick) die Krankheit und ihre Ursachen werden auf viel direktere, eindimensionalere Weise geschildert.
Die erzählerische Raffinesse von "Loyalitäten" hat einen weiteren Vorteil, sie verringert einen Eindruck, der Vigan sicher unrecht tut, der sich jedoch aufdrängt: dass sie den Zeitgeist jagt, indem sie Anthologie-Stücke zu den psychosozialen Problemen der Gegenwart schreibt. Wenn sie das tut, dann als Zeitzeugin: Ihren Romanen ist anzumerken, dass Vigan auf persönlichen Erfahrungen (eine psychisch kranke Mutter, die eigene Magersucht) aufbauen kann. Entscheidend freilich ist, dass sie es als Autorin tut: Die Erfahrungen, die Problemthemen sind literarisch verwandelt. Im Zentrum steht die Not der Kinder, die Vigan mit Empathie, aber ohne Rührseligkeit beschreibt: "Und jedes Mal war ihm, als würde er das Leid seiner Mutter in seinen eigenen Körper aufnehmen. Manchmal war es ein elektrischer Schlag, manchmal ein Schnitt oder ein Faustschlag, aber immer war es sein Körper, in dem sich der Schmerz fortsetzte, als müsse Théo seinen Teil tragen."
Die geheimnisvollen "unsichtbaren Verbindungen", "leise gemachte Versprechungen", die uns mit unseren Nächsten verknüpfen: "Das sind die Sprungbretter, auf denen sich unsere Kräfte entfalten, und die Gruben, in denen wir unsere Träume begraben." Ein schöner, ein erschreckender Gedanke und ein gutes Thema für einen Roman.
NIKLAS BENDER
Delphine de Vigan:
"Loyalitäten".
Aus dem Französischen von Doris Heinemann. DuMont Buchverlag, Köln 2018. 176 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Delphine de Vigan erzählt in ihrem Roman "Loyalitäten" von familiären Brüchen, krankhaften Beziehungen und verborgenen Antrieben.
In der Buchhandelsausgabe von Delphine de Vigans Roman "Loyalitäten", der in Frankreich dieses Jahr erschienen ist und gleich übersetzt wurde, finden sich zwei Interviews: Eines haben die Journalisten von "Marie Claire", ein anderes jene von "Les Inrockuptibles" geführt. Botschaft: Der Autorin ist das Kunststück gelungen, es beiden recht zu machen, dem Magazin für weibliche Mode und der linksrockigen Kulturzeitschrift. Das ist sicherlich der Tatsache geschuldet, dass die Schriftstellerin seit "No & ich" (2007) international bekannt ist und ihr Roman "Nach einer wahren Geschichte" (2015) von Roman Polanski verfilmt wurde (2017). Es sagt aber auch einiges über die verschiedenen literarischen Sensibilitäten aus, die Vigan zu berühren vermag.
Die im Titel genannten Loyalitäten sind zunächst die der Kinder zu ihren Eltern. Im Zentrum steht der zwölfjährige Théo Lubin, ein Scheidungskind, das es schier zerreißt: Seine Mutter schweigt den Vater und Théos Leben dort systematisch tot. Das führt dazu, dass Théo die Situation seines Vaters nicht ansprechen kann: Der steht am Abgrund, vegetiert - von Arbeitslosigkeit, Armut, Depression und Medikamentenmissbrauch ruiniert - in einer verwahrlosten, zugemüllten Wohnung vor sich hin. Wenn er beim Vater ist, versucht Théo den Schein zu wahren, räumt auf, putzt, kocht, kauft ein; der Kampf wirkt aussichtslos, und Théo beginnt, sich mit Alkohol zu betäuben.
