Produktdetails
  • Ullstein Taschenbuch
  • Verlag: Ullstein TB
  • Abmessung: 43mm x 127mm x 187mm
  • Gewicht: 606g
  • ISBN-13: 9783548265360
  • Artikelnr.: 23980739
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.1996

Ludwig Erhard und das Wirtschaftswunder im Zerrspiegel eines Historikers
Kritische Anmerkungen zu einer neuen Biographie / Von Fritz Ullrich Fack

Schon zu seinen Lebzeiten begleiteten Ludwig Erhard, den ersten und bedeutendsten Wirtschaftsminister der alten Bundesrepublik, brausender Beifall und heftige Kritik, wann immer er auftrat, was immer er tat oder sagte. Damit muß ein aktiver Politiker leben, um so mehr, wenn einer so nachdrücklich ins Rampenlicht der Öffentlichkeit tritt, wie Erhard dies (bewußt) tat, und wenn jemand wirtschaftspolitisch so stark gestaltend, formend und verändernd tätig wird, wie er es war.

Die Soziale Marktwirtschaft, die Erhard im Jahr 1948 etablierte und dann großzog, hat die westdeutsche Wirtschaft und mit ihr die Nachkriegsgesellschaft im Westen in der Tat grundlegend verändert. Nicht nur, daß sie ererbte und tradierte wirtschaftliche Positionen aufbrach und Besitzstände veränderte. Sie hat über den Wettbewerb auch eine ungeheure Dynamik freigesetzt, nicht zuletzt eine soziale Dynamik, wie man sie bis dahin nicht kannte. Sie brachte einen ungewohnt starken Zug in den Kamin einer ehedem arg verkrusteten Industriegesellschaft. Das erklärt die Stärke von Beifall und Kritik bei den Betroffenen, je nachdem, wie sie von den Ergebnissen dieses sozio-topographischen Bebens betroffen waren. Aber es war immer eine, soweit man sich erinnern kann, von Respekt getragene Kritik.

Für den Autor einer neuen Erhard-Biographie, Volker Hentschel, einen Wirtschaftshistoriker vom Jahrgang 1944 aus Mainz, hat dieses Beben entweder gar nicht stattgefunden, oder es bleibt schemenhaft. Auf jeden Fall aber ist es vielen Kräften zuzuschreiben, und Ludwig Erhard spielt bei ihm eine eher bescheidene Rolle. Denn er hat nach dieser Lesart eigentlich nur den Startschuß für den Aufbruch gegeben, als er 1948 die Währungsreform unter Aufsicht der Militärgouverneure ins Werk setzte und sie mit der jähen Aufhebung von Rationierung und Zuteilung, von Bezugscheinen und Bewirtschaftung, verband.

Im übrigen aber war Erhard, folgt man Hentschel, ein eher zweifelhaftes Genie von erheblicher Tölpelhaftigkeit, einer, der sich gern selbst überschätzte und sich oft an seinen Aufgaben überhob, ein Mann zudem, der es verstand, "sein ideologisch-politisches Mäntelchen richtig in den Wind zu hängen . . . und mit seinem begnadeten Talent zum Populismus . . . Zuversicht als Tatkraft, Repräsentieren als Machen und die Gunst der Umstände als persönlichen Erfolg erscheinen zu lassen". Das ist der Grundton, der gleich zu Anfang des Buches, auf Seite 38, angeschlagen wird und der bei allen weiteren Erörterungen auf den insgesamt 700 Seiten mitschwingt. Schon der mokante Untertitel "Ein Politikerleben" deutet in diese Richtung. Ein Mann dieser Art war natürlich auch zu profunder wissenschaftlicher Arbeit kaum fähig, zu schweigen von seinen Reden, die zumeist von bemitleidenswerter Unklarheit waren. Soweit Hentschel.

Es ist ein groteskes Zerrbild, das der von unverhohlener Abneigung gegen sein Studienobjekt erfüllte Autor da Seite um Seite entwirft, mit Häme übergossen, polemisch und verletzend. Hentschel ist darauf bedacht, die Leistungen Erhards zu minimieren und seine Fehlleistungen, die es natürlich und unbestreitbar auch gegeben hat, zu maximieren. Es ist, mit einem Wort, das Werk eines Ungerechten. Es erscheint ein knappes halbes Jahr vor dem hundertsten Geburtstag Erhards am 4. Februar 1997 und will, wie es im Klappentext heißt, Abschied vom "Mythos Erhard" nehmen.

