Der heute bedeutendste französische Historiker legt die erste »allumfassende Biographie« Ludwigs des Heiligen vor. Eine klassische Studie über den markantesten und zugleich unbekanntesten Herrscher auf dem Thron Frankreichs im Mittelalter, ein Heiliger, der zum Inbegriff des 13. Jahrhunderts wurde.
Ludwig IX. (1214-1270), der erste und einzige heiliggesprochene König Frankreichs ist neben Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen (1194-1250) die herausragende Herrschergestalt des 13. Jahrhunderts. Ludwig wird zur nationalen, ja mythischen Identifikationsfigur der Franzosen wie sein kaiserlicher Gegenspieler für die Deutschen. Jacques Le Goff entwirft eine historische Biographie des Königs und Heiligen, Kreuzfahrers und Friedensstifters, entfaltet das Weltbild seines Jahrhunderts und erzählt das Leben des Königs: seine Herkunft, die Geburt 1214, der frühe Tod des Vaters, die Bedeutung des Großvaters, die Regentschaft seiner Mutter, Blanka von Kastilien, die Heirat mit Margarete von Provence und der erste Kreuzzug (1248-1254). Der König gerät in Gefangenschaft und kommt nur durch die Zahlung eines Lösegeldes frei. Schließlich kehrt er nach dem Tod der Mutter in das damalige Frankreich zurück, regiert und reformiert sein Königreich und stirbt 1270 vor Tunis während eines zweiten, gescheiterten Kreuzzuges.
Die Persönlichkeit Ludwigs IX. würde sich uns entziehen und auf seine Heiligkeit reduziert, wenn es Jacques Le Goff nicht gelänge, den König als Erneuerer Frankreichs, als Baumeister von Städten, Klöstern und Kathedralen, als Muttersohn und Ehemann, als Bruder und Familienvater und schließlich vor allem als charismatischen König zu zeigen: herrschend und betend, weinend und büßend, aber wenn nötig auch strafend und vernichtend. Ludwig der Heilige, ein weiser König, ein tiefgläubiger Asket, ein glühender Fanatiker, symbolisiert wie kein Zweiter seiner Epoche, die Jacques Le Goff in seinem Hauptwerk besichtigt.
Ludwig IX. (1214-1270), der erste und einzige heiliggesprochene König Frankreichs ist neben Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen (1194-1250) die herausragende Herrschergestalt des 13. Jahrhunderts. Ludwig wird zur nationalen, ja mythischen Identifikationsfigur der Franzosen wie sein kaiserlicher Gegenspieler für die Deutschen. Jacques Le Goff entwirft eine historische Biographie des Königs und Heiligen, Kreuzfahrers und Friedensstifters, entfaltet das Weltbild seines Jahrhunderts und erzählt das Leben des Königs: seine Herkunft, die Geburt 1214, der frühe Tod des Vaters, die Bedeutung des Großvaters, die Regentschaft seiner Mutter, Blanka von Kastilien, die Heirat mit Margarete von Provence und der erste Kreuzzug (1248-1254). Der König gerät in Gefangenschaft und kommt nur durch die Zahlung eines Lösegeldes frei. Schließlich kehrt er nach dem Tod der Mutter in das damalige Frankreich zurück, regiert und reformiert sein Königreich und stirbt 1270 vor Tunis während eines zweiten, gescheiterten Kreuzzuges.
