Ludwig Wittgenstein ist einer der großen europäischen Philosophen und einer der wichtigsten dieses Jahrhunderts. Wenige Denker interessieren und faszinieren so wie er nicht nur Philosophen. Seine Werke gehören über den Textbestand der Philosophie hinaus zur Weltliteratur. Sie beeinflußten Literaten, Künstler, Psychologen und Sozialwissenschaftler. Dabei sind seine Schriften alles andere als populär geschrieben. Wittgenstein ging weder in seinem Leben noch in seinem Schreiben Kompromisse ein. Er war für das Einfache, aber nicht für Vereinfachungen. Die Reinheit und Klarheit seines Denkens bannt seine Leser, vereinnahmt sie aber nicht. Er bleibt auf Distanz und fordert dazu auf, selbst nachzudenken. Nichts, was aber durch die eigene Arbeit an seinen Texten rasch verständlich. Manches erscheint leicht und klar, erweist sich aber als schwer. Aus beiden Gründen können wir von seinen Büchern mehr lernen als aus den meisten Lehrbüchern der Philosophie.
Wilhelm Vossenkuhl führt indas gesamte Denken Wittgensteins ein und macht sich dabei auch bisher nur teilweise veröffentlichte Manuskripte zunutze.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.1995Durchs Wittgensteiner Ländchen
Auf Wilhelm Vossenkuhl als philosophischen Reiseführer ist Verlaß / Von Matthias Kroß
Ludwig Wittgenstein ist neben Nietzsche und Heidegger einer der großen philosophischen Therapeuten unseres Jahrhunderts. Die Faszination, die von seinem überwiegend erst postum veröffentlichten, fragmentarischen Lebenswerk ausgeht, hat mit der Radikalität zu tun, mit der er versucht, philosophische Fragen zum Verschwinden zu bringen, und, wie es in einer seiner berühmt gewordenen Formulierungen heißt, "der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas" zu zeigen.
Freilich dürfte es vielen Lesern schwerfallen, sich überhaupt erst einmal in dem Labyrinth Wittgensteinscher Gedankengänge und ihrer Deutungsmöglichkeiten zurechtzufinden. Denn obwohl sich der Sprachphilosoph zeit seines Lebens um Klarheit bemühte, geben seine Texte doch immer neue Rätsel auf und provozieren die verschiedensten Interpretationen. Die Zahl der kommentierenden Arbeiten über Wittgenstein geht mittlerweile in die Zehntausende.
Daß es dem Münchner Philosophen Wilhelm Vossenkuhl gelungen ist, in seiner Einführung nicht nur alle wichtigen Aspekte des Werkes Wittgensteins klar und einsichtig auch für den Laien darzustellen, sondern auch noch dem Leser einen Ariadnefaden durch den Irrgarten der philosophischen Aphorismen zu spannen, ist eine Meisterleistung. Vossenkuhls Stil ist unakademisch, Zitate sind sparsam und sinnvoll gewählt, im Text setzt er sich nur sparsam mit der Sekundärliteratur auseinander. Durchaus konventionell beginnt er seine Ausführungen mit einer knappen Skizze der philosophischen Ausgangslage und des akademischen Lebensweges des österreichischen Philosophen. Dabei führt er den Leser auf die zentralen Fragestellungen hin, die Wittgenstein lebenslang beschäftigt haben.
Es wird einsichtig, daß zwischen dem Frühwerk, dem "Tractatus logico-philosophicus", und dem Spätwerk, das um die "Philosophischen Untersuchungen" kreist, kein Bruch, sondern nur eine Differenz der Perspektive besteht. Vossenkuhl stellt daher sein Traktat-Kapitel unter die Überschrift "Logische Grundlagen", denn die Grundthese der Frühschrift, daß über das Verhältnis von Logik und Sprache zu der Wirklichkeit nichts sinnvoll ausgesagt werden könne, bildet die gleichbleibende logische Voraussetzung für alle späteren sprachphilosophischen Studien. Diese oszillieren um die stets gleichen konzeptuellen Gravitationszentren: um den Begriff des Befolgens von Regeln, um die Grundlagen der Mathematik sowie um die Philosophie der Psychologie.