Hentschel imponieren Machtmenschen wie Adenauer oder Strauß, die von ihrer Macht rücksichtslos Gebrauch machen, andere kujonieren und demütigen, wenn diese sich das gefallen lassen. Erhard gehörte zu denen, die sich dergleichen antun ließen, nicht immer und nicht prinzipiell, aber jedenfalls im Verhältnis zu Adenauer, der für ihn - wegen des Generationenabstands - eine Art Übervater war, ausgestattet zudem mit der Amtsautorität des Kanzlers, und das bedeutete für Erhard viel. Es bewirkte immer wieder eine Art Beißhemmung, über die sich schon die Zeitgenossen geärgert haben und über die sich Hentschel anhaltend belustigt, ohne die nachvollziehbaren Gründe dafür gerecht abzuwägen. So bleibt Adenauer noch in den übelsten Fehlleistungen seines amtlichen Waltens eine Lichtgestalt, Erhard hingegen ein notorischer Schwächling, der sein Handeln überdies nicht an "politischen Zielen" wie der gepriesene Adenauer, sondern an mehr oder minder validen Dogmen orientiert und in entscheidenden Momenten, etwa in der Auseinandersetzung mit de Gaulle, "ahnungs- und besinnungslos" daherredet.

Diesem Zerrbild widerspricht es nicht wenig, wenn eine große ausländische Zeitung wie "Svenska Dagbladet" sich über einen Auftritt Erhards in Stockholm begeistert zeigt und ihn freimütig, schlagfertig und humorvoll nennt, "eine gute Werbung für sein Land". Der Autor registriert dies eher grämlich und achselzuckend. Ins Buch ist dieses positive zeitgenössische Urteil auch nur geraten, weil Hentschel sich über Erhard mokiert, der Adenauer in seinem Rechtfertigungsbedürfnis - und daß dieses niemals aufhörte, dafür sorgte der Alte in einer Kaskade von bösen Briefen an Erhard - das freundliche schwedische Urteil zugänglich gemacht hatte. Über vergleichbare Stimmen in den Akten schweigt der Autor, denn das wäre kontraproduktiv. Daß er solche gefunden hat, steht nach Lage der Dinge außer Frage.

Die ungleich gerechtere Erhard-Biographie des amerikanischen Journalisten Jesse Lukomski von 1965 (seinerzeit Bonner Korrespondent des Journal of Commerce), geschrieben aus der Zeit und dem persönlichen Erleben des Autors, zeichnet ein ganz anderes Bild des Wirtschaftsministers. Sie enthält andere, absolut plausibel klingende und für jedermann verständliche Zitate aus Erhards Reden und kommt insgesamt zu anderen Schlüssen, was Erhards amtliches Handeln und öffentliches Wirken angeht. Lukomski ist kein Lobhudler, sondern ein genauer Beobachter, der seinen amerikanischen Lesern auch die Schwächen des Wirtschaftsministers und späteren Kanzlers nicht verschweigt. Ein Kapitel seines Buches handelt beispielsweise vom "Gummilöwen" Erhard und ist dem zuvor erörterten Verhältnis zu Adenauer kritisch gewidmet.

Wie anders auch, muß man fragen, hätte Erhard, vom niederschmetternden Ende als Kanzler abgesehen, politisch bestehen, wie anders hätte er seine gewaltige öffentliche Wirksamkeit entfalten, wie seine Wahlerfolge erringen können, die auch von Hentschel nicht bestritten werden? Wie anders hätte er ein großes, intellektuell überaus lebendiges Ministerium führen und imponierende Mitarbeiter wie Westrick, Müller-Armack, Meyer-Cording, Langer, Kattenstroth oder Risse an sich binden und für sich einnehmen können? Insonderheit: Wie hätte ihm das bei Ludger Westrick gelingen können, der ihm einst von Adenauer als Staatssekretär aufgenötigt worden war und sich zu einem seiner treuesten und loyalsten Mitstreiter entwickelte - bis ins Kanzleramt als "Kanzleramtsminister" unter Erhard?

Zu Freundschaften

durchaus fähig

Wie anders auch hätte er sich 1948 gegen die Militärgouverneure und ihre Berater durchsetzen können, die der unvermuteten und riskanten Aufhebung der Bewirtschaftung zunächst heftig widersprachen, bis Erhard den amerikanischen General Clay zu Hilfe rief und dieser im Vertrauen auf Erhard - mehr war es nicht - begütigend eingriff? (Genauer Hergang nur bei Lukomski nachzulesen, bei Hentschel zweckgerecht verkürzt.) Übrigens entstand daraus eine lebenslange Freundschaft zu Lucius D. Clay, dokumentiert in vielen Briefen, was nebenbei eine andere Behauptung Hentschels widerlegt, daß nämlich Erhard zu Freundschaften nicht fähig gewesen sei.