Die Persönlichkeit Ludwigs IX. würde sich uns entziehen und auf seine Heiligkeit reduziert, wenn es Jacques Le Goff nicht gelänge, den König als Erneuerer Frankreichs, als Baumeister von Städten, Klöstern und Kathedralen, als Muttersohn und Ehemann, als Bruder und Familienvater und schließlich vor allem als charismatischen König zu zeigen: herrschend und betend, weinend und büßend, aber wenn nötig auch strafend und vernichtend. Ludwig der Heilige, ein weiser König, ein tiefgläubiger Asket, ein glühender Fanatiker, symbolisiert wie kein Zweiter seiner Epoche, die Jacques Le Goff in seinem Hauptwerk besichtigt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Wein mit Wasser trank der Heilige ohne Strohsack
Jacques Le Goff sucht Ludwig IX. / Von Dirk Schümer
Männer machen Geschichte. Mit keinem anderen Vorurteil über die Vergangenheit hat die Schule der französischen Historiographie, die man "Schule der Annales" nennt, gründlicher aufgeräumt als mit diesem. Ob Kaiser Lothar lobesam an welchem Tag auch immer gegen wen auch immer zu Felde zog, welche dynastischen Verflechtungen zu welchem politischen Ringen führte und wer wann wie oft seine Quisquilien beurkundet hat - solche verkehrten Kernfragen einer angestaubten Wissenschaft wurden unter dem Blick von Fernand Braudel, Georges Duby oder Emmanuel LeRoy Ladurie plötzlich ziemlich unwichtig. Die Mentalitätshistorie wurde von einem großen Publikum verschlungen und veränderte das Studium der Geschichte mit faszinierenden Werken über die historische Geographie des Mittelmeers, über die Denkweise in einem abgelegenen Pyrenäendorf oder über die Mentalität von Rittern im Schlachtgetümmel.
Und dann schreibt der bedeutendste lebende Annales-Historiker, Jacques Le Goff, eine monumentale Studie über das Leben eines französischen Nationalheros. Schon der Titel "Ludwig der Heilige" verspricht wenig Distanz zur dynastischen Mediävistik der Ereignisgeschichte: ein Buch voller Stammbäume, Herrschaftskarten, Zeittafeln rund um den König - das sieht aus wie ein Dementi der "longue durée", der Tiefenströmungen des geschichtlichen Bewußtseins, von denen die Vorstellungswelt unserer Ahnen doch vorgeblich bestimmt wurden. Machen große Männer also doch Geschichte?
Le Goff unternimmt anfangs wenig, diesem monumentalen Eindruck vorzubeugen. Schon die Wahl ausgerechnet des kreuzfahrenden Kapetingers, der keine dreißig Jahre nach seinem Tod vom Papst heiliggesprochen wurde, wirkt wie ein patriotisches Bekenntnis. Außer Johanna von Orléans gibt es keine zweite Figur des französischen Mittelalters, die derart vom Mythos der Nation überwölbt wurde. Obendrein eine katholische Symbolfigur der konservativen "France profonde", ein fürchterlicher Frömmler, der die Inquisition beförderte und wie ein geistesschwacher Lemming zweimal unterm Kreuzeszeichen in den Orient zog, wo er folgerichtig am mediterranen Darminfekt seines von Bußübungen geschwächten Körpers 1270 zugrunde ging - taugt so einer denn für eine Epochenschau, die hinter den Taten die politische Phantasie und hinter den Schlachten die Gefühle freilegen will?
Le Goff kann selbst nicht so genau erklären, warum er seit fünfzehn Jahren ausgerechnet diesem merkwürdigen Monarchen hinterherforscht. Eine Art Fokussierung der Mentalitätshistorie mit ihren Seitenwegen zum Glauben, zur Gestik, zur Kunst auf ein allerdings herausgehobenes Exemplar ist die erklärte Absicht des Buches. Aus der Bündelung der Facetten, die sich mit der neugewonnenen Methodik aus den Quellen erschließen lassen, soll ein Mensch erstehen.
In diesem besonderen Fall kommt erschwerend hinzu, daß die Produktion eines "heiligen" Königs die überlebenden Zeitgenossen wie die Hagiographen zu einem ganz bestimmten Idealbild zwangen, unter deren frommem Schutt der lebendige Ludwig erst einmal hervorzuzerren wäre. Die genüßliche Beschreibung der Leichenfledderei am heiligen Königskörper bis in unser Jahrhundert, die Knochenpolitik der Nachgeborenen also, zählt übrigens zu den schönsten Passagen des Buches. Um den vereinfachenden Lobrednern nicht aufzusitzen, schreibt Le Goff sein Buch als materialreiche Kreisbewegung, als immer neue, immer neu scheiternde Annäherung an sein Objekt, von dem er dann mit ironischer Offenherzigkeit nicht einmal zu sagen weiß: "Hat Ludwig der Heilige überhaupt existiert?" Für den Leser ist dieser epistemologisch begründete Verzicht auf literarische Bündigkeit indes eine Prüfung, denn der Autor zieht es vor, unbeantwortbare Fragen lieber mehrmals zu stellen. Die Uneinheitlichkeit ist offenbar Programm.