Mehr noch als durch die Inhaltsangaben zu den wichtigsten Schriften besticht Vossenkuhl durch seine Ausführungen zu Wittgensteins Solipsismus. Vossenkuhl hat das entsprechende Kapitel wohl nicht ohne dramaturgischen Bedacht und kompositorische Eleganz als siebtes (analog zur Satzzahl des "Traktatus") in die Mitte seines Buches gesetzt. In der Tat dürfte der laut Vossenkuhl "metaphysische" (Frühphilosophie) beziehungsweise der "grammatische Solipsismus" (Spätschriften) Wittgensteins das philosophische Scharnier darstellen, um das sich alle seine Gedanken gedreht haben dürften.
Vossenkuhl gelingt es, die nicht unbeträchtlichen Interpretationsschwierigkeiten weitgehend auszuräumen, die gerade dieser Solipsismus-Begriff in der bisherigen Werkdeutung aufgeworfen hat. Mit Vossenkuhls neuartiger Solipsismus-Interpretation verfügt der Leser zugleich über den Schlüssel, um jene Schlösser zu öffnen, die vor Wittgensteins eigenwilliger Anthropologie, Kulturphilosophie und seinen bekennerhaften Notizen zu Religion und Ethik zu hängen scheinen - Aspekte des Wittgensteinschen Denkens, die bisher denn auch von der überwiegenden Mehrheit der sprachanalytischen Forscher übergangen wurden.
Und der Leser hält mit dieser Solipsismus-Interpretation zugleich das Ende jenes Fadens in der Hand, der das gesamte Denken Wittgensteins bis in alle seine Verästelungen hinein durchzieht: jene philosophische Haltung, die er selbst als "therapeutisch" bezeichnete. Diese bereits in den ersten Aufzeichnungen Wittgensteins zu erkennende therapeutische Haltung kulminierte im Fortgang seiner intellektuellen Entwicklung in einem dezidiert praxisorientierten Philosophiebegriff. Ihm hat Vossenkuhl das gedanklich dichte und sprachlich schöne Schlußkapitel seines Buches gewidmet.
In der Klarheit der Darstellung und der Originalität der gedanklichen Durchdringung zählt Wilhelm Vossenkuhls Wittgenstein-Interpretation ohne Zweifel zum besten, was in deutscher Sprache seit langem über den Philosophen geschrieben worden ist.
Wilhelm Vossenkuhl: "Ludwig Wittgenstein". Beck'sche Reihe Denker. Verlag C. H. Beck, München 1995. 367 S., 8 Abb., br., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf Wilhelm Vossenkuhl als philosophischen Reiseführer ist Verlaß / Von Matthias Kroß
Ludwig Wittgenstein ist neben Nietzsche und Heidegger einer der großen philosophischen Therapeuten unseres Jahrhunderts. Die Faszination, die von seinem überwiegend erst postum veröffentlichten, fragmentarischen Lebenswerk ausgeht, hat mit der Radikalität zu tun, mit der er versucht, philosophische Fragen zum Verschwinden zu bringen, und, wie es in einer seiner berühmt gewordenen Formulierungen heißt, "der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas" zu zeigen.
Freilich dürfte es vielen Lesern schwerfallen, sich überhaupt erst einmal in dem Labyrinth Wittgensteinscher Gedankengänge und ihrer Deutungsmöglichkeiten zurechtzufinden. Denn obwohl sich der Sprachphilosoph zeit seines Lebens um Klarheit bemühte, geben seine Texte doch immer neue Rätsel auf und provozieren die verschiedensten Interpretationen. Die Zahl der kommentierenden Arbeiten über Wittgenstein geht mittlerweile in die Zehntausende.