Wie hemmungslos der Autor über Menschen herzieht, mögen zwei Beispiele illustrieren. Fritz Schäffer (CSU), den verdienstvollen ersten Finanzminister der Bundesrepublik, nennt er höhnisch "ein leptosomes Männlein mit scharfen Zügen und ebensolchem Verstand, das am Ende der Weimarer Republik die Bayerische Volkspartei geführt . . ., sich's mit den Nazis aber verdorben hatte und deshalb zeitweise ins KZ Dachau verbracht worden war". Soviel geballten Zynismus wird man nicht gleich wiederfinden. Und über Erhards langjährige enge Mitarbeiter Langer, Hohmann und Seibt notiert er: "Drei Männer in ihren Vierzigern, alert, ehrgeizig und effizient . . ., hingebungsvoll, ehrerbietig und um Schmeicheleien nie verlegen, ohne Anspruch auf intellektuelle Eigenständigkeit als Ökonomen und politisch ohne Statur . . ., ohne Erhard unbeachtlich." Als Ökonomen Nieten, soll das wohl heißen - wie kommt einer zu soviel Überheblichkeit?

Der Autor hat offenkundig keine blasse Ahnung, wie es im Wirtschaftsministerium damals jenseits der Aktenvorgänge tatsächlich zuging. Also beispielsweise: wer die wirtschaftspolitischen Konzeptionen entwarf, wer mit Erhard zusammen die Kartell- und Wettbewerbspolitik, die Energiepolitik, den Kampf erst um die Konvertibilität, dann um die Aufwertung der D-Mark und um die Liberalisierung des Außenhandels führte. Er hat keine Ahnung, wer Ludwig Kattenstroth war, kennt nicht dessen in Bonn ziemlich einmalige Pflanzschule für hochtalentierte Beamte, die später aus dem Wirtschaftsministerium in Spitzenpositionen aller Regierungsressorts aufgerückt sind. Er kennt auch Wolfram Langer nur aus den Akten und hat wiederum keine Ahnung, was dieser Mann für die ministerielle Grundsatzarbeit nicht nur in der Aufwertungsfrage, sondern vor allem auch in der Konjunktur- sowie in der Kartell- und Wettbewerbspolitik bedeutete.

Ein Ordnungspolitiker

gegen Realpolitiker

Bei soviel Ignoranz nimmt es nicht wunder, daß Hentschel Erhards Wirken als Wirtschaftsminister schon 1955 für faktisch beendet erklärt: "Nicht mehr Antrieb und Gestaltung, sondern nur noch Abwarten und Abwehr" seien sein Metier gewesen. Das unsinnige Verdikt wird für 1958 und die folgenden Jahre wiederholt: Nun habe Erhard endgültig jenen Zustand erreicht, der seinen beiden Gegnern, dem Industriellen Otto A. Friedrich und dem Bankier Hermann Josef Abs, von jeher der liebste gewesen sei - der des Zuschauens und Treibenlassens, weil er damit am wenigsten habe verderben können.

Hentschel schraubt die Dramatik der damals geführten ordnungspolitischen Auseinandersetzungen mit Bedacht herunter und stellt Erhard schon sozusagen "auf Null" (was Adenauer gelegentlich gegenüber Dritten zu seinem Ziel erklärt hat), weil er seine These stützen muß, Erhard habe in der Wirtschaftspolitik fortan nichts mehr bewirkt. Und das bezogen auf die Jahre nach 1955 und 1958, in denen der Kampf um die Zechenstillegungen an der Ruhr, um die allmähliche Liberalisierung des Mineralölmarkts, um die Europa-Politik, um die Präsidentschaft des neugegründeten Kartellamts, um die wiederholten konjunkturpolitischen Zollsenkungen und schließlich um die Aufwertung der D-Mark voll entbrannt war. Nicht zu vergessen das Bundesbankgesetz, das ebenfalls in dieser Zeit, nämlich 1957, zusammen mit dem Kartellgesetz endlich die letzten parlamentarischen Hürden nahm, natürlich abermals gegen den Widerstand Adenauers und im Falle der Bundesbank auch gegen den Schäffers, die beide mehr Regierungseinfluß auf die neue Zentralbank verlangten.