Ein Beispiel: Geht es um Ludwigs ersten Kreuzzug nach Palästina, verläßt der Autor den Erzählstrang mit der - angesichts von knapp tausend Seiten Umfang - etwas koketten Bemerkung, die Ereignisse könne man ja andernorts nachlesen. Dafür muß er dann andernorts mehrmals darauf zurückkommen. Zu anderen Komplexen, etwa den Heirats- und Krönungsriten, werden die Leser hingegen ungemein ausführlich informiert. Schreibt Le Goff über die Quellengattung des "Fürstenspiegels", dann gibt's erst einmal eine kundige Einleitung zur Geschichte der Textsorte seit der Spätantike, die jeden Laien überfordern dürfte. Schon Le Goffs Grundidee, den König sozusagen dreizuteilen und ihn nacheinander erst ereignisgeschichtlich, dann im Spiegel der Textproduktion und dann wieder in psychologischer Nahsicht zu präsentieren, leuchtet nicht ein. So muß - und vielleicht war das so beabsichtigt - der Leser sich selbst ein Bild machen, das der Autor so komplett und farbig zu zeichnen sich nicht traute.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Es gibt kaum einen anderen Historiker auf der Welt, der die Quellen und die Literatur des Hochmittelalters besser kennt als Jacques Le Goff. Doch ausgerechnet bei dieser Ikone des Franzosentums hat er sich versagt, was er als Lehrender und Autor mit großer Brillanz zu tun pflegt: deutlich Stellung zu nehmen und die alles Erkennen auflösende Nahsicht aufzugeben. Am Ende, nach immer neuen Annäherungen, sagt er es selbst: "So war ich einer seiner Vertrauten geworden. Dabei war er mir genauso verhaßt, wie ich ihn geliebt habe." Le Goff bilanziert redlich, daß Ludwig keine umwälzenden Taten als Politiker vorschwebten, daß seine präkolonialistischen Kreuzzüge auf klägliche Fehlschläge hinausliefen und daß die fürchterliche Frömmelei und Askese des Herrschers nicht nur vielen Zeitgenossen, sondern am Ende auch Autor und Leserschaft auf die Nerven gehen müssen. Warum also sollte man Ludwig IX., den das politische Interesse der Römischen Kirche einen Heiligen zu nennen für nötig hielt, überhaupt so genau kennenlernen?
Wer die fast tausend Seiten durchgelesen hat, weiß darauf noch weniger eine Antwort als vor der Lektüre. Viel faszinierender als der kränkliche Geist des religiös verblendeten Büßers sind die Hintergründe: Auf welchem Weg konnte es der Frömmigkeit der Bettelmönche gelingen, ihre endzeitliche und masochistische Lebensweise den Herrschern des reichsten Gebiets der Christenheit aufzuzwingen? Wie gehen in Ludwig lebensfeindliche Askese und die neue Lebensfreude des ritterlichen Hochmittelalters zusammen? Le Goff findet hier zur treffenden Formulierung, sein König sei "ein heiliger Franziskus unter den Laien" gewesen. Und wie verhält sich zu dieser Indoktrination von Büßern das Rittertum selbst, das in Ludwigs direktem Umkreis durch Jean de Joinville, den vielleicht grandiosesten und originellsten Biographen des Mittelalters, vertreten ist? In den zahlreichen Passagen über das Verhältnis zwischen diesem Seneschall aus der Champagne und seinem Monarchen mag auch Le Goff nicht verhehlen, daß Joinville die weitaus stärker schillernde Persönlichkeit ist. Solche Aspekte, die freilich die Biographie vollends in epistemologische Bestandteile zersprengt hätten, finden sich allerorten, und es verrät die Spürnase und vielleicht die Großmut des großen Historikers, derartige Aspekte anzusprechen, ohne sie dann aber auszuführen.
