"Ein Mann von fünfzig Jahren könnte er sein, schon leicht gebeugt, ein Mann mit freundlichem Gesicht und traurigen Augen. Er lebt verhältnismäßig angenehm in einem friedlichen Land. Er umgibt sich gern mit Büchern... Er bewundert die 'Äneis'. In ihr fand er zum erstenmal literarisch ausgedrückt, was ihn quälte: die Scham, am Leben geblieben zu sein, während seine Verwandten und fast alle anderen im Feuer umgekommen waren..." Der 1933 in Polen geborene Louis Begley erzählt die Geschichte eines jüdischen Jungen. Maciek wächst in einer begüterten polnischen Arztfamilie auf. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs bedeutet für ihn Angst, Flucht, Verfolgung und schließlich den Verlust der Identität.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.05.2007Überleben um alles in der Welt
Louis Begley: „Lügen in Zeiten des Krieges”
„Wartime Lies” heißt Begleys Roman im Original, und das ist kürzer und prägnanter als der deutsche Titel. Man hat den Debütroman des damals 58-jährigen New Yorker Rechtsanwalts Louis Begley als ein herausragendes Dokument vom Leben und Überleben in den Zeiten des Holocaust bezeichnet, und man hat das Buch in eine Reihe mit den Zeugnissen von Primo Levi, Wilhelm Dichter oder Ruth Klüger gestellt. Das ist legitim; man liest Begleys Roman bestimmt nicht falsch, wenn man ihn als dokumentarischen Bericht begreift, dessen Einzelheiten freilich oft so romanhaft anmuten, dass man denkt, man hätte ihn besser auch nicht erfinden können. Wie der junge Maciek an der Hand seiner Tante Tanja, zeitweilig unterstützt von seinem Großvater und von Tanjas deutschem Liebhaber Reinhard, allen Häschern und Verrätern entkommt und wie die beiden kraft der Kunst der Lüge gerade noch der Deportation entgehen, das ist so dramatisch und so unglaublich, dass Begley den Verdacht geradezu heraufbeschwört, die Geschichte vom Lügenkünstler Maciek könnte am Ende selbst gelogen sein.
Begleys Roman ist nicht nur ein spektakulärer Tatsachenbericht, sondern auch ein Diskurs über die Lüge. Lügen kann man bekanntlich nur mit dem Mund, der übrige Körper, so die Weisheit von Bioenergetikern, kann es nicht. Wer erfolgreich seine alte Identität gegen eine neue tauschen will, muss gut lügen können. Er muss Sprachen lernen, sich zur Not ein zweites Mal taufen lassen und fortan den Katholiken spielen, er muss vor allem aber darauf achten, dass die einzelne Lüge in einem kohärenten Lügengebäude aufgehoben ist. Für einen jüdischen Jungen, der von Polen und Deutschen gleichermaßen gejagt wird, stellt sich die Aufgabe, die angenommene Biographie so lückenlos und glaubwürdig wie möglich auszukleiden – und Tante Tanja ist eine große Lehrerin in dieser Kunst. Man lügt mit dem Mund, aber was hilft das, wenn Maciek gezwungen wird, die Hose herunterzulassen und seinen Penis vorzuzeigen? Selbst im Verstecken ihrer Beschneidung hätten es, lesen wir, jüdische Männer zu einiger Kunstfertigkeit gebracht, aber bei einem Halbwüchsigen wie Maciek funktioniert das noch nicht. Die Stunde der Wahrheit, in der sein Geschlecht seine Identität enthüllt, bleibt ihm erspart. Mit Glück, Geschick und der mit allen Wassern gewaschenen Tante überlebt Maciek den Krieg.