Wer schlug in allen diesen Fällen die ordnungspolitische Klinge? Natürlich Ludwig Erhard, der sich am Ende auch beim Kartellgesetz nur deshalb gegen Adenauer, große Teile der CDU und gegen die Industrieverbände unter Führung von Fritz Berg durchsetzen konnte (mit deutlichen Substanzverlusten), weil im Herbst 1957 Bundestagswahlen anstanden und die CDU ihren besten und zugkräftigsten Wahlkämpfer nicht länger hängenlassen konnte, wie sie es jahrelang getan hatte. Wer diese Kämpfe miterlebt hat, wird ihre Dramatik so schnell nicht vergessen. Nicht ein Wort verliert Hentschel darüber, daß Erhard (seinen "Dogmen" folgend) in diesen ordnungspolitischen Auseinandersetzungen immer wieder auf der Seite des Grundgesetzes und dessen Auftrags - ein System von checks and balances mit institutionell gesicherten Garantien zu schaffen - gestanden hat, Adenauer und seine verbündeten Realpolitiker aber ebenso konsequent auf der Gegenseite, für Einflüsterungen von Interessenten und Lobbyisten nur allzuoft offen wie ein Scheunentor.

Schließlich, was die Frage von Handeln oder Treibenlassen angeht: Auch aus dem Innen- oder Finanzministerium kommt nicht jedes Jahr eine Kommunal- oder Steuerreform. Zu den Taten können auch Verweigerungen zählen, wenn zum Beispiel das Wirtschaftsministerium sich konsequent weigerte, dem Kartellamt mit ministeriellen Sondergenehmigungen für obskure Krisenkartelle oder für in Berlin abgelehnte Kartelle in den Rücken zu fallen, wie die Industrie damals hoffte und was sie auch probierte. Das war mit Erhard nicht zu machen. Oder wenn die deutschen Zinkhütten mit ihrem dringenden Subventionsbegehren aufliefen, obwohl mächtige Fürsprecher verlangten, den Verfall der Weltmarktpreise für Zink zu kompensieren. Auch da blieb das Wirtschaftsministerium fest. Keine Wirtschaftspolitik? Tatenlosigkeit? Vielleicht für Abs oder Friedrich. Fritz Berg hätte als Betroffener darauf vermutlich schon anders geantwortet.

Für Hentschel hingegen steht fest, daß Erhard, der "Mann mit dem Unfehlbarkeitsdünkel", Ende 1955, hilfsweise Ende 1958, "am Ende seines wirtschaftspolitischen Weges angelangt (war)". Was dann noch geschah, sei wirtschaftspolitisch unerheblich gewesen, also zum Beispiel auch die erste Aufwertung der D-Mark (Februar 1961), eine monatelange wirtschaftspolitische Schlacht von hohen Graden, bei der Adenauer, Abs und Berg wie üblich auf der Gegenseite standen, mit Bonner Pressekonferenzen der beiden Letztgenannten, die es in der Herabwürdigung Erhardscher Politik in sich hatten. Das Ende geht dann (bei Hentschel) ganz locker vonstatten: Etzel, Erhard, Blessing und Pferdmenges marschieren zu Adenauer und "überreden ihn mit vorwiegend politischen Argumenten". Na, und dann machte man die Aufwertung eben, so einfach war das. Kein wirtschaftspolitischer Sieg Erhards, bewahre. Vielmehr eine jener seltsamen, schwer erklärlichen Folgen seiner, um es auf Hentschels Stereotype zu bringen, notorischen Tatenlosigkeit.

Natürlich war das Ende des Aufwertungsstreits nicht so locker dahergekommen, wie der Autor dies glauben machen will. Erhard hatte sich mit jener Hartnäckigkeit für seine Sache eingesetzt, die auch Hentschel, wenn es ihm ausnahmsweise in den Kram paßt, nicht bestreitet. Außerdem standen im Herbst 1961 wieder Bundestagswahlen an, und Adenauer mochte Stimmenverluste für die CDU befürchtet haben, wenn er sich in dieser von der Öffentlichkeit als wichtig erachteten Sache weiter querlegte. Denn dies räumt auch Hentschel ein: Die CDU "riß sich um ihn als Wahlkämpfer", auch 1961 wieder. Warum wohl? Weil er politisch so ruhm- und tatenlos war, konfuse und schwer verständliche Reden hielt? Wohl kaum.