Gemeint ist zweitens die Treue der Kinder zueinander, besonders die von Mathis, Théos bestem Freund, der ihn bewundert: "Théo spricht wenig, aber er lässt sich nichts gefallen. Er wird gefürchtet. Respektiert. Er hat sich nie prügeln, nicht einmal drohen müssen. In seinem Innern grollt etwas, das jeden von einem Angriff und Kommentar abhält." Mathis macht das Abenteuer des heimlichen Trinkens erst mit und hält anschließend auch dann noch zu seinem Freund, als dessen selbstzerstörerische Tendenz offensichtlich wird; Mathis belügt seine Eltern und versucht, das Schlimmste zu vermeiden.
Drittens sind die Loyalitäten der Erwachsenen zu den Kindern im Spiel: Im Zentrum steht hier die Lehrerin Hélène, die ahnt, dass mit Théo nicht alles zum Besten steht, und deshalb nichts unversucht lässt, um ihm zu helfen; dabei verrennt sie sich mitunter, wird ausfällig und übergriffig, etwa als sie Théos Mutter zur Rede stellt und vor der Wohnung spioniert. Der verborgene Antrieb ihres Tuns ist, dass sie dem Kind in sich treu bleiben möchte, das von seinem Vater misshandelt wurde.
Die letzte der Loyalitäten sind die zwischen Erwachsenen, die intakte zwischen den Lehrern Hélène und Frédéric, aber auch die schwer beschädigte zwischen den Eltern von Mathis. Céciles und Williams in Routine und Gleichgültigkeit erstickende Ehe geht der Auflösung entgegen, als Cécile entdeckt, was ihr bürgerlich-distinguierter Gatte allabendlich in seinem Arbeitszimmer treibt: Unter Pseudonym betreibt er einen Blog und betätigt sich als Troll, und zwar mittels "Texten, deren rassistische, antisemitische, homophobe und frauenfeindliche Tendenzen sich nicht leugnen ließen". Vigan entführt den Leser in eine wenig erfreuliche Welt: die der scheiternden Ehen, des sozialen Abstiegs, der verletzten Kinder. Es gibt mehrere Gründe, warum ihr das gelingt. Da wären die Perspektiven von vier Erzählern - zwei Jungen, Théo und Mathis, sowie zwei Frauen, Hélène und Cécile -, die sich kapitelweise abwechseln und komplementäre Sichtweisen entwickeln. So gelingt es der Autorin, facettenreiche Porträts zu entwerfen, die authentisch wirken. Der Falle eines wohlfeilen Miserabilismus entgeht der Text zudem durch falsche Fährten: Die von Lehrerin Hélène befürchtete Misshandlung ist keine, Théos Lage ist schlimm, aber eben der Treue zum Vater und der Blockade der Mutter geschuldet; die unbegründete Vermutung, er würde körperlich gequält, ist Hélènes eigenen Erfahrungen als Prügelkind geschuldet.
Das Verfahren wendet Vigan später direkt auf den Leser an: Als Andeutungen über Williams suspektes Treiben am Rechner fallen, denkt man ans Schlimmste und ist geradezu erleichtert, als Cécile herausfindet, "nur" einen reaktionären Wutbürger geehelicht zu haben. Die Entlarvung erzeugt einen Realitätseffekt: Der Leser versteht seine Katastrophenängste als das, was sie sind, Projektionen, und schenkt der trist geschilderten Welt im Roman umso leichter Glauben. Das hat "Loyalitäten" zum Beispiel "Tage ohne Hunger" (2001) voraus. In diesem Roman, der voriges Jahr auf Deutsch erschienen ist, erzählt Vigan die Magersucht der neunzehnjährigen Laure. Die langsame Genesung und (im Rückblick) die Krankheit und ihre Ursachen werden auf viel direktere, eindimensionalere Weise geschildert.