Das Wissen über den Menschen Ludwig, das dieses Buch liefert, bleibt notwendig im Rahmen dessen, was die kargen Quellen - Joinville zuvörderst - durchblicken lassen. Doch um zu wissen oder besser: für möglich zu halten, daß Ludwig ein Muttersöhnchen der unausstehlichen Blanka von Kastilien war, daß er seine Frau nachlässig bis verächtlich behandelte, daß er viel Wasser in den Wein mischte, gerne auf dem Boden saß, früh grauhaarig und durch eine ausgefeilte Fastenkasuistik abgezehrt war, daß er Mittagsschlaf hielt, daß er die Jagd ablehnte und sogar beim Reiten die mönchischen Messen zur Gliederung des Tagesablaufs singen ließ - benötigen wir keine ausufernde historiographische Reflexion.
Das Buch ist am bündigsten und besten merkwürdigerweise nicht, wo es auf die Gesten und den Glauben, die Rituale und das Selbstgefühl der mittelalterlichen Menschen oder gar Ludwigs persönlich zu sprechen kommt, sondern bei der politischen Geschichte. Es gelingt Le Goff meisterlich, hinter der gewollten und postum noch verstärkten Fassade des Heiligen den schlauen Politiker ausfindig zu machen. Denn wie fromm und papsttreu Ludwigs politisches Handeln auch immer war, letztlich gebührte der Stärkung des französischen Königtums stets der Vorrang. Wie Ludwig seinen Königsbeamten, den Baillis, eine fast schon preußische Disziplin abverlangt und damit die Bürokratur der juristischen Experten, die das Land bis heute regieren, entscheidend voranbringt; wie er den englischen König zum Lehnsmann macht und damit die territoriale Einheit dessen, was später Nation werden sollte, präfiguriert; und wie er mit Münzpolitik und Lehnsrecht alle "ausländischen" Rechtsbarkeiten aus einem Frankreich verdrängt, das er damit erst gestaltet - das alles bringt ihm den verdienten Titel eines französischen Staatsheiligen ein. Zum guten Schluß wird Ludwig, der die Königsgrablege in Saint-Denis pompös ausgestalten und fortan zum exklusiven Gedächtnisort der Monarchen machen sollte, zum visionären Propagandisten der Sakralität der französischen Nation, nicht mehr bloß der Dynastie - eine Tradition, die bis hin zum Königspräsidenten Mitterrand und seinen sentimentalen Bild-Inszenierungen reicht.
Merkwürdig bleibt aber auch hier, wieso Le Goff die Verirrungen im Namen von Kapetingerstaat und Papstreligion nicht kecker beim Namen nennt. Der Historiker mit europäischem Horizont wird doch nicht selbst unter die Patrioten gegangen sein? Die Furcht des Nachgeborenen, die Vorstellungswelt unserer Ahnen mit den heutigen Begriffen abzuurteilen, in allen Ehren - aber daß unter Ludwigs Befehl, während er sich dabei allenfalls als Schlächter zurückhielt, die Albigenserkreuzzüge zur Unterwerfung der okzitanischen Kultur und zur gewaltsamen Ausrottung der Katharer vollendet wurden, daß der König die Massenmorde der ersten Inquisitoren beförderte und das Verbrennen des Talmuds sowie die Markierung der Juden mit einem Kleiderzeichen befahl und daß er schließlich der widerlichen Kreuzzugsidee bis zur Selbst-, vor allem aber Fremdaufopferung verfallen war - zu alldem kann sich ein kühler Historiker eventuell des Kommentars enthalten. Ein Biograph aber sollte solche Glaubensverbrechen nicht derartig verharmlosen.