Wer je mit Erhard auf den Marktplätzen der alten Republik gestanden hat, der begriff anhand der Reaktionen aus dem Publikum rasch, weshalb die Partei so scharf auf den Wahlkämpfer Erhard war. Die Plätze waren voll, die Ovationen stürmisch. Er redete deftig, oft polemisch-zugespitzt, und den Leuten (die dort standen) gefiel das. Akademische Lektionen waren das nicht. Aber man spürte, die Reden machten Eindruck, auch wenn man selbst die nach Tagesbedürfnissen nur wenig variierte Rede nicht mehr hören konnte. Aber so geht es halt zu im Wahlkampf. Über achtzig solcher Wahlveranstaltungen absolvierte Erhard in den Wahljahren, in der Regel mehr als jeder andere der Großen in der CDU. Hentschel bestätigt es.

Und trotzdem hatte Erhard außerhalb der Wahlzeiten nur einen schwachen Rückhalt in der CDU. Deutliche Unterstützung erfuhr er zumeist nur von Kurt Schmückers Mittelstandsvereinigung (bei Hentschel nicht erwähnt), deren Gewicht in der Partei gering, in der Bundestagsfraktion dagegen nicht unbeachtlich war, weil Schmückers Leute die Trommel zu rühren verstanden. Hentschel führt den geringen Rückhalt ausschließlich auf Erhards eigenbrötlerisches Naturell (da ist etwas dran) und auf seine Egomanie zurück. Hier hätte sich zur Erklärung freilich auch eine parteisoziologische Untersuchung angeboten, die der Autor schuldig bleibt. Da hätte man sich intensiv mit den ideologischen Wurzeln der Partei, mit der rheinisch-katholischen Färbung von Adenauers Personalpolitik, mit der besonderen Rolle der Sozialausschüsse und mit manchen anderen strukturellen Besonderheiten auseinandersetzen müssen, die nicht in den Akten stehen.

Gegen Ende des Buches geht Hentschel mit seinem Studienobjekt ein wenig taktvoller um. Die Ereignisse bedürfen nicht mehr der Schwarzfärbung, das politische Ende des Kanzlers Erhard sprach für sich selbst. Diese Zeit haben auch seine Freunde, man kann es vielfach nachlesen, in bedrückender Erinnerung. Trotzdem bleibt zu fragen, ob wirklich alles so falsch war, was er damals politisch wollte und in die Tat umzusetzen versuchte - natürlich wieder gegen den mit großer Mühe aus dem Amt entfernten Adenauer, den gleichfalls (im Gefolge der "Spiegel"-Affäre) seiner Ämter beraubten Strauß, gegen Krone, Gerstenmaier und wie die damaligen Männer von Einfluß sonst noch hießen.

De Gaulles Politik

war ihm immer zuwider

Der Autor ergreift im Sinne Adenauers außenpolitisch Partei für die Frankreich-Orientierung, für den Anfang 1962 abgeschlossenen Élysée-Vertrag und für die Hinwendung zu de Gaulle, mindestens für ein Spiel mit mehreren Kugeln, das die Amerikaner im Umgang mit den Deutschen zur Vorsicht gemahnt hätte. Adenauer, das ist richtig, war darin Meister gewesen, hatte allerdings aus Paris auch manche Züchtigung (selbst noch kurz vor dem Élysée-Vertrag) hinnehmen müssen. Erhard konnte und wollte dieses Schaukelspiel nicht fortsetzen, er war für klare Verhältnisse. Und die sprachen in seinen Augen für einen mindestens in der Akzentuierung proamerikanischen Kurs (Atlantiker im Gegensatz zu Gaullisten nannte man das damals).

Die weitere Entwicklung hat ihm unrecht und recht zugleich gegeben. Unrecht insofern (und kurzfristig), als Kennedys Nachfolger Lyndon Johnson, die Gunst des deutschen Wandels nutzend, sogleich die Schraube gegen die Bundesrepublik anzog und Bonn mit allerlei schwer erfüllbaren Forderungen (Devisenausgleich für die Stationierungskosten, erleichterter Marktzugang für amerikanische Agrarprodukte in der EWG und anderes) konfrontierte. Recht insofern (und langfristig), als nicht Frankreich die deutsche Wiedervereinigung 1990 aktiv unterstützte (Mitterrand fuhr wie erinnerlich nach Kiew, um Gorbatschow vom Schlimmsten abzubringen), sondern Amerika in Gestalt des Präsidenten George Bush. Hentschel hingegen beharrt darauf, daß jedenfalls unter den damaligen Verhältnissen de Gaulle am ehesten für deutsche Wiedervereinigungsbestrebungen zu gewinnen gewesen wäre. Verbal vielleicht; die Probe aufs Exempel wurde nie gemacht.