Die erzählerische Raffinesse von "Loyalitäten" hat einen weiteren Vorteil, sie verringert einen Eindruck, der Vigan sicher unrecht tut, der sich jedoch aufdrängt: dass sie den Zeitgeist jagt, indem sie Anthologie-Stücke zu den psychosozialen Problemen der Gegenwart schreibt. Wenn sie das tut, dann als Zeitzeugin: Ihren Romanen ist anzumerken, dass Vigan auf persönlichen Erfahrungen (eine psychisch kranke Mutter, die eigene Magersucht) aufbauen kann. Entscheidend freilich ist, dass sie es als Autorin tut: Die Erfahrungen, die Problemthemen sind literarisch verwandelt. Im Zentrum steht die Not der Kinder, die Vigan mit Empathie, aber ohne Rührseligkeit beschreibt: "Und jedes Mal war ihm, als würde er das Leid seiner Mutter in seinen eigenen Körper aufnehmen. Manchmal war es ein elektrischer Schlag, manchmal ein Schnitt oder ein Faustschlag, aber immer war es sein Körper, in dem sich der Schmerz fortsetzte, als müsse Théo seinen Teil tragen."
Die geheimnisvollen "unsichtbaren Verbindungen", "leise gemachte Versprechungen", die uns mit unseren Nächsten verknüpfen: "Das sind die Sprungbretter, auf denen sich unsere Kräfte entfalten, und die Gruben, in denen wir unsere Träume begraben." Ein schöner, ein erschreckender Gedanke und ein gutes Thema für einen Roman.
NIKLAS BENDER
Delphine de Vigan:
"Loyalitäten".
Aus dem Französischen von Doris Heinemann. DuMont Buchverlag, Köln 2018. 176 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.12.2018Suff mit Pfefferminz
Delphine de Vigans Roman „Loyalitäten“
Der Junge ist ganz blass, hat müde Augen, spricht nicht. Hélène weiß, dass es sich nicht um die übliche Müdigkeit eines Zwölfjährigen handelt, um die Trägheit, die Pubertierende überwältigt, wenn sie im Unterricht sitzen und auf das Pausenklingeln warten. Hélène ist überzeugt, dass Théo leidet. Da ist eine Traurigkeit in ihm, die spürt sie so deutlich, dass es ihr die Kehle zuschnürt. Die anderen im Lehrerkollegium erkennen an Théos Verhalten nichts Ungewöhnliches. Aber Hélène schaut genauer hin, sie weiß selbst, wie es ist, wenn man das eigene Leiden überspielen muss, wenn man Blicken ausweicht und nicht aufzufallen versucht. Théo muss gerettet werden, da ist sie sich sicher; wovor und warum, weiß sie noch nicht.
Der Leser erfährt es schnell. Die französische Bestsellerautorin Delphine de Vigan wechselt in ihrem neuen Roman „Loyalitäten“ die Erzählperspektive, springt zum Beispiel aus der Ich-Erzählung Hélènes, mit der das Buch beginnt, zu Théo, der mit seinem Klassenkameraden Mathis heimlich in der Schule Wodka trinkt; sie schieben ein Pfefferminz hinterher, um sich nicht zu verraten. Gerade bei Théo geht das Trinken über den Reiz am Rausch hinaus. Er ist nahezu suizidal, wünscht sich Bewusstlosigkeit. Seine Eltern leben getrennt, der Vater verwahrlost, die Mutter ignoriert ihren Exmann und verbietet auch ihrem Sohn, über ihn zu sprechen. Seiner Lehrerin würde er sich gerne anvertrauen, sie scheint ihn zu verstehen, aber die titelgebenden Loyalitäten halten ihn zurück, die Schuldgefühle gegenüber den Eltern. Er würde sich wie ein Verräter fühlen.
De Vigan schreibt außerdem auch aus der Sicht des Klassenkameraden Mathis und dessen Mutter Cécile. Da gibt es das nächste Ehedrama, Mathis Eltern sprechen kaum noch miteinander. Cécile entdeckt, dass ihr Mann unter einem Pseudonym in sozialen Netzwerken allerhand Rechtsradikales schreibt, traut sich aber nicht, ihn darauf anzusprechen. Ihr Sohn hängt die ganze Zeit mit diesem kränklichen Théo herum, auch das gefällt ihr nicht. Sprachlosigkeit überall, die Vermeidung von Konfrontation, aus Konditionierung und Pflichtbewusstsein, starke Familienbande erdrücken und schneiden die Luft ab.
