Kaum ein philosophischer Autor des 20. Jahrhunderts hat weniger über Ethik geschrieben als Wittgenstein. Dennoch wurden seine Schriften von Anbeginn von einem ethischen" Impetus gespeist. Es ging dem Philosophen, wie im Zuge einer neuen Gesamtdarstellung seines Denkweges gezeigt wird, darum, die philosophische Anschauungsweise" seiner Zeit zu verändern und zu einer richtigen Sicht" der Dinge zu verhelfen, die die Probleme des Lebens ebenso wie das Quälende philosophischer Fragen zum Verschwinden bringt.
In seiner Frühphilosophie propagierte er eine Sicht sub specie aeternitatis", in der sich der ethische Sinn" des Tractatus" auf überraschende Weise mit einer Theorie der Bildlichkeit des Satzzeichens verbindet. Im Spätwerk gelangt Wittgenstein zu einer Sicht sub specie hominis". Majetschak zeigt, wie sich dieser Denkstil in den Hauptthemen des Spätwerks niederschlägt und in den letzten Notizen Über Gewissheit" Perspektiven einer Philosophie aufreißt, die von universalistischen Ansprüchen Abschied genommen hat.
In seiner Frühphilosophie propagierte er eine Sicht sub specie aeternitatis", in der sich der ethische Sinn" des Tractatus" auf überraschende Weise mit einer Theorie der Bildlichkeit des Satzzeichens verbindet. Im Spätwerk gelangt Wittgenstein zu einer Sicht sub specie hominis". Majetschak zeigt, wie sich dieser Denkstil in den Hauptthemen des Spätwerks niederschlägt und in den letzten Notizen Über Gewissheit" Perspektiven einer Philosophie aufreißt, die von universalistischen Ansprüchen Abschied genommen hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2001Hinterm Horizont geht's weiter
Bunte Hütchen in Wittgensteins Sprachspielekoffer: Stefan Majetschak hält sich genau an die Anleitung
Nach herkömmlichen Maßstäben dürfte Stefan Majetschaks Darstellung von Wittgensteins Denkweg, da bloßes Referat, keinesfalls mit sehr gut benotet werden. Was könnte der Autor dagegen einwenden? Einerseits nichts. Schließlich liegt das Gewicht seiner Darstellung gerade auf Wittgensteins fortschreitender Einsicht in die Relativität aller Sprachspiele und Lebensformen, die kein externes Kriterium auf ihre Korrespondenz mit der wahren Wirklichkeit der Dinge und Normen zu prüfen erlaubte.
Andererseits jedoch könnte Majetschak sich ungerecht beurteilt fühlen, weist er doch gerade selber alle Versuche, aus Wittgenstein eine neue Theorie von Bedeutung zu destillieren, als grob inadäquat zurück. Wittgenstein habe in eine Haltung einüben wollen, habe zeigen wollen, wie man die Welt sehen muß, nicht um die alten philosophischen Probleme zu lösen, sondern allenfalls die Thesen anderer Ausleger als von der Sprache der philosophischen Tradition verhext zu kritisieren. Je genauer ein Interpret Wittgenstein verstanden hat, um so mehr wird er sich seinem zeigenden Gestus anverwandeln, referieren, zitieren.
Doch vielleicht zeigt Majetschak weniger, als er glaubt. Wittgenstein wendet sich bestimmten Gegenstandsbereichen zu, der Psychologie, der Mathematik, der Farbwahrnehmung. Und wenn es denn richtig ist, daß es ihm nicht um eine positive Theorie von Bedeutung ging, können diese Gegenstandsbereiche auch nicht einfach als Schulbeispiele gemeint sein. Die philosophischen Probleme müssen sich in ihnen je auf andere Weise stellen. So kann Wittgenstein auffallen, daß er persönlich nicht drei, sondern vier Grundfarben sieht, weil er Grün nicht auf Gelb und Blau zurückführt und Gelb und Rot als näher verwandt nimmt. Oder er kann nach dem Status von Goethes Farbenlehre fragen. Die Gegenstände tragen ihm konfligierende Deutungen zu.
