Dieser Band setzt Ludwig Wittgenstein ein Denkmal. Michael Nedo, der seine Schriften und sein Leben wie kaum ein zweiter kennt, zeigt Wittgenstein in Fotos, Faksimiles, Briefen von und über ihn, in Zitaten aus seinen Schriften und in Berichten seiner Familie und seiner Freunde. Ein Album, das die komplexen Bezüge zwischen Wittgensteins Leben und Werk und seinem geistigen und persönlichen Umfeld erschließt. Ludwig Wittgenstein ist bis heute weltweit einer der einflussreichsten Philosophen. Sein erstes Werk erschien 1922 in London unter dem Titel Tractatus logico-philosophicus und begründete die analytische Philosophie. Seine 1953 posthum veröffentlichten Philosophischen Untersuchungen wurden zum Grundlagentext der sprachanalytischen Philosophie und leiteten einen Paradigmenwechsel ein: "Man könnte sagen, die Betrachtung muss gedreht werden, aber um unser eigentliches Bedürfnis als Angelpunkt."
Wittgenstein, geboren am 26. April 1889 in Wien, war aeronautischer Ingenieur, bevor er in Cambridge Philosophie studierte. Nach seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg trennte er sich von seinem Vermögen und arbeitete als Volksschullehrer in Niederösterreich. 1929 kehrte er nach Cambridge zurück, wurde nach Hitlers Einmarsch in Österreich englischer Staatsbürger und Professor in Cambridge. Er starb am 29. April 1951.
Wittgenstein, geboren am 26. April 1889 in Wien, war aeronautischer Ingenieur, bevor er in Cambridge Philosophie studierte. Nach seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg trennte er sich von seinem Vermögen und arbeitete als Volksschullehrer in Niederösterreich. 1929 kehrte er nach Cambridge zurück, wurde nach Hitlers Einmarsch in Österreich englischer Staatsbürger und Professor in Cambridge. Er starb am 29. April 1951.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Differenziert und mit großem Interesse, wenn auch nicht ohne manche Einschränkungen, hat Rezensentin Nicole L. Immler diesen Band aufgenommen, den sie als eine Aufforderung liest, zu den Originalwerken zurückzukehren und das wuchernde Gestrüpp der Sekundärliteratur zu Wittgenstein einmal beiseite zu lassen. Dabei betont sie, dass der Band sozusagen seine Anregung bei Wittgenstein selbst findet, dem der Begriff des "Albums" wichtig war, da er an der Auflösung der chronologischen Form des Buchs arbeitete. Dass die Zusammenhänge zwischen Bild und Text zuweilen assoziativ sind, stört die Rezensentin nicht. Bedenken meldet sie aber an, wenn wegen der Darstellungsform ein Kontext nicht erklärt werden kann. Ihr Beispiel sind die in dem Band zitierten Briefe an Friedrich Hayek, ein anderes Genie aus der weitverzweigten Familie Wittgensteins - Hayek hatte im Jahr 1953 das Projekt einer Biografie über Wittgenstein und sammelte Erinnerungen von Zeitgenossen. Dieser Zusammenhang scheint in dem Band nicht recht dargestellt werden zu können. Am Ende ist das aber für Immler kein wirklicher Einwand gegen diesen "prächtig und aufwändig gestalteten Bildband".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2013Bilderbuch mit Philosoph
Ein Denker, der immer schon die akademischen Einhegungen hinter sich ließ: Michael Nedos großes Album zu Ludwig Wittgenstein.
Ludwig Wittgenstein ist der Philosoph des letzten Jahrhunderts, dessen Ausstrahlung am weitesten über das akademische Terrain hinausreicht. Obwohl oder auch gerade weil er zu Lebzeiten nur zwei schmale Büchlein veröffentlichte: die schnell berüchtigte "Logisch-philosophische Abhandlung" und ein "Wörterbuch für Volksschulen". Letzteres steht nicht auf philosophischen Leselisten, ist dafür aber - verweist es doch auf den Ausbruch aus vorgezeichneten Lebensbahnen - eine Facette der reichen biographischen, mitunter hagiographischen Erzählungen, die bei Wittgenstein einen Stellenwert behaupten wie bei keinem anderen Philosophen.