Dass ihre Figuren es nicht fertigbringen, miteinander zu sprechen, wird für de Vigan als Autorin zum Verhängnis. Zwischenmenschliche Dynamiken zeigt sie nicht in Dialogen oder Handlungen und auch nicht an komplexen Innerlichkeiten. Sie lässt ihre Figuren eindeutige Sätze denken, die unausgesprochene Konflikte sauber auf den Punkt bringen. Vom erzählerischen Eisbergmodell hält de Vigan offenbar nichts: In ihrem Roman schwimmt nichts unter der Oberfläche. Einen Subtext gibt es nicht. Dass zum Beispiel Théo unter der hässlichen Nichtkommunikation seiner Eltern leidet, wird in ungelenken Metaphern ausbuchstabiert, als läge es nicht auf der Hand: „Die Wörter zerstören ihn, es ist ein unerträglicher Ultraschall, ein Larsen-Effekt, den nur er zu hören scheint.“ Dass Héléne als Kind misshandelt wurde, erfährt der Leser im sechsten Satz. Man braucht also nicht zwischen den Zeilen zu lesen, denn in den Zeilen steht ja alles.
Erklärt de Vigan etwas einmal nicht, wie zum Beispiel das virtuelle Doppelleben von Mathis’ Vater, dann hat man nicht den Eindruck, dass sich dahinter ein stimmiges Psychogramm verbirgt, dass unter der Oberfläche etwas schlummert. Es handelt sich viel eher um eine nicht zu Ende gedachte Idee, zumal sie dann auch einfach wieder versandet. Ein Nebenschauplatz wie dieser ist wohl vor allem dazu da, Relevanz zu simulieren. Onlinetrolling ist ja zurzeit ein viel diskutiertes Thema, wirklich daran interessiert, sich damit auseinanderzusetzen, scheint die Autorin aber nicht.
In Frankreich ist de Vigan eine populäre Schriftstellerin. Ihr neuer Roman ist bei aller Humorlosigkeit und trotz der tristen Handlung auch eine leichte Lektüre. Die Kapitel sind kurz, wie der Roman im Ganzen, das ständige Wechseln der Erzählperspektive kurzweilig.
Bald wird de Vigan, die bereits Romane über Jugendobdachlosigkeit, Magersucht und Suizid geschrieben hat, sämtliche Sujets für Sozialdramen abgehakt haben. Wenn die Themen in „Loyalitäten“ auch reizvoll sind, und eigentlich klassisches Material für fesselnde Literatur – die Erwartungen der Eltern, das Leiden der Kinder, die Flucht in den Rausch – zeichnet de Vigan doch nur fade Figuren, deren Schicksal, sauber ausbuchstabiert, kaum berührt.
JAN JEKAL
Delphine de Vigan: Loyalitäten. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. DuMont, Köln 2018. 176 Seiten, 20 Euro.
Man braucht nicht zwischen
den Zeilen zu lesen, denn in den
Zeilen steht ja alles
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Delphine de Vigans Roman „Loyalitäten“
Der Junge ist ganz blass, hat müde Augen, spricht nicht. Hélène weiß, dass es sich nicht um die übliche Müdigkeit eines Zwölfjährigen handelt, um die Trägheit, die Pubertierende überwältigt, wenn sie im Unterricht sitzen und auf das Pausenklingeln warten. Hélène ist überzeugt, dass Théo leidet. Da ist eine Traurigkeit in ihm, die spürt sie so deutlich, dass es ihr die Kehle zuschnürt. Die anderen im Lehrerkollegium erkennen an Théos Verhalten nichts Ungewöhnliches. Aber Hélène schaut genauer hin, sie weiß selbst, wie es ist, wenn man das eigene Leiden überspielen muss, wenn man Blicken ausweicht und nicht aufzufallen versucht. Théo muss gerettet werden, da ist sie sich sicher; wovor und warum, weiß sie noch nicht.
