Die Rückseite der Lüge.
Alle Menschen lügen, behaupten die Menschen. Aber auch diejenigen, die das Lob der Lüge singen, wollen nicht bei einer erwischt und noch weniger wollen sie belogen werden. Sogar wenn man im Lügen das Leben selbst oder doch eine notwendige Kulturtechnik sehen will - wir gewöhnen uns einfach nicht an sie. Wenn Menschen sich nicht an etwas gewöhnen können, das sie doch selber gelegentlich tun, dann nennt man das ein moralisches Problem. Wer über Moral spricht, meint damit gern die anderen. Darum ist es auch kein Zufall, dass uns der Lügner von Anbeginn fasziniert. Die Hochstapler, Schwindler und Populisten, sie scheinen uns wie Zauberer zu manipulieren und planmäßig in die Irre zu führen. Die Lüge ist nur eines ihrer Werkzeuge. Als wäre sie nur dann eine Waffe, wenn sie in die falschen Hände gerät. Aber ist das wirklich alles? Und dürfen wir die philosophische Frage nach der Lüge tatsächlich auf Moral und Politik beschränken? Die Philosophin Bettina Stangneth, die ihre Leser schon mit dem Buch Böses Denken auf überraschende Wege zu großen philosophischen Fragen eingeladen hat, stellt in ihrem neuen Essay weitere, ganz einfache Fragen: Was lässt sich aus einer Lüge über unser Denken lernen? Steckt Wissen in der Unwahrheit? Und wie kommt man an dieses Wissen heran?
Alle Menschen lügen, behaupten die Menschen. Aber auch diejenigen, die das Lob der Lüge singen, wollen nicht bei einer erwischt und noch weniger wollen sie belogen werden. Sogar wenn man im Lügen das Leben selbst oder doch eine notwendige Kulturtechnik sehen will - wir gewöhnen uns einfach nicht an sie. Wenn Menschen sich nicht an etwas gewöhnen können, das sie doch selber gelegentlich tun, dann nennt man das ein moralisches Problem. Wer über Moral spricht, meint damit gern die anderen. Darum ist es auch kein Zufall, dass uns der Lügner von Anbeginn fasziniert. Die Hochstapler, Schwindler und Populisten, sie scheinen uns wie Zauberer zu manipulieren und planmäßig in die Irre zu führen. Die Lüge ist nur eines ihrer Werkzeuge. Als wäre sie nur dann eine Waffe, wenn sie in die falschen Hände gerät. Aber ist das wirklich alles? Und dürfen wir die philosophische Frage nach der Lüge tatsächlich auf Moral und Politik beschränken? Die Philosophin Bettina Stangneth, die ihre Leser schon mit dem Buch Böses Denken auf überraschende Wege zu großen philosophischen Fragen eingeladen hat, stellt in ihrem neuen Essay weitere, ganz einfache Fragen: Was lässt sich aus einer Lüge über unser Denken lernen? Steckt Wissen in der Unwahrheit? Und wie kommt man an dieses Wissen heran?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2017Aus nackten Fakten baut man keine Welt
Warme Empfehlungen, kalte Botschaften: Bettina Stangneth philosophiert altmodisch zeitgemäß über die Lüge
Postfaktisches Zeitalter, "fake news" und "alternative facts", Trolle und Filterblasen im Internet: Aktuelle Anlässe, sich mit Lügen zu befassen, gibt es haufenweise. Bettina Stangneth behandelt diese Aufreger in "Lügen lesen" pflichtgemäß, aber beiläufig - und legt stattdessen ein Buch vor, das wunderbar altmodisch und dabei zeitlos-zeitgemäß ist. Sie philosophiert einfach, wie man dies von früher kennt: mit existentieller Dringlichkeit, nah an den großen Fragen des Lebens, mit der Kraft des klärenden Worts und sprachlicher Eleganz. Sie hat es gar nicht nötig, sich kurzfristig mit Aktualität aufzublasen, denn gelogen haben die Menschen schon immer, und deshalb kommt dieses Buch zur rechten Zeit - wann immer es kommt.
Stangneth lässt dankenswerterweise all die logischen Spitzfindigkeiten beiseite, die sich mit dem Lügen treiben lassen ("Ein Kreter sagt: ,Alle Kreter lügen'" et cetera), und stürzt sich sogleich in ein Wechselbad aus warmen Worten und kalten Botschaften. "Kein Mensch möchte als Lügner gelten" - das ist der fromme Konsens, auf den sich alle gerne einigen. "Kein Mensch will die Wahrheit" - das ist die nüchterne Gegenthese. Das Leben spielt sich nach Stangneth zwischen diesen beiden eigentlich unvereinbaren Sätzen ab: Wir verwerfen die Lüge, und doch sind wir "Meister darin, zu verfälschen und zu täuschen".
Ein bittersüßes Beispiel für diesen Zwiespalt ist die Erziehung: "Eltern geraten", so schreibt Stangneth, "nicht in die übliche Verzückung, mit der die Fortschritte der Kleinen sonst begrüßt werden, und sie kommen auch nicht auf die Idee, im Kindervergleich mit der stolzen Meldung zu punkten: ,Also unser Kind kann sogar schon lügen!'" Und trotzdem kommt - wie Stangneth lakonisch ergänzt - "mit dem strikten Lügenverbot" gleich die Aufforderung der Eltern an das Kind, sich "artig bei der lieben Tante für das uninteressante Geschenk zu bedanken". Ob man nun lügt oder nicht lügt - so oder so droht Ärger.