Ist also diese Monumentalbiographie eines Nationalheiligen aus der Feder eines Mentalitätshistorikers, der Le Goff im vorigen Jahr ein noch unübersetztes, doch viel übersichtlicheres und gelungeneres Werk über den heiligen Franz von Assisi folgen ließ, ein unfreiwilliges Plädoyer gegen die Lebensbeschreibung an sich? Hätte LeGoff - wie zuvor über Arbeit, Zeit oder das Fegefeuer - hier sein analytisches Wissen ertragreicher auf Frömmigkeitsformen oder Heiligsprechungsprozesse verwenden können? Man darf nicht vergessen, daß zum Beispiel Georges Duby eine bewundernswerte Biographie des französischen Marschalls Guillaume verfaßt hat, die freilich sehr viel stärker, als Le Goff sich dies traut, aus der Innensicht des Protagonisten - und damit im besten Sinne literarischer - geschrieben ist. Bei Passagen über die Krönung des Kindkönigs oder seine selbstquälerische Gebetspraxis bekommt auch die Biographie Ludwigs des Heiligen eine ähnliche Dichte, und der Mann wird erkennbar, den die Geschichte gemacht hat.
Jacques Le Goff: "Ludwig der Heilige". Aus dem Französischen von Grete Osterwald und Jochen Grube. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2000. 996 S., Abb., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jacques Le Goff sucht Ludwig IX. / Von Dirk Schümer
Männer machen Geschichte. Mit keinem anderen Vorurteil über die Vergangenheit hat die Schule der französischen Historiographie, die man "Schule der Annales" nennt, gründlicher aufgeräumt als mit diesem. Ob Kaiser Lothar lobesam an welchem Tag auch immer gegen wen auch immer zu Felde zog, welche dynastischen Verflechtungen zu welchem politischen Ringen führte und wer wann wie oft seine Quisquilien beurkundet hat - solche verkehrten Kernfragen einer angestaubten Wissenschaft wurden unter dem Blick von Fernand Braudel, Georges Duby oder Emmanuel LeRoy Ladurie plötzlich ziemlich unwichtig. Die Mentalitätshistorie wurde von einem großen Publikum verschlungen und veränderte das Studium der Geschichte mit faszinierenden Werken über die historische Geographie des Mittelmeers, über die Denkweise in einem abgelegenen Pyrenäendorf oder über die Mentalität von Rittern im Schlachtgetümmel.
Und dann schreibt der bedeutendste lebende Annales-Historiker, Jacques Le Goff, eine monumentale Studie über das Leben eines französischen Nationalheros. Schon der Titel "Ludwig der Heilige" verspricht wenig Distanz zur dynastischen Mediävistik der Ereignisgeschichte: ein Buch voller Stammbäume, Herrschaftskarten, Zeittafeln rund um den König - das sieht aus wie ein Dementi der "longue durée", der Tiefenströmungen des geschichtlichen Bewußtseins, von denen die Vorstellungswelt unserer Ahnen doch vorgeblich bestimmt wurden. Machen große Männer also doch Geschichte?
Le Goff unternimmt anfangs wenig, diesem monumentalen Eindruck vorzubeugen. Schon die Wahl ausgerechnet des kreuzfahrenden Kapetingers, der keine dreißig Jahre nach seinem Tod vom Papst heiliggesprochen wurde, wirkt wie ein patriotisches Bekenntnis. Außer Johanna von Orléans gibt es keine zweite Figur des französischen Mittelalters, die derart vom Mythos der Nation überwölbt wurde. Obendrein eine katholische Symbolfigur der konservativen "France profonde", ein fürchterlicher Frömmler, der die Inquisition beförderte und wie ein geistesschwacher Lemming zweimal unterm Kreuzeszeichen in den Orient zog, wo er folgerichtig am mediterranen Darminfekt seines von Bußübungen geschwächten Körpers 1270 zugrunde ging - taugt so einer denn für eine Epochenschau, die hinter den Taten die politische Phantasie und hinter den Schlachten die Gefühle freilegen will?