Der Leser erfährt es schnell. Die französische Bestsellerautorin Delphine de Vigan wechselt in ihrem neuen Roman „Loyalitäten“ die Erzählperspektive, springt zum Beispiel aus der Ich-Erzählung Hélènes, mit der das Buch beginnt, zu Théo, der mit seinem Klassenkameraden Mathis heimlich in der Schule Wodka trinkt; sie schieben ein Pfefferminz hinterher, um sich nicht zu verraten. Gerade bei Théo geht das Trinken über den Reiz am Rausch hinaus. Er ist nahezu suizidal, wünscht sich Bewusstlosigkeit. Seine Eltern leben getrennt, der Vater verwahrlost, die Mutter ignoriert ihren Exmann und verbietet auch ihrem Sohn, über ihn zu sprechen. Seiner Lehrerin würde er sich gerne anvertrauen, sie scheint ihn zu verstehen, aber die titelgebenden Loyalitäten halten ihn zurück, die Schuldgefühle gegenüber den Eltern. Er würde sich wie ein Verräter fühlen.
De Vigan schreibt außerdem auch aus der Sicht des Klassenkameraden Mathis und dessen Mutter Cécile. Da gibt es das nächste Ehedrama, Mathis Eltern sprechen kaum noch miteinander. Cécile entdeckt, dass ihr Mann unter einem Pseudonym in sozialen Netzwerken allerhand Rechtsradikales schreibt, traut sich aber nicht, ihn darauf anzusprechen. Ihr Sohn hängt die ganze Zeit mit diesem kränklichen Théo herum, auch das gefällt ihr nicht. Sprachlosigkeit überall, die Vermeidung von Konfrontation, aus Konditionierung und Pflichtbewusstsein, starke Familienbande erdrücken und schneiden die Luft ab.
Dass ihre Figuren es nicht fertigbringen, miteinander zu sprechen, wird für de Vigan als Autorin zum Verhängnis. Zwischenmenschliche Dynamiken zeigt sie nicht in Dialogen oder Handlungen und auch nicht an komplexen Innerlichkeiten. Sie lässt ihre Figuren eindeutige Sätze denken, die unausgesprochene Konflikte sauber auf den Punkt bringen. Vom erzählerischen Eisbergmodell hält de Vigan offenbar nichts: In ihrem Roman schwimmt nichts unter der Oberfläche. Einen Subtext gibt es nicht. Dass zum Beispiel Théo unter der hässlichen Nichtkommunikation seiner Eltern leidet, wird in ungelenken Metaphern ausbuchstabiert, als läge es nicht auf der Hand: „Die Wörter zerstören ihn, es ist ein unerträglicher Ultraschall, ein Larsen-Effekt, den nur er zu hören scheint.“ Dass Héléne als Kind misshandelt wurde, erfährt der Leser im sechsten Satz. Man braucht also nicht zwischen den Zeilen zu lesen, denn in den Zeilen steht ja alles.
Erklärt de Vigan etwas einmal nicht, wie zum Beispiel das virtuelle Doppelleben von Mathis’ Vater, dann hat man nicht den Eindruck, dass sich dahinter ein stimmiges Psychogramm verbirgt, dass unter der Oberfläche etwas schlummert. Es handelt sich viel eher um eine nicht zu Ende gedachte Idee, zumal sie dann auch einfach wieder versandet. Ein Nebenschauplatz wie dieser ist wohl vor allem dazu da, Relevanz zu simulieren. Onlinetrolling ist ja zurzeit ein viel diskutiertes Thema, wirklich daran interessiert, sich damit auseinanderzusetzen, scheint die Autorin aber nicht.
In Frankreich ist de Vigan eine populäre Schriftstellerin. Ihr neuer Roman ist bei aller Humorlosigkeit und trotz der tristen Handlung auch eine leichte Lektüre. Die Kapitel sind kurz, wie der Roman im Ganzen, das ständige Wechseln der Erzählperspektive kurzweilig.