Majetschak dagegen hat kein Interesse an den Gegenständen. So geht alles glatt. Wittgensteins Denkweg endet so in der reinen Lehre: Wir befinden uns "immer schon" in einem eingespielten Darstellungssystem, auf dessen Grunde eine "prärationale Entscheidung" liegt, eine "wesentlich vorsprachliche und instinkthafte Reaktion", "das factum brutum eines instinktiven Benehmens oder einer lebensformengebundenen Praxis des Handelns". Deshalb ende jeder Versuch, Sprachspiele zu legitimieren, im resignativen Hinweis auf die Tatsache des unvordenklichen So-Seins unserer Lebensformen.
Das mag die Hochschulerfahrungen des Autors artikulieren und wider Willen dokumentieren, wie weit Wittgensteins Denken in Lebensphilosophie und Historismus zurückragt - eine treffende Beschreibung alltäglichen Argumentierens und seiner Rationalität erhält man hier gewiß nicht: In Kontroversen werden wir auf die Voraussetzungen unserer Positionen gestoßen, zu denen wir uns verhalten müssen; wir können andere Sprachen lernen, andere Perspektiven einnehmen, in uns selbst begegnen einander verschiedene Sprachspiele und stellen Konsistenzanforderungen.
Im übrigen liegt der Insistenz auf dem unvordenklichen So-Sein der Deutungssysteme, in denen wir immer schon befangen sind, ein seltsamer Idealismus zugrunde. Der Horizont unseres Denkens und Handelns wird als substantielle Allgemeinheit genommen, die die einzelnen Äußerungen nur spezifizieren. Obwohl es sich finden kann, daß ich als Hegelianer mit einem Hegelianer kein vernünftiges Wort wechseln kann, im Gespräch mit einem Islamisten oder einem Neoliberalen dagegen, von denen mich Glaubensartikel trennen, auf ganz ähnliche Urteile komme. Denn auf die Urteile und ihre Gründe kommt es an, nicht auf die Horizonte. "Die Sprachspiele ändern sich grundlos und kaum merklich mit der Praxis unseres Lebens." Das stimmt schon, nur wird daraus ein Relativismus erst, wenn man, metaphysischer als jede Metaphysik, den Blick einzig auf die Horizonte richtet.
GUSTAV FALKE
Stefan Majetschak: "Ludwig Wittgensteins Denkweg". Alber Verlag Freiburg/Brsg., München 2000. 408 S., geb., 98,- Mark.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bunte Hütchen in Wittgensteins Sprachspielekoffer: Stefan Majetschak hält sich genau an die Anleitung
Nach herkömmlichen Maßstäben dürfte Stefan Majetschaks Darstellung von Wittgensteins Denkweg, da bloßes Referat, keinesfalls mit sehr gut benotet werden. Was könnte der Autor dagegen einwenden? Einerseits nichts. Schließlich liegt das Gewicht seiner Darstellung gerade auf Wittgensteins fortschreitender Einsicht in die Relativität aller Sprachspiele und Lebensformen, die kein externes Kriterium auf ihre Korrespondenz mit der wahren Wirklichkeit der Dinge und Normen zu prüfen erlaubte.
Andererseits jedoch könnte Majetschak sich ungerecht beurteilt fühlen, weist er doch gerade selber alle Versuche, aus Wittgenstein eine neue Theorie von Bedeutung zu destillieren, als grob inadäquat zurück. Wittgenstein habe in eine Haltung einüben wollen, habe zeigen wollen, wie man die Welt sehen muß, nicht um die alten philosophischen Probleme zu lösen, sondern allenfalls die Thesen anderer Ausleger als von der Sprache der philosophischen Tradition verhext zu kritisieren. Je genauer ein Interpret Wittgenstein verstanden hat, um so mehr wird er sich seinem zeigenden Gestus anverwandeln, referieren, zitieren.