Le Goff kann selbst nicht so genau erklären, warum er seit fünfzehn Jahren ausgerechnet diesem merkwürdigen Monarchen hinterherforscht. Eine Art Fokussierung der Mentalitätshistorie mit ihren Seitenwegen zum Glauben, zur Gestik, zur Kunst auf ein allerdings herausgehobenes Exemplar ist die erklärte Absicht des Buches. Aus der Bündelung der Facetten, die sich mit der neugewonnenen Methodik aus den Quellen erschließen lassen, soll ein Mensch erstehen.
In diesem besonderen Fall kommt erschwerend hinzu, daß die Produktion eines "heiligen" Königs die überlebenden Zeitgenossen wie die Hagiographen zu einem ganz bestimmten Idealbild zwangen, unter deren frommem Schutt der lebendige Ludwig erst einmal hervorzuzerren wäre. Die genüßliche Beschreibung der Leichenfledderei am heiligen Königskörper bis in unser Jahrhundert, die Knochenpolitik der Nachgeborenen also, zählt übrigens zu den schönsten Passagen des Buches. Um den vereinfachenden Lobrednern nicht aufzusitzen, schreibt Le Goff sein Buch als materialreiche Kreisbewegung, als immer neue, immer neu scheiternde Annäherung an sein Objekt, von dem er dann mit ironischer Offenherzigkeit nicht einmal zu sagen weiß: "Hat Ludwig der Heilige überhaupt existiert?" Für den Leser ist dieser epistemologisch begründete Verzicht auf literarische Bündigkeit indes eine Prüfung, denn der Autor zieht es vor, unbeantwortbare Fragen lieber mehrmals zu stellen. Die Uneinheitlichkeit ist offenbar Programm.
Ein Beispiel: Geht es um Ludwigs ersten Kreuzzug nach Palästina, verläßt der Autor den Erzählstrang mit der - angesichts von knapp tausend Seiten Umfang - etwas koketten Bemerkung, die Ereignisse könne man ja andernorts nachlesen. Dafür muß er dann andernorts mehrmals darauf zurückkommen. Zu anderen Komplexen, etwa den Heirats- und Krönungsriten, werden die Leser hingegen ungemein ausführlich informiert. Schreibt Le Goff über die Quellengattung des "Fürstenspiegels", dann gibt's erst einmal eine kundige Einleitung zur Geschichte der Textsorte seit der Spätantike, die jeden Laien überfordern dürfte. Schon Le Goffs Grundidee, den König sozusagen dreizuteilen und ihn nacheinander erst ereignisgeschichtlich, dann im Spiegel der Textproduktion und dann wieder in psychologischer Nahsicht zu präsentieren, leuchtet nicht ein. So muß - und vielleicht war das so beabsichtigt - der Leser sich selbst ein Bild machen, das der Autor so komplett und farbig zu zeichnen sich nicht traute.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Es gibt kaum einen anderen Historiker auf der Welt, der die Quellen und die Literatur des Hochmittelalters besser kennt als Jacques Le Goff. Doch ausgerechnet bei dieser Ikone des Franzosentums hat er sich versagt, was er als Lehrender und Autor mit großer Brillanz zu tun pflegt: deutlich Stellung zu nehmen und die alles Erkennen auflösende Nahsicht aufzugeben. Am Ende, nach immer neuen Annäherungen, sagt er es selbst: "So war ich einer seiner Vertrauten geworden. Dabei war er mir genauso verhaßt, wie ich ihn geliebt habe." Le Goff bilanziert redlich, daß Ludwig keine umwälzenden Taten als Politiker vorschwebten, daß seine präkolonialistischen Kreuzzüge auf klägliche Fehlschläge hinausliefen und daß die fürchterliche Frömmelei und Askese des Herrschers nicht nur vielen Zeitgenossen, sondern am Ende auch Autor und Leserschaft auf die Nerven gehen müssen. Warum also sollte man Ludwig IX., den das politische Interesse der Römischen Kirche einen Heiligen zu nennen für nötig hielt, überhaupt so genau kennenlernen?
