Was fehlt? Was ist unter den Tisch gefallen und liegt nun unbeachtet am Boden? Hannes Böhringer geht in den hier versammelten Essays dieser Frage nach und folgt damit dem unermüdlich umherziehenden und fragenden Sokrates, der am Ende seiner Unterhaltungen aufhebt, was unverstanden übrig geblieben ist, damit es nicht wieder zu Boden fällt und dort vergessen wird. Den Boden im Blick zu behalten und unter sich zu spüren führt zu einer Philosophie des Alltäglichen und Gewöhnlichen. Es geht um Türschwellen, die man sich nicht zu überschreiten oder -denken traut, oder um Schuhe und Jacken: Ist die Philosophie selbst ein alter Schuh, das Christentum eine abgetragene Jacke? Sitzen sie vielleicht nicht mehr richtig?In seinen Essays verbindet Böhringer die Phänomenologie des Alltags und seiner Dinge mit Reflexionen auf deren Sinnbildlichkeit in einer lebendigen und zugänglichen Sprache. »Scherzhaft-ernsthaft« - so charakterisierte Platon seinen Sokrates. Wie dieser macht Hannes Böhringers Kunst der Einfachheit vor den großen Fragen nur scheinbar halt, sein Denken führt an die Wiege der Philosophie zurück und schenkt dem Leser keine Antworten, sondern Fragen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2023Sokratische Prüfung
"Ja, sagt Sokrates zu Theodor und Theaitet, es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als die Verwunderung. Verwundert-Sein ist ein Stutzen, Stehenbleiben im Herumirren." Für den platonischen Sokrates bietet der fragende Blick auf alltägliche Gewissheiten den Ansatzpunkt dialogischer Reflexion. Nicht so für Hannes Böhringer, Autor der Aufsatzsammlung "Lücken im Verhau". Zwar möchte er sein Unterfangen, so entnimmt man es dem Einband des schmalen Hefts, in die Tradition sokratischer Prüfung stellen, wie er darauf kommt, erschließt sich allerdings nur ihm selbst.
In der Phänomenologie des Alltagslebens stecke, das scheint der mit Wohlwollen aus dem Konvolut von Gedankenblitzen ablesbare Impuls des Autors, ein dem Wissen der Philosophie fremder Erfahrungsschatz von Ähnlichkeiten, Überschneidungen und Verflechtungen, den aufzusammeln er sich die Mühe gemacht hat. Die alltagssprachliche Verwendung gleichlautender Wörter, Redewendungen und Begriffsformeln in abweichenden semantischen Feldern soll Neues zutage befördern und den Übergang vom einen zum nächsten Gedanken plausibel machen: "Was überflüssig zu sein scheint, fließt über in das, was übrig bleibt, und versickert im Übrigen, wenn es nicht aufgefangen und wieder in die Debatte geworfen wird." Ein kurzer Aufsatz mit dem Titel "Was fehlt" springt auf fünf Seiten von fehlendem Geld im eigenen Portemonnaie zur Abschaffung der Sklaverei im neunzehnten Jahrhundert.
Sollte man es tatsächlich bis zur letzten Seite schaffen, fragt man sich, welchem Spektakel der Aneinanderreihung völlig unverständlicher Assoziationsketten man da gerade beiwohnen durfte. Noch mehr fragt man sich allerdings, weshalb fortwährend Figuren aus der Geschichte der Philosophie, allen voran der eingangs erwähnte Sokrates, für den Versuch des Autors, sich im "herrlichen Gefühl von Unvermögen angesichts der immensen Welt" einzurichten, herhalten müssen. TOBIAS SCHWEITZER
Hannes Böhringer: "Lücken im Verhau".
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023. 125 S., br., 14,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ja, sagt Sokrates zu Theodor und Theaitet, es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als die Verwunderung. Verwundert-Sein ist ein Stutzen, Stehenbleiben im Herumirren." Für den platonischen Sokrates bietet der fragende Blick auf alltägliche Gewissheiten den Ansatzpunkt dialogischer Reflexion. Nicht so für Hannes Böhringer, Autor der Aufsatzsammlung "Lücken im Verhau". Zwar möchte er sein Unterfangen, so entnimmt man es dem Einband des schmalen Hefts, in die Tradition sokratischer Prüfung stellen, wie er darauf kommt, erschließt sich allerdings nur ihm selbst.
In der Phänomenologie des Alltagslebens stecke, das scheint der mit Wohlwollen aus dem Konvolut von Gedankenblitzen ablesbare Impuls des Autors, ein dem Wissen der Philosophie fremder Erfahrungsschatz von Ähnlichkeiten, Überschneidungen und Verflechtungen, den aufzusammeln er sich die Mühe gemacht hat. Die alltagssprachliche Verwendung gleichlautender Wörter, Redewendungen und Begriffsformeln in abweichenden semantischen Feldern soll Neues zutage befördern und den Übergang vom einen zum nächsten Gedanken plausibel machen: "Was überflüssig zu sein scheint, fließt über in das, was übrig bleibt, und versickert im Übrigen, wenn es nicht aufgefangen und wieder in die Debatte geworfen wird." Ein kurzer Aufsatz mit dem Titel "Was fehlt" springt auf fünf Seiten von fehlendem Geld im eigenen Portemonnaie zur Abschaffung der Sklaverei im neunzehnten Jahrhundert.
Sollte man es tatsächlich bis zur letzten Seite schaffen, fragt man sich, welchem Spektakel der Aneinanderreihung völlig unverständlicher Assoziationsketten man da gerade beiwohnen durfte. Noch mehr fragt man sich allerdings, weshalb fortwährend Figuren aus der Geschichte der Philosophie, allen voran der eingangs erwähnte Sokrates, für den Versuch des Autors, sich im "herrlichen Gefühl von Unvermögen angesichts der immensen Welt" einzurichten, herhalten müssen. TOBIAS SCHWEITZER
Hannes Böhringer: "Lücken im Verhau".
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023. 125 S., br., 14,- Euro.
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