Ablesen konnte man diesen Stellenwert auch an einem Band, der 1983 erschien. Michael Nedo und Michele Ranchetti stellten damals "Ludwig Wittgenstein: Sein Leben in Bildern und Texten zusammen", Willy Fleckhaus machte daraus einen bestechenden großformatigen Band, der lange schon vergriffen ist und in Antiquariaten inzwischen stattliche Preise erreicht. Jetzt ist er noch einmal erschienen, in etwas kleinerem Format, der Inhalt leicht variiert, immer noch exzellent eingerichtet - und zu einem erfreulich niedrigen Preis.
Im Vorwort zu den posthum erschienenen "Philosophischen Untersuchungen" beschreibt Wittgenstein seine Bemerkungen als eine Menge von Landschaftsskizzen, entstanden auf verwickelten Fahrten, die immer wieder aus verschiedenen Richtungen zu schon einmal berührten Punkten führen. Viele dieser Skizzen seien ausgeschieden worden und nur die halbwegs gelungenen übrig geblieben, "die nur so angeordnet, oftmals beschnitten, werden mussten, daß sie dem Betrachter ein Bild der Landschaft geben konnten. - So ist diesen Buch eigentlich nur ein Album."
Auf diese Beschreibung bezieht sich der neue Titel, den Michael Nedo - er tritt nun als alleiniger Herausgeber auf - dem Buch gegeben hat: "Ludwig Wittgenstein. Ein biographisches Album" (C. H. Beck Verlag, München 2012. 463 S., geb., 39,95 [Euro].). Dieser Titel ist sicherlich eleganter als der alte und signalisiert auch die hohen Ambitionen, die Nedo mit den Kompositionen aus Texten und Bildern verknüpft, welche nicht bloß einen biographischen Abriss mit illustrierenden Fotos geben, sondern "die poetische Dimension der Philosophie Wittgensteins veranschaulichen" sollen, sein "Schreiben in Metaphern, Allegorien und Bildern". Von Bedeutung ist für Nedo da auch, dass Wittgenstein selbst ein Fotoalbum angelegt hat, dessen Komposition sich dem Betrachter allerdings - im Gegensatz zum "Album" der "Philosophischen Bemerkungen" - kaum erschließt. Was Nedo nicht hindert, eine erstaunliche Parallele zu ziehen: So wie die philosophischen Bemerkungen zum Hinzu-Sehen der "Landschaftsskizzen" aufforderten, so lade das Fotoalbum zum Hinzu-Denken einer Bilderzählung ein.
Aber das ein wenig verstiegene Vorwort des Herausgebers muss man nicht auf die Waagschale legen. Wer mit Wittgensteins Texten und auch seiner Biographie schon etwas vertraut ist, findet in dem Band viele reizvolle Details, die den Lebenshintergrund genauso wie manche Eigenheiten Wittgensteins beleuchten.
hmay
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Denker, der immer schon die akademischen Einhegungen hinter sich ließ: Michael Nedos großes Album zu Ludwig Wittgenstein.
Ludwig Wittgenstein ist der Philosoph des letzten Jahrhunderts, dessen Ausstrahlung am weitesten über das akademische Terrain hinausreicht. Obwohl oder auch gerade weil er zu Lebzeiten nur zwei schmale Büchlein veröffentlichte: die schnell berüchtigte "Logisch-philosophische Abhandlung" und ein "Wörterbuch für Volksschulen". Letzteres steht nicht auf philosophischen Leselisten, ist dafür aber - verweist es doch auf den Ausbruch aus vorgezeichneten Lebensbahnen - eine Facette der reichen biographischen, mitunter hagiographischen Erzählungen, die bei Wittgenstein einen Stellenwert behaupten wie bei keinem anderen Philosophen.
Ablesen konnte man diesen Stellenwert auch an einem Band, der 1983 erschien. Michael Nedo und Michele Ranchetti stellten damals "Ludwig Wittgenstein: Sein Leben in Bildern und Texten zusammen", Willy Fleckhaus machte daraus einen bestechenden großformatigen Band, der lange schon vergriffen ist und in Antiquariaten inzwischen stattliche Preise erreicht. Jetzt ist er noch einmal erschienen, in etwas kleinerem Format, der Inhalt leicht variiert, immer noch exzellent eingerichtet - und zu einem erfreulich niedrigen Preis.
Im Vorwort zu den posthum erschienenen "Philosophischen Untersuchungen" beschreibt Wittgenstein seine Bemerkungen als eine Menge von Landschaftsskizzen, entstanden auf verwickelten Fahrten, die immer wieder aus verschiedenen Richtungen zu schon einmal berührten Punkten führen. Viele dieser Skizzen seien ausgeschieden worden und nur die halbwegs gelungenen übrig geblieben, "die nur so angeordnet, oftmals beschnitten, werden mussten, daß sie dem Betrachter ein Bild der Landschaft geben konnten. - So ist diesen Buch eigentlich nur ein Album."