Bald wird de Vigan, die bereits Romane über Jugendobdachlosigkeit, Magersucht und Suizid geschrieben hat, sämtliche Sujets für Sozialdramen abgehakt haben. Wenn die Themen in „Loyalitäten“ auch reizvoll sind, und eigentlich klassisches Material für fesselnde Literatur – die Erwartungen der Eltern, das Leiden der Kinder, die Flucht in den Rausch – zeichnet de Vigan doch nur fade Figuren, deren Schicksal, sauber ausbuchstabiert, kaum berührt.
JAN JEKAL
Delphine de Vigan: Loyalitäten. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. DuMont, Köln 2018. 176 Seiten, 20 Euro.
Man braucht nicht zwischen
den Zeilen zu lesen, denn in den
Zeilen steht ja alles
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»[Delphine de Vigan] ist wie Virginie Despentes und Annie Ernaux eine Vertreterin der radikal zeitgenössischen französischen Literatur, eine Seismografin gesellschaftlicher Gewalt.« Ute Cohen, DIE LITERARISCHE WELT »Wie ein elektrischer Schlag« Niklas Bender, FAZ »Man kann wirklich ganz knallhart diese Abgründe in zwischenmenschlichen Strukturen und in der Gesellschaft [...] erkennen, sodass beim Lesen einem die Luft im Halse stecken bleibt und es ist faszinierend zu sehen, wie klar sie die Sachen auf den Punkt bringt.« Birgit Koß, DLF KULTUR »Mit Annie Ernaux, Virginie Despentes, Leïla Slimani und Édouard Louis gehört Delphine de Vigan zur Liga französischer Literaten, die das Erzählen mit einer schonungslosen Gesellschaftsanalyse verbinden.« Martina Läubli, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG »Die französische Autorin kleidet innere Tumulte in klare Sprache.« Silke Müller, STERN »Die unterschiedlichen Perspektiven, die sie einnimmt, [...] sind so präzise dargelegt, als könne sie sich als winzige Spionin in die Köpfe der unterschiedlichsten Menschen abseilen.« Jana Felgenhauer, SPIEGEL ONLINE »Raffiniert lotet Delphine de Vigan auch die dunklen Seiten von Loyalität aus.« Luzia Stettler, SRF 52 Beste Bücher »Ein großer Roman [...]: zeitgemäß, melancholisch und wahrhaftig.« Juliane Bergmann, NDR KULTUR »Ein Roman, der einem lange nachgeht.« Sabine Grimkowski, SWR2 Lesenswert Kritik »Delphine de Vigan seziert großartig eine komplexe Situation.« Martina Koch, GLAMOUR »Der Roman ist total packend, am Ende ist man fassungslos.« Anna Eube, WELT.DE/ICONIST »Ähnlich wie Annie Ernaux schaut [Delphine de Vigan] in die Herzen.« Monika Helfer, NEWS »Beim Lesen lässt sich [das Drama, die Verlorenheit und die Ausweglosigkeit] nur deshalb ertragen, weil Vigan so unglaublich gut schreibt. Präzise, dabei empathisch und authentisch, gibt sie ihren Protagonisten eine Stimme, der man zuhören will.« Solveig Bach, NTV.DE »Sie beschreibt präzise, drückt nicht auf die Tränendrüse und findet dennoch Formulierungen, die lange nachwirken. Ein Roman, der dazu auffordert, genauer hinzuschauen, ehrlich zu sich und anderen zu sein.« Anne Burgmer, KÖLNER STADT-ANZEIGER »Ein Appell gegen das Wegsehen und Schönreden« Theresa Lippe, HESSISCHE ALLGEMEINE »170 Seiten, die zeigen, wie Literatur auf höchstem Niveau geht.« Jutta Engelmayer, STADTRADIO GÖTTINGEN »Beklemmend und zugleich raffiniert erzählt.