Wer die fast tausend Seiten durchgelesen hat, weiß darauf noch weniger eine Antwort als vor der Lektüre. Viel faszinierender als der kränkliche Geist des religiös verblendeten Büßers sind die Hintergründe: Auf welchem Weg konnte es der Frömmigkeit der Bettelmönche gelingen, ihre endzeitliche und masochistische Lebensweise den Herrschern des reichsten Gebiets der Christenheit aufzuzwingen? Wie gehen in Ludwig lebensfeindliche Askese und die neue Lebensfreude des ritterlichen Hochmittelalters zusammen? Le Goff findet hier zur treffenden Formulierung, sein König sei "ein heiliger Franziskus unter den Laien" gewesen. Und wie verhält sich zu dieser Indoktrination von Büßern das Rittertum selbst, das in Ludwigs direktem Umkreis durch Jean de Joinville, den vielleicht grandiosesten und originellsten Biographen des Mittelalters, vertreten ist? In den zahlreichen Passagen über das Verhältnis zwischen diesem Seneschall aus der Champagne und seinem Monarchen mag auch Le Goff nicht verhehlen, daß Joinville die weitaus stärker schillernde Persönlichkeit ist. Solche Aspekte, die freilich die Biographie vollends in epistemologische Bestandteile zersprengt hätten, finden sich allerorten, und es verrät die Spürnase und vielleicht die Großmut des großen Historikers, derartige Aspekte anzusprechen, ohne sie dann aber auszuführen.
Das Wissen über den Menschen Ludwig, das dieses Buch liefert, bleibt notwendig im Rahmen dessen, was die kargen Quellen - Joinville zuvörderst - durchblicken lassen. Doch um zu wissen oder besser: für möglich zu halten, daß Ludwig ein Muttersöhnchen der unausstehlichen Blanka von Kastilien war, daß er seine Frau nachlässig bis verächtlich behandelte, daß er viel Wasser in den Wein mischte, gerne auf dem Boden saß, früh grauhaarig und durch eine ausgefeilte Fastenkasuistik abgezehrt war, daß er Mittagsschlaf hielt, daß er die Jagd ablehnte und sogar beim Reiten die mönchischen Messen zur Gliederung des Tagesablaufs singen ließ - benötigen wir keine ausufernde historiographische Reflexion.
Das Buch ist am bündigsten und besten merkwürdigerweise nicht, wo es auf die Gesten und den Glauben, die Rituale und das Selbstgefühl der mittelalterlichen Menschen oder gar Ludwigs persönlich zu sprechen kommt, sondern bei der politischen Geschichte. Es gelingt Le Goff meisterlich, hinter der gewollten und postum noch verstärkten Fassade des Heiligen den schlauen Politiker ausfindig zu machen. Denn wie fromm und papsttreu Ludwigs politisches Handeln auch immer war, letztlich gebührte der Stärkung des französischen Königtums stets der Vorrang. Wie Ludwig seinen Königsbeamten, den Baillis, eine fast schon preußische Disziplin abverlangt und damit die Bürokratur der juristischen Experten, die das Land bis heute regieren, entscheidend voranbringt; wie er den englischen König zum Lehnsmann macht und damit die territoriale Einheit dessen, was später Nation werden sollte, präfiguriert; und wie er mit Münzpolitik und Lehnsrecht alle "ausländischen" Rechtsbarkeiten aus einem Frankreich verdrängt, das er damit erst gestaltet - das alles bringt ihm den verdienten Titel eines französischen Staatsheiligen ein. Zum guten Schluß wird Ludwig, der die Königsgrablege in Saint-Denis pompös ausgestalten und fortan zum exklusiven Gedächtnisort der Monarchen machen sollte, zum visionären Propagandisten der Sakralität der französischen Nation, nicht mehr bloß der Dynastie - eine Tradition, die bis hin zum Königspräsidenten Mitterrand und seinen sentimentalen Bild-Inszenierungen reicht.