Auf diese Beschreibung bezieht sich der neue Titel, den Michael Nedo - er tritt nun als alleiniger Herausgeber auf - dem Buch gegeben hat: "Ludwig Wittgenstein. Ein biographisches Album" (C. H. Beck Verlag, München 2012. 463 S., geb., 39,95 [Euro].). Dieser Titel ist sicherlich eleganter als der alte und signalisiert auch die hohen Ambitionen, die Nedo mit den Kompositionen aus Texten und Bildern verknüpft, welche nicht bloß einen biographischen Abriss mit illustrierenden Fotos geben, sondern "die poetische Dimension der Philosophie Wittgensteins veranschaulichen" sollen, sein "Schreiben in Metaphern, Allegorien und Bildern". Von Bedeutung ist für Nedo da auch, dass Wittgenstein selbst ein Fotoalbum angelegt hat, dessen Komposition sich dem Betrachter allerdings - im Gegensatz zum "Album" der "Philosophischen Bemerkungen" - kaum erschließt. Was Nedo nicht hindert, eine erstaunliche Parallele zu ziehen: So wie die philosophischen Bemerkungen zum Hinzu-Sehen der "Landschaftsskizzen" aufforderten, so lade das Fotoalbum zum Hinzu-Denken einer Bilderzählung ein.
Aber das ein wenig verstiegene Vorwort des Herausgebers muss man nicht auf die Waagschale legen. Wer mit Wittgensteins Texten und auch seiner Biographie schon etwas vertraut ist, findet in dem Band viele reizvolle Details, die den Lebenshintergrund genauso wie manche Eigenheiten Wittgensteins beleuchten.
hmay
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.08.2013Leben als Denkspiel
Eine aufwendige Bildbiografie über Ludwig Wittgenstein im puristischen Geiste einer Werkedition
Für das Verständnis von Ludwig Wittgensteins Philosophie sei es wichtig, „den Zusammenhang zwischen seinem Leben und seinem Werk aufzuzeigen“. Das ist kein kleiner einleitender Satz, vor allem nicht, wenn es darum geht, in das schwierige Werk gerade dieses Philosophen einzusteigen. Der Leser wird hier aufgefordert, selbst die Bezüge zwischen Geistigem und Persönlichem zu erkunden. Eine anspruchsvolle Leseanweisung für die 516 Abbildungen und zahllose Textquellen umfassende Bildbiografie von Michael Nedo, die Foto- und Textalbum zugleich ist.
Den Fotos aus Familienalben sind Zitate aus dem philosophischen Werk, aus Briefen, Tagebüchern, Postkarten, Familienerinnerungen, Memoiren und historischen Dokumenten gegenübergestellt. Chronologisch geordnet, folgen sie doch einer assoziativen Struktur und zeigen Wittgensteins Gedankenwelt in immer neuen Kontexten. Damit wird ein vielfältiges Netz geknüpft, und zugleich werden die Verbindungen zu den Lebensorten lebendig. Die Zusammenhänge sind sehr konkret, wenn Wittgenstein, konfrontiert mit dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland, über den Wert von Staatsbürgerschaft sinniert und sich im Briefwechsel mit Freunden um eine Lösung für seine Situation bemüht. Manchmal rein imaginativ, wenn ein Brief an seine Schwester Hermine, in welchem er eine ihrer Malskizzen kommentiert, neben einer Zeichnung von Wilhelm Busch und einer mathematischen Skizze aus Wittgensteins Manuskripten steht.
Michael Nedo – bekannt als Herausgeber der „Wiener Ausgabe“ von Wittgensteins philosophischem Werk – arrangiert kenntnisreich eine opulente Fülle an Material, und hält sich, bis auf die biografische Skizze zum Abschluss, als Autor im Hintergrund. Die Quellen für sich sprechen zu lassen, mag für eine philosophische Werkausgabe eine überzeugende Strategie sein, doch für eine Lebensdarstellung erscheint das zuweilen etwas zu puristisch, und zwar dort, wo die verwendeten Quellen unkommentiert bleiben, sodass deren Bedeutung nur beschränkt nachvollziehbar ist.
