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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.1998

Schaut mal, ohne Hirn!
Der Urmensch war ein Frühstarter: Donald Johanson und Blake Edgar gehen seine Strecke nach / Von Günter Paul

Vor 4,4 Millionen Jahren wanderte im heutigen Äthiopien ein rätselhafter, sehr auffälliger affenähnlicher Hominide durch die afrikanische Landschaft. Niemand wüßte mehr etwas von ihm, hätte nicht ein internationales Team unter Leitung von Tim White und J. Desmond Clark von der University of California in Berkeley in der Grabungssaison 1994/95 ein fast vollständiges Skelett dieses Ardipithecus ramidus sichergestellt. Die Knochen sind zertrümmert und warten bisher zum größten Teil noch in Kunststoffumhüllungen auf ihre Rekonstruktion. Doch eines gilt bereits als gewiß - es handelt sich um den frühesten Vormenschen, den die Wissenschaft kennt.

Nach und nach haben es die Forscher geschafft, unsere frühe Vergangenheit ein wenig zu erhellen. Diese Arbeit ist mühsam, weil aus langen Epochen gar keine Fundstücke existieren. Deshalb muß auch das Bild, das sich die Paläanthropologen machen, ständig revidiert werden. Wie die Forscher vorgehen und welche Fortschritte sie dabei erzielt haben, stellen Donald Johanson - einer der angesehensten Paläanthropologen - und Blake Edgar in dem Buch "Lucy und ihre Kinder" dar.

Den Autoren geht es bei ihrer hervorragenden Einführung in die Paläanthropologie insbesondere um die Schwierigkeiten, mit denen die Wissenschaftler zu kämpfen haben. Vor noch nicht allzu langer Zeit standen ihnen fast ausschließlich die besonders harten und damit haltbaren Zähne und einige Kieferfragmente für Studien zur Verfügung. Kein Wunder, daß noch in den siebziger und achtziger Jahren die Meinung vorherrschte, der letzte gemeinsame Vorfahre von Affen und Hominiden habe vor fünfzehn bis zwanzig Millionen Jahren gelebt. Die Zähne des Ramapithecus, wie er genannt wurde, schienen auf eine Verbindung zu den Hominiden hinzuweisen. Statt dessen gehört diese Art aber, was heute unumstritten ist, in die Linie der asiatischen Affen.

Näher als mit dem Orang-Utan ist der Mensch mit dem Gorilla und dem Schimpansen verwandt. Gorilla und Mensch stimmen genetisch zu etwa 97,7 Prozent, Schimpanse und Mensch zu rund 98,4 Prozent überein. Vom Gorilla dürften sich die Vormenschen vor rund acht Millionen Jahren, vom Schimpansen vor sechs oder sieben Millionen Jahren getrennt haben. Gerade dieser Zeitabschnitt ist jedoch durch Fundstücke bislang nicht belegt. Aber auch das Material aus späteren Zeiten ist spärlich. Vom Ardipithecus ramidus haben die Forscher nur dreiundvierzig Fundstücke, die zudem von mehreren Individuen stammen. Selbst der in den Sammlungen am besten vertretene frühe Hominide, der Australopithecus afarensis, muß aus weniger als vierhundert zum Teil kleinen Resten rekonstruiert werden. Die Natur konserviert Fossilien nur unter bestimmten Bedingungen. Überdies dürften die Hominiden zu den eher seltenen Tierarten ihrer Epochen gehört haben.

Wie sich dann die Entwicklung zum modernen Menschen vollzog, ist trotz der mittlerweile aussagekräftigeren Fundstücke - von einigen späteren Arten gibt es inzwischen fast vollständige Skelette - umstritten. Spätestens seit dem Zeitpunkt, als der Australopithecus africanus in eine Seitenlinie unseres Stammbaums verbannt wurde, fehlen bei den Funden überzeugende Zwischenstufen zwischen Australopithecus afarensis und dem frühesten Homo. Der Homo habilis oder der Homo rudolfensis war es, der vor 2,3 bis 2,4 Millionen Jahren das Werkzeug "erfunden" haben dürfte, und nicht - was bis vor einiger Zeit noch nicht auszuschließen war - der Australopithecus.

Erst der Homo erectus begann, Afrika zu verlassen. Völlig offen ist zur Zeit, wann er das tat. Waren die Forscher lange der Meinung, die ältesten Erectus-Fossilien außerhalb Afrikas seien nicht mehr als 800000 Jahre alt, wurden jüngst einige auf 1,6 bis 1,8 Millionen Jahre zurückdatiert. Der Homo erectus hat wahrscheinlich auch als erster (vor etwa 500000 Jahren) das Feuer bezähmt. Eine zweite "Auswanderungswelle" setzte vor rund 100000 Jahren ein, als der moderne Mensch - noch unbekleidet - Afrika verließ. Bekleidet hat sich viel später erst der Neandertaler, der auch die Bestattung von Toten einführte. Er ist schließlich vom modernen Menschen verdrängt worden.

Viele Details der Entwicklung zum modernen Menschen lassen sich dank neuerer Forschungsergebnisse besser als früher verstehen. Zum Beispiel sind die Schätzungen des Gewichts unserer Vorfahren viel verläßlicher geworden, seit sich die Wissenschaftler dabei nicht mehr nur auf Zähne stützen müssen. Dabei nahm zum Beispiel das angenommene Gewicht eines Australopithecinen von zweiundsiebzig auf vierunddreißig Kilogramm ab. Heute sind sich die Fachleute auch einig, daß unsere Vorfahren schon vor vier Millionen Jahren aufrecht gingen, der aufrechte Gang also keine Folge der Vergrößerung des Gehirns war, die erst vor zwei Millionen Jahren einsetzte.

Eine der elementarsten Fragen der Paläanthropologie dagegen können die Wissenschaftler bis heute nicht zufriedenstellend beantworten: welche unserer Vorfahren jeweils eine Art bildeten. Biologisch wird als Art eine Gruppe von Individuen definiert, die von anderen Gruppen reproduktiv isoliert ist. Nur bei lebenden Arten kann man das Paarungsverhalten beobachten. Ein anderes Kriterium für das Erkennen lebender Arten ist die Tatsache, daß sie zur gleichen Zeit im gleichen Gebiet leben. Für den heutigen Menschen allerdings gilt das nicht mehr - er ist nicht mehr reproduktiv isoliert. Daraus folgern die Autoren, bei uns selbst fehlten derzeit die Voraussetzungen für die Bildung einer neuen Art. Insofern unterscheidet sich der moderne Mensch offenbar vom Rest der Natur, woran sich die Frage anschließt, wie es mit ihm weitergehen wird. Die Antwort darauf kann nur spekulativ sein.

Den Autoren ist es mit ihrer Darstellung vorzüglich gelungen, die auf Fossilien beruhende Wissenschaft von unseren Vorfahren zum Leben zu erwecken. Der Wert des Buches geht aber weit darüber hinaus. Johanson und Edgar stellen nämlich in dessen zweitem und umfangreicherem Teil die wichtigsten vormenschlichen Fossilien in Wort und Bild zusammen, schildern die Fundumstände, die klassifizierenden Merkmale und die unterschiedlichen Interpretationen. Die meisten Fundstücke sind in Originalgröße reproduziert, was einen anschaulichen Vergleich zuläßt. Viele der Fotos wurden von David Brill speziell für diesen Band angefertigt.

Donald Johanson, Blake Edgar: "Lucy und ihre Kinder". Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1998. 272 S., zahlr. Abb., geb., 98,- DM.

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