Erhard und Schröder, den Hentschel in seiner typischen Polemik Erhards "vorgesetzten Außenminister" nennt, setzten 1963 jedenfalls auf die amerikanische Karte, was man nach den ständigen Berlin-Krisen, den einschlägigen Drohungen Chruschtschows, dem Mauerbau (1961) und den Kräfteverhältnissen in der Welt, speziell Frankreichs nur auf dem Reißbrett existierender Force de Frappe, gut verstehen konnte. Schließlich strotzte Frankreich auch wirtschaftlich nicht gerade vor Stärke. Es war protektionistisch, etatistisch, hatte eine schwache, anlehnungsbedürftige Währung, aber große und starke, wenn auch häufig defizitäre Staatsunternehmen, hielt von Marktwirtschaft nur wenig, dafür von planification um so mehr, und schien den Deutschen zur Stunde vor allem deshalb so überaus gewogen, weil ein Mitzahler für die Atomrüstung gesucht wurde. Von Mitbestimmung beim Einsatz dieser Waffen war dann freilich nicht die Rede. Gelegentlich drohte Frankreich, wenn ihm politisch etwas nicht paßte, die EWG zu verlassen oder in Brüssel zumindest eine "Politik des leeren Stuhls" zu betreiben, womit es in der Nato schließlich auch Ernst machte. Und das Regime de Gaulles, ständig auf die Mehrung von Frankreichs Größe, Gewicht und Ansehen in der Welt bedacht, eifersüchtig auf Amerika, überdrehte die Schraube noch auf seine eigene Weise.

Daß Erhard dies alles im Herzen zuwider war, liegt auf der Hand. Daß er dennoch falsch handelte, als er im Verein mit Schröder (und nicht "unter diesem") Frankreich die kalte Schulter zeigte, hat die Geschichte erwiesen; davon ist nichts abzustreichen. Und es war dies auch die letzte Ursache seines Scheiterns als Kanzler: Von Amerika politisch und finanziell bedrängt, zugleich um die Hoffnung auf die von Washington lange Zeit favorisierte, plötzlich aber fallengelassene Multilaterale Atomstreitmacht (MLF) betrogen - sie hätte den Deutschen, wenn schon nicht die Teilhabe, so doch die Mitverfügung über den Einsatz dieser Waffen gebracht -, war er den Angriffen von Adenauer, Strauß und Konsorten fast wehrlos preisgegeben. Innenpolitisch zudem ohne Erfolge, haushaltspolitisch arg bedrängt, wirkte er am Ende enttäuscht, gejagt, erschöpft und kraftlos, wie es bei einer Serie von Mißerfolgen zu gehen pflegt. Die Macht zerrann, das Ende war nicht mehr aufzuhalten. Eine große Koalition unter Kiesinger löste nach wochenlanger Krise im November/Dezember 1965 das "alte Regime" ab.

Hentschel schildert das Ende mit jener Detailverliebtheit, die dem ganzen Buch eigen ist und wohl vom extensiven Gebrauch von Akten, Archiven und Erinnerungen Dritter herrührt. Das ist ihm nicht vorzuwerfen; im Falle Erhards freilich wäre solche Weitschweifigkeit natürlich höchst anstößig gewesen. Tatsächlich fördern die Akten manche Erkenntnis und manchen Schriftwechsel zutage, die bisher nicht bekannt waren, den Ereignissen aber interessante Lichter aufsetzen. Der flüssige, gut lesbare Stil macht manche Weitschweifigkeit wett. Anstößig und peinlich sind und bleiben hingegen die Voreingenommenheit und die Überheblichkeit, mit denen der Autor nicht nur die Hauptfigur, sondern auch zahlreiche Nebenfiguren traktiert. Ungewöhnlich und unpassend für einen Historiker ist auch der herablassende, mokante Ton, den er des öfteren anschlägt.

Ludwig Erhards Lebensleistung hätte eine solidere und gerechtere Würdigung verdient. Hentschel läßt sie ihm nicht zukommen. Nicht einmal geschichtliche Größe erkennt er ihm zu. Die Mehrheit der Deutschen hat ihn anders in Erinnerung: als eine große, aber tragische Gestalt. Es ist das Bild, das vor der Geschichte letztlich Bestand haben wird.

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