Mehrmals werden beispielsweise die Briefe von Wittgensteins Freunden an den Wittgenstein-Cousin Friedrich Hayek zitiert, deren Inhalt sich besser erschließt, wenn man weiß, zu welchem Zwecke sie verfasst wurden: Hayek sammelte im Jahre 1953 Material für eine erste Biografie Wittgensteins, die schließlich am Widerstand der Familie scheiterte. Die Gestaltung des Bandes, der authentischen Aura des Zitats verhaftet, befriedigt solch quellenkritische Neugier vielfach nicht.
Doch will das Buch nun ein Album, eine Biografie oder eine Edition vorhandener Quellentexte sein? Die Betitelung ist undeutlich. Dabei folgt Michael Nedo Wittgensteins Begriff des Albums, den er benutzt hatte, als er 1943 – in einer Art Verabschiedung von der linearen Buchform – seine „Philosophischen Untersuchungen“ ein „Album von Landschaftsskizzen“ nannte. Oder als er in den Dreißigerjahren ein Fotoalbum anlegte, um anhand von Bildern sein Leben zu erzählen. Hier wäre es für die Darstellung des Biografischen bei Wittgenstein spannender gewesen, nicht nur einzelne Fotos aus dem Album zu sehen, sondern zu erfahren, wie das Album selbst, die Selbstbeschreibung sozusagen, in seiner Gesamtheit ausgesehen hatte.
Der Band folgt dem Wittgenstein’schen Prinzip des „Zeigens“, es wird wenig erklärt oder gedeutet; das Verstehen basiert darauf, Verbindungen zu erkennen und nicht Diskussionen wiederzugeben. Dabei verhält sich auch diese Darstellung zu Bestehendem, wenn auch unausgesprochen. Das Buch beruht auf einem 1983 erschienenem Band, den Michael Nedo gemeinsam mit dem 2008 verstorbenen Michele Ranchetti bei Suhrkamp herausgegeben hatte ( Ludwig Wittgenstein: Sein Leben in Bildern und Texten ) und der nun in einer viel umfassenderen Form neu gestaltet wurde. Vor dreißig Jahren war der Band aufsehenerregend, weil noch wenig von Wittgensteins Leben und Werk bekannt war. Heute könnte man das biografische Album als ein Korrektiv zur stetig wachsenden Sekundärliteratur sehen, als einen Denkanstoß, zu den Quellen zurückzukehren. Ein solches Ansinnen legt auch das Literaturverzeichnis nahe, das sich fast ausschließlich auf Primärtexte beschränkt.
Trotz mancher irritierender Details – in seiner Gesamtheit ist dies ein prächtiger und aufwendig gestalteter Bildband, der einen Überblick über Wittgensteins Werk und Leben gibt, und durch die assoziative Reihung – die ihren eigenen Witz hat – immer wieder überraschende Einblicke gewährt.
NICOLE L. IMMLER
Michael Nedo (Hrsg.): Ludwig Wittgenstein. Ein biographisches Album. Verlag C.H. Beck, München 2012. 463 Seiten, 516 Abbildungen, 39,95 Euro.
Die Textquellen für sich
sprechen zu lassen, erschwert den
Zugang zu Leben und Werk
Diese Aufnahme eines Straßenfotografen zeigt Ludwig Wittgenstein
in Cambridge. FOTO: WITTGENSTEIN ARCHIVE, CAMBRIDGE
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Eine aufwendige Bildbiografie über Ludwig Wittgenstein im puristischen Geiste einer Werkedition
Für das Verständnis von Ludwig Wittgensteins Philosophie sei es wichtig, „den Zusammenhang zwischen seinem Leben und seinem Werk aufzuzeigen“. Das ist kein kleiner einleitender Satz, vor allem nicht, wenn es darum geht, in das schwierige Werk gerade dieses Philosophen einzusteigen. Der Leser wird hier aufgefordert, selbst die Bezüge zwischen Geistigem und Persönlichem zu erkunden. Eine anspruchsvolle Leseanweisung für die 516 Abbildungen und zahllose Textquellen umfassende Bildbiografie von Michael Nedo, die Foto- und Textalbum zugleich ist.
Den Fotos aus Familienalben sind Zitate aus dem philosophischen Werk, aus Briefen, Tagebüchern, Postkarten, Familienerinnerungen, Memoiren und historischen Dokumenten gegenübergestellt. Chronologisch geordnet, folgen sie doch einer assoziativen Struktur und zeigen Wittgensteins Gedankenwelt in immer neuen Kontexten. Damit wird ein vielfältiges Netz geknüpft, und zugleich werden die Verbindungen zu den Lebensorten lebendig. Die Zusammenhänge sind sehr konkret, wenn Wittgenstein, konfrontiert mit dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland, über den Wert von Staatsbürgerschaft sinniert und sich im Briefwechsel mit Freunden um eine Lösung für seine Situation bemüht. Manchmal rein imaginativ, wenn ein Brief an seine Schwester Hermine, in welchem er eine ihrer Malskizzen kommentiert, neben einer Zeichnung von Wilhelm Busch und einer mathematischen Skizze aus Wittgensteins Manuskripten steht.