Doch vielleicht zeigt Majetschak weniger, als er glaubt. Wittgenstein wendet sich bestimmten Gegenstandsbereichen zu, der Psychologie, der Mathematik, der Farbwahrnehmung. Und wenn es denn richtig ist, daß es ihm nicht um eine positive Theorie von Bedeutung ging, können diese Gegenstandsbereiche auch nicht einfach als Schulbeispiele gemeint sein. Die philosophischen Probleme müssen sich in ihnen je auf andere Weise stellen. So kann Wittgenstein auffallen, daß er persönlich nicht drei, sondern vier Grundfarben sieht, weil er Grün nicht auf Gelb und Blau zurückführt und Gelb und Rot als näher verwandt nimmt. Oder er kann nach dem Status von Goethes Farbenlehre fragen. Die Gegenstände tragen ihm konfligierende Deutungen zu.
Majetschak dagegen hat kein Interesse an den Gegenständen. So geht alles glatt. Wittgensteins Denkweg endet so in der reinen Lehre: Wir befinden uns "immer schon" in einem eingespielten Darstellungssystem, auf dessen Grunde eine "prärationale Entscheidung" liegt, eine "wesentlich vorsprachliche und instinkthafte Reaktion", "das factum brutum eines instinktiven Benehmens oder einer lebensformengebundenen Praxis des Handelns". Deshalb ende jeder Versuch, Sprachspiele zu legitimieren, im resignativen Hinweis auf die Tatsache des unvordenklichen So-Seins unserer Lebensformen.
Das mag die Hochschulerfahrungen des Autors artikulieren und wider Willen dokumentieren, wie weit Wittgensteins Denken in Lebensphilosophie und Historismus zurückragt - eine treffende Beschreibung alltäglichen Argumentierens und seiner Rationalität erhält man hier gewiß nicht: In Kontroversen werden wir auf die Voraussetzungen unserer Positionen gestoßen, zu denen wir uns verhalten müssen; wir können andere Sprachen lernen, andere Perspektiven einnehmen, in uns selbst begegnen einander verschiedene Sprachspiele und stellen Konsistenzanforderungen.
Im übrigen liegt der Insistenz auf dem unvordenklichen So-Sein der Deutungssysteme, in denen wir immer schon befangen sind, ein seltsamer Idealismus zugrunde. Der Horizont unseres Denkens und Handelns wird als substantielle Allgemeinheit genommen, die die einzelnen Äußerungen nur spezifizieren. Obwohl es sich finden kann, daß ich als Hegelianer mit einem Hegelianer kein vernünftiges Wort wechseln kann, im Gespräch mit einem Islamisten oder einem Neoliberalen dagegen, von denen mich Glaubensartikel trennen, auf ganz ähnliche Urteile komme. Denn auf die Urteile und ihre Gründe kommt es an, nicht auf die Horizonte. "Die Sprachspiele ändern sich grundlos und kaum merklich mit der Praxis unseres Lebens." Das stimmt schon, nur wird daraus ein Relativismus erst, wenn man, metaphysischer als jede Metaphysik, den Blick einzig auf die Horizonte richtet.
GUSTAV FALKE
Stefan Majetschak: "Ludwig Wittgensteins Denkweg". Alber Verlag Freiburg/Brsg., München 2000. 408 S., geb., 98,- Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Rezensent Gustav Falke wittert eine Seminararbeit und will sie, da "bloßes Referat", keinesfalls mit "sehr gut benoten". Wenn sich auch der Autor ungerecht behandelt fühlen könnte, da er nach eigener Aussage nur Wittgensteins Denken nachzeichnen will ohne "eine neue Theorie von Bedeutung" daraus "zu destillieren", bleibt Falke hart und wirft dem Autor "kein Interesse an den Gegenständen" vor. Ums Nachsitzen wird der so Gemaßregelte bei "Professor" Falke wohl nicht herumkommen.
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