Merkwürdig bleibt aber auch hier, wieso Le Goff die Verirrungen im Namen von Kapetingerstaat und Papstreligion nicht kecker beim Namen nennt. Der Historiker mit europäischem Horizont wird doch nicht selbst unter die Patrioten gegangen sein? Die Furcht des Nachgeborenen, die Vorstellungswelt unserer Ahnen mit den heutigen Begriffen abzuurteilen, in allen Ehren - aber daß unter Ludwigs Befehl, während er sich dabei allenfalls als Schlächter zurückhielt, die Albigenserkreuzzüge zur Unterwerfung der okzitanischen Kultur und zur gewaltsamen Ausrottung der Katharer vollendet wurden, daß der König die Massenmorde der ersten Inquisitoren beförderte und das Verbrennen des Talmuds sowie die Markierung der Juden mit einem Kleiderzeichen befahl und daß er schließlich der widerlichen Kreuzzugsidee bis zur Selbst-, vor allem aber Fremdaufopferung verfallen war - zu alldem kann sich ein kühler Historiker eventuell des Kommentars enthalten. Ein Biograph aber sollte solche Glaubensverbrechen nicht derartig verharmlosen.
Ist also diese Monumentalbiographie eines Nationalheiligen aus der Feder eines Mentalitätshistorikers, der Le Goff im vorigen Jahr ein noch unübersetztes, doch viel übersichtlicheres und gelungeneres Werk über den heiligen Franz von Assisi folgen ließ, ein unfreiwilliges Plädoyer gegen die Lebensbeschreibung an sich? Hätte LeGoff - wie zuvor über Arbeit, Zeit oder das Fegefeuer - hier sein analytisches Wissen ertragreicher auf Frömmigkeitsformen oder Heiligsprechungsprozesse verwenden können? Man darf nicht vergessen, daß zum Beispiel Georges Duby eine bewundernswerte Biographie des französischen Marschalls Guillaume verfaßt hat, die freilich sehr viel stärker, als Le Goff sich dies traut, aus der Innensicht des Protagonisten - und damit im besten Sinne literarischer - geschrieben ist. Bei Passagen über die Krönung des Kindkönigs oder seine selbstquälerische Gebetspraxis bekommt auch die Biographie Ludwigs des Heiligen eine ähnliche Dichte, und der Mann wird erkennbar, den die Geschichte gemacht hat.
Jacques Le Goff: "Ludwig der Heilige". Aus dem Französischen von Grete Osterwald und Jochen Grube. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2000. 996 S., Abb., geb., 98,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Bernd Schneidmüller preist die fast tausend Seiten umfassende Biografie des französischen Mittelalter-Experten Jacques Le Goff über Ludwig den Heiligen als "Glücksfall" des Biografen für sein Objekt und des Dargestellten für seinen Biografen. Ludwig IX. von Frankreich (1226-1270) gelte als Ausnahmeerscheinung unter den französischen Königen. Er sei als Herrscher modern, neugierig und besonders religiös gewesen mit großem Interesse an den neuen Bettelorden. Doch sei seine Religiosität auch in Fanatismus umgeschlagen. Zweimal habe Ludwig als letzter westlicher König desaströse Kreuzzüge ins Heilige Land angeführt. Le Goff müsse nun die Patina der Verklärung abtragen, die durch die Heiligsprechung und die Geschichtsschreibung seit dem 13. Jahrhundert entstanden sei, schreibt der Rezensent. In einem ersten Teil erzähle Le Goff "chronologisch brav gegliedert" aber "spannend", "brillant" und "vorzüglich übersetzt" das Leben Ludwigs, immer ausgehend von einer "radikalen Kritik" an der Objektivität seiner Darstellung. Im zweiten Teil verwandele der Historiker die Quellenkritik "listig ... in eine Kür".
© Perlentaucher Medien GmbH
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