Ob er, wie andere Überlebende, die Schuld der ungerecht Davongekommenen fühlt, wissen wir nicht. Man könnte sich vorstellen, dass Maciek zeitlebens Mühe gehabt hätte, sich selbst zu trauen. Und ist nicht für einen solchen Meister der Verstellung das Alltagsleben in Friedenszeiten ein bisschen unterkomplex? Selten haben jedenfalls Lügen längere Beine gehabt als in diesem Roman, der mit Recht ein Schelmenroman genannt werden kann – und selten nennt man den Protagonisten einer Romanhandlung so gern einen „Helden” wie ihn, den jungen Maciek. CHRISTOPH BARTMANN
Louis Begley Foto: Wassmuth/SV-Bilderdienst
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Louis Begley: „Lügen in Zeiten des Krieges”
„Wartime Lies” heißt Begleys Roman im Original, und das ist kürzer und prägnanter als der deutsche Titel. Man hat den Debütroman des damals 58-jährigen New Yorker Rechtsanwalts Louis Begley als ein herausragendes Dokument vom Leben und Überleben in den Zeiten des Holocaust bezeichnet, und man hat das Buch in eine Reihe mit den Zeugnissen von Primo Levi, Wilhelm Dichter oder Ruth Klüger gestellt. Das ist legitim; man liest Begleys Roman bestimmt nicht falsch, wenn man ihn als dokumentarischen Bericht begreift, dessen Einzelheiten freilich oft so romanhaft anmuten, dass man denkt, man hätte ihn besser auch nicht erfinden können. Wie der junge Maciek an der Hand seiner Tante Tanja, zeitweilig unterstützt von seinem Großvater und von Tanjas deutschem Liebhaber Reinhard, allen Häschern und Verrätern entkommt und wie die beiden kraft der Kunst der Lüge gerade noch der Deportation entgehen, das ist so dramatisch und so unglaublich, dass Begley den Verdacht geradezu heraufbeschwört, die Geschichte vom Lügenkünstler Maciek könnte am Ende selbst gelogen sein.
Begleys Roman ist nicht nur ein spektakulärer Tatsachenbericht, sondern auch ein Diskurs über die Lüge. Lügen kann man bekanntlich nur mit dem Mund, der übrige Körper, so die Weisheit von Bioenergetikern, kann es nicht. Wer erfolgreich seine alte Identität gegen eine neue tauschen will, muss gut lügen können. Er muss Sprachen lernen, sich zur Not ein zweites Mal taufen lassen und fortan den Katholiken spielen, er muss vor allem aber darauf achten, dass die einzelne Lüge in einem kohärenten Lügengebäude aufgehoben ist. Für einen jüdischen Jungen, der von Polen und Deutschen gleichermaßen gejagt wird, stellt sich die Aufgabe, die angenommene Biographie so lückenlos und glaubwürdig wie möglich auszukleiden – und Tante Tanja ist eine große Lehrerin in dieser Kunst. Man lügt mit dem Mund, aber was hilft das, wenn Maciek gezwungen wird, die Hose herunterzulassen und seinen Penis vorzuzeigen? Selbst im Verstecken ihrer Beschneidung hätten es, lesen wir, jüdische Männer zu einiger Kunstfertigkeit gebracht, aber bei einem Halbwüchsigen wie Maciek funktioniert das noch nicht. Die Stunde der Wahrheit, in der sein Geschlecht seine Identität enthüllt, bleibt ihm erspart. Mit Glück, Geschick und der mit allen Wassern gewaschenen Tante überlebt Maciek den Krieg.
Ob er, wie andere Überlebende, die Schuld der ungerecht Davongekommenen fühlt, wissen wir nicht. Man könnte sich vorstellen, dass Maciek zeitlebens Mühe gehabt hätte, sich selbst zu trauen. Und ist nicht für einen solchen Meister der Verstellung das Alltagsleben in Friedenszeiten ein bisschen unterkomplex? Selten haben jedenfalls Lügen längere Beine gehabt als in diesem Roman, der mit Recht ein Schelmenroman genannt werden kann – und selten nennt man den Protagonisten einer Romanhandlung so gern einen „Helden” wie ihn, den jungen Maciek. CHRISTOPH BARTMANN
Louis Begley Foto: Wassmuth/SV-Bilderdienst
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