Daß es dem Münchner Philosophen Wilhelm Vossenkuhl gelungen ist, in seiner Einführung nicht nur alle wichtigen Aspekte des Werkes Wittgensteins klar und einsichtig auch für den Laien darzustellen, sondern auch noch dem Leser einen Ariadnefaden durch den Irrgarten der philosophischen Aphorismen zu spannen, ist eine Meisterleistung. Vossenkuhls Stil ist unakademisch, Zitate sind sparsam und sinnvoll gewählt, im Text setzt er sich nur sparsam mit der Sekundärliteratur auseinander. Durchaus konventionell beginnt er seine Ausführungen mit einer knappen Skizze der philosophischen Ausgangslage und des akademischen Lebensweges des österreichischen Philosophen. Dabei führt er den Leser auf die zentralen Fragestellungen hin, die Wittgenstein lebenslang beschäftigt haben.
Es wird einsichtig, daß zwischen dem Frühwerk, dem "Tractatus logico-philosophicus", und dem Spätwerk, das um die "Philosophischen Untersuchungen" kreist, kein Bruch, sondern nur eine Differenz der Perspektive besteht. Vossenkuhl stellt daher sein Traktat-Kapitel unter die Überschrift "Logische Grundlagen", denn die Grundthese der Frühschrift, daß über das Verhältnis von Logik und Sprache zu der Wirklichkeit nichts sinnvoll ausgesagt werden könne, bildet die gleichbleibende logische Voraussetzung für alle späteren sprachphilosophischen Studien. Diese oszillieren um die stets gleichen konzeptuellen Gravitationszentren: um den Begriff des Befolgens von Regeln, um die Grundlagen der Mathematik sowie um die Philosophie der Psychologie.
Mehr noch als durch die Inhaltsangaben zu den wichtigsten Schriften besticht Vossenkuhl durch seine Ausführungen zu Wittgensteins Solipsismus. Vossenkuhl hat das entsprechende Kapitel wohl nicht ohne dramaturgischen Bedacht und kompositorische Eleganz als siebtes (analog zur Satzzahl des "Traktatus") in die Mitte seines Buches gesetzt. In der Tat dürfte der laut Vossenkuhl "metaphysische" (Frühphilosophie) beziehungsweise der "grammatische Solipsismus" (Spätschriften) Wittgensteins das philosophische Scharnier darstellen, um das sich alle seine Gedanken gedreht haben dürften.
Vossenkuhl gelingt es, die nicht unbeträchtlichen Interpretationsschwierigkeiten weitgehend auszuräumen, die gerade dieser Solipsismus-Begriff in der bisherigen Werkdeutung aufgeworfen hat. Mit Vossenkuhls neuartiger Solipsismus-Interpretation verfügt der Leser zugleich über den Schlüssel, um jene Schlösser zu öffnen, die vor Wittgensteins eigenwilliger Anthropologie, Kulturphilosophie und seinen bekennerhaften Notizen zu Religion und Ethik zu hängen scheinen - Aspekte des Wittgensteinschen Denkens, die bisher denn auch von der überwiegenden Mehrheit der sprachanalytischen Forscher übergangen wurden.
Und der Leser hält mit dieser Solipsismus-Interpretation zugleich das Ende jenes Fadens in der Hand, der das gesamte Denken Wittgensteins bis in alle seine Verästelungen hinein durchzieht: jene philosophische Haltung, die er selbst als "therapeutisch" bezeichnete. Diese bereits in den ersten Aufzeichnungen Wittgensteins zu erkennende therapeutische Haltung kulminierte im Fortgang seiner intellektuellen Entwicklung in einem dezidiert praxisorientierten Philosophiebegriff. Ihm hat Vossenkuhl das gedanklich dichte und sprachlich schöne Schlußkapitel seines Buches gewidmet.
In der Klarheit der Darstellung und der Originalität der gedanklichen Durchdringung zählt Wilhelm Vossenkuhls Wittgenstein-Interpretation ohne Zweifel zum besten, was in deutscher Sprache seit langem über den Philosophen geschrieben worden ist.
Wilhelm Vossenkuhl: "Ludwig Wittgenstein". Beck'sche Reihe Denker. Verlag C. H. Beck, München 1995. 367 S., 8 Abb., br., 29,80 DM.
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