« Katharina Bellgardt, WESTFÄLISCHER ANZEIGER »[Es gelingt] Delphine de Vigan durch ihre genauen Beobachtungen, ihre liebevollen Schilderungen von Théos zähem Kampf aus diesem 12-jährigen Jungen einen eindrucksvollen Helden zu machen.« Gabriele Knetsch, BAYERN 2 DIWAN »Delphine de Vigan schreibt leise, vielschichtig und eindringlich über menschliche Abgründe und innere Kämpfe ganz normaler Menschen.« Jeannette Villachica, ALLGEMEINE ZEITUNG »Erschreckend nüchtern - [...] Das Buch kommt wie eine ort- und zeitlose Fallstudie daher und enthält doch alles, was den Menschen ausmacht. Große Literatur auf kleinem Raum.« Stephan Hermsen, NEUE RUHR ZEITUNG »Gerade diese Beobachtung, dass trotz aller Liebe und vieler Bemühungen umeinander, jeder seine Geheimnisse behält und mit ihnen leben muss, macht 'Loyalitäten' so lesenswert.« Anne Simon, GALORE LITERATUR »Fesselnd entwirft Delphine De Vigan in inneren Monologen der Beteiligten das Bild eines emotional vernachlässigten Jungen.« Carsten Schrader, KULTURNEWS »Delphine de Vigans in Frankreich vielfach ausgezeichneten Romanfiguren brennen sich ins literarische Gedächtnis, ich kann sie einfach nicht vergessen.« Marc Iven, GEISTESBLÜTEN »Offen, ehrlich, schonungslos und direkt. 'Loyalitäten' ist ein dichtes und intensives Buch, dass mit nicht loslässt und mir noch lange zu denken geben wird.« Alexandra Stiller, BUECHERKAFFEE.DE »Jeder Satz sitzt bombenfest, kein Wort ist überflüssig. [...] Delphine de Vigan hat mit 'Loyalitäten' ein verdammt gutes Buch geschrieben.« Monika Drummer, BUCHUNDWORT.DE »Kurz und knapp: eines der Bücher des Jahres, schon vor dem Herbst. Selten hat mich eine Geschichte so vereinnahmt, aber auch verstört und insbesondere ein Gefühl von Empathie in mir erzeugt.« Wolf Gierens, Lesesaal Buchhandlung & Café, Hamburg »Was bedeutet es, 'loyal' zu sein? Ein wahrhaftes Drama, das sich wie ein Krimi liest und mich so ergriffen hat, wie 'Ein wenig Leben' von Hanya Yanagihara.« Rafael Ulbrich, Thalia Buchhandlung Augsburg »Was passiert, wenn nichts mehr sicher scheint - in der Familie nicht, in der Schule nicht und auch nicht im Freundeskreis und Beruf? Die Antworten können manchmal schmerzhaft sein. Das haben sie mit guter Literatur gemeinsam. Und dazu gehört dieser Roman, der beeindruckt.« Heike Heymann-Rienau, Geschäftsführerin Kurt Heymann Buchzentrum GmbH »Der kurze Roman erschüttert, lässt einen zuweilen den Atem anhalten - und tröstet mit einem winzigen Hoffnungsschimmer. [...] Ein Buch wie eine überscharfe Fotografie, hart, klar und präzise. Großartig.« Kerstin Dittert, www.femundo.de »Mit einer beeindruckenden Intensität und Prägnanz erzählt Delphine de Vigan, was Loyalität bedeutet und welche Konflikte sie in der Familie, aber auch im näheren Umfeld auslösen kann. Ein überwältigender und dichter Roman, der einem nicht zuletzt wegen seiner präzisen Sprache den Atem verschlägt.« Liesa Rebbig, www.mscaulfield.com »Ein aufwühlendes, fesselndes, tiefbewegendes Buch, das sich mit atemloser Spannung liest. Das Beste, was ich in diesem Jahr gelesen habe und einfach nur zu empfehlen!« Melanie Seibel, vorablesen.de