Michael Nedo – bekannt als Herausgeber der „Wiener Ausgabe“ von Wittgensteins philosophischem Werk – arrangiert kenntnisreich eine opulente Fülle an Material, und hält sich, bis auf die biografische Skizze zum Abschluss, als Autor im Hintergrund. Die Quellen für sich sprechen zu lassen, mag für eine philosophische Werkausgabe eine überzeugende Strategie sein, doch für eine Lebensdarstellung erscheint das zuweilen etwas zu puristisch, und zwar dort, wo die verwendeten Quellen unkommentiert bleiben, sodass deren Bedeutung nur beschränkt nachvollziehbar ist.
Mehrmals werden beispielsweise die Briefe von Wittgensteins Freunden an den Wittgenstein-Cousin Friedrich Hayek zitiert, deren Inhalt sich besser erschließt, wenn man weiß, zu welchem Zwecke sie verfasst wurden: Hayek sammelte im Jahre 1953 Material für eine erste Biografie Wittgensteins, die schließlich am Widerstand der Familie scheiterte. Die Gestaltung des Bandes, der authentischen Aura des Zitats verhaftet, befriedigt solch quellenkritische Neugier vielfach nicht.
Doch will das Buch nun ein Album, eine Biografie oder eine Edition vorhandener Quellentexte sein? Die Betitelung ist undeutlich. Dabei folgt Michael Nedo Wittgensteins Begriff des Albums, den er benutzt hatte, als er 1943 – in einer Art Verabschiedung von der linearen Buchform – seine „Philosophischen Untersuchungen“ ein „Album von Landschaftsskizzen“ nannte. Oder als er in den Dreißigerjahren ein Fotoalbum anlegte, um anhand von Bildern sein Leben zu erzählen. Hier wäre es für die Darstellung des Biografischen bei Wittgenstein spannender gewesen, nicht nur einzelne Fotos aus dem Album zu sehen, sondern zu erfahren, wie das Album selbst, die Selbstbeschreibung sozusagen, in seiner Gesamtheit ausgesehen hatte.
Der Band folgt dem Wittgenstein’schen Prinzip des „Zeigens“, es wird wenig erklärt oder gedeutet; das Verstehen basiert darauf, Verbindungen zu erkennen und nicht Diskussionen wiederzugeben. Dabei verhält sich auch diese Darstellung zu Bestehendem, wenn auch unausgesprochen. Das Buch beruht auf einem 1983 erschienenem Band, den Michael Nedo gemeinsam mit dem 2008 verstorbenen Michele Ranchetti bei Suhrkamp herausgegeben hatte ( Ludwig Wittgenstein: Sein Leben in Bildern und Texten ) und der nun in einer viel umfassenderen Form neu gestaltet wurde. Vor dreißig Jahren war der Band aufsehenerregend, weil noch wenig von Wittgensteins Leben und Werk bekannt war. Heute könnte man das biografische Album als ein Korrektiv zur stetig wachsenden Sekundärliteratur sehen, als einen Denkanstoß, zu den Quellen zurückzukehren. Ein solches Ansinnen legt auch das Literaturverzeichnis nahe, das sich fast ausschließlich auf Primärtexte beschränkt.
Trotz mancher irritierender Details – in seiner Gesamtheit ist dies ein prächtiger und aufwendig gestalteter Bildband, der einen Überblick über Wittgensteins Werk und Leben gibt, und durch die assoziative Reihung – die ihren eigenen Witz hat – immer wieder überraschende Einblicke gewährt.
NICOLE L. IMMLER
Michael Nedo (Hrsg.): Ludwig Wittgenstein. Ein biographisches Album. Verlag C.H. Beck, München 2012. 463 Seiten, 516 Abbildungen, 39,95 Euro.
Die Textquellen für sich
sprechen zu lassen, erschwert den
Zugang zu Leben und Werk
Diese Aufnahme eines Straßenfotografen zeigt Ludwig Wittgenstein
in Cambridge. FOTO: WITTGENSTEIN ARCHIVE, CAMBRIDGE
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