Beim alten Spruch "Kindermund tut Wahrheit kund" kann man also geradewegs tiefsinnig werden: Was passiert, wenn Kinder mundtot gemacht werden oder einfach nur erwachsen werden? Geht dann die Wahrheit flöten? Stangneth würde wohl erwidern: Anders als Kinder haben Erwachsene die freie Wahl und vor allem gute Übung darin, mal zu lügen und mal die Wahrheit zu sagen. Das heißt auch: Der Menschenmund tut Lüge kund, doch wenn sich der Erwachsene gegen das Lügen entscheidet, dann hat er gegenüber dem Kind den Vorsprung, die Wahrheit mit größerem Ernst und Vorsatz kundzutun.
Am Ende ihrer Erkundung der Lügen- und Wahrheitsspiele versucht Stangneth, den besorgten Leser zugleich zu beruhigen und zu beraten. Die beruhigende Botschaft lautet: Die Lüge ist kleiner und schwächer als die Wahrheit, sie bleibt gewissermaßen auf die Rolle des Parasiten beschränkt. Wer lügen will, muss die Wahrheit schon kennen, er bleibt also von ihr abhängig und setzt nur seine Extrawurst obendrauf: "Allen Befürchtungen zum Trotz ist die Welt bisher nicht in der Lüge versunken, und man braucht auch keine Glaskugel, um vorherzusagen, dass sie das auch in Zukunft nicht tun wird. Lügen ist nur als Ausnahme von der Regel erfolgreich. Auch das Lügen muss sich an der Wahrheit orientieren, wenn es eine Wirkung in der Welt hervorbringen will."
Derzeit droht man zu ertrinken in einem Ozean von spektakulären Scheinheiligkeiten und manipulierten Nachrichten. Diese Phänomene basieren auf einem Zusammenspiel zwischen dem Lügner und demjenigen, der ihm Glauben schenkt. Zur Lüge gehört also, wie Stangneth kühl bemerkt, "eine Gemeinschaftsleistung von zumindest zwei Menschen". Manche, die der Lüge Einhalt gebieten wollen, liebäugeln deshalb mit der Haurucklösung, diese fatale Kooperation einfach abzuschaffen. Sie finden "mit einer Lüge gleich jedes Miteinander verdächtig". Entsprechend sind verschiedene Modelle von Wahrheit im Angebot, die mit jenem "Miteinander" rein gar nichts zu tun haben wollen: einerseits die rein subjektive totale Selbstentblößung, der Seelenstriptease, andererseits die rein objektive Klarheit eines total ausgeleuchteten "Raums ohne Missverständnisse".
Stangneth rät nun, von der Verwendung dieser zwei Waffen gegen die Lüge abzusehen. Sie führen, wie sie meint, zu Horrorszenarien: Mit der reinen Subjektivität verliert man sich im Abgrund der Innerlichkeit, mit der reinen Objektivität schafft man eine Welt von nackten Fakten ohne Menschen. Ins Positive gewendet heißt dies: So wie die Lüge ihre "Wirkung in der Welt" nicht als "einsames Denken" erzielt, sondern nur dann, wenn andere sich von ihr ansprechen lassen, so funktioniert die Wahrheit nach Stangneth auch nur als intersubjektives Phänomen oder, wie sie gerne sagt, im "Dialog". Wenn die Lüge ein pervertierter Dialog ist, dann muss man die Perversion bekämpfen, aber nicht den Dialog beenden.
Nach Stangneth kommt es darauf an, die an ihn gebundenen Haltungen der Offenheit und Aufrichtigkeit zu erhalten, zu stärken und auszukosten. Ihr Plädoyer für den Dialog ist nicht sonderlich originell - Sokrates, Karl Jaspers, Hannah Arendt und andere werden von ihr als Zeugen aufgerufen. Aber zurzeit ist die Reputation des Dialogs auf die der Sonntagsrede herabgesunken, die vielleicht auch eine Art von Lüge ist. Da kann es nicht schaden, mit Hilfe dieses Buchs einen kleinen Wiederholungs- und Nachhilfekurs zum Lob des Dialogs zu durchlaufen.
DIETER THOMÄ
Bettina Stangneth: "Lügen lesen".
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 202 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warme Empfehlungen, kalte Botschaften: Bettina Stangneth philosophiert altmodisch zeitgemäß über die Lüge
Postfaktisches Zeitalter, "fake news" und "alternative facts", Trolle und Filterblasen im Internet: Aktuelle Anlässe, sich mit Lügen zu befassen, gibt es haufenweise. Bettina Stangneth behandelt diese Aufreger in "Lügen lesen" pflichtgemäß, aber beiläufig - und legt stattdessen ein Buch vor, das wunderbar altmodisch und dabei zeitlos-zeitgemäß ist. Sie philosophiert einfach, wie man dies von früher kennt: mit existentieller Dringlichkeit, nah an den großen Fragen des Lebens, mit der Kraft des klärenden Worts und sprachlicher Eleganz. Sie hat es gar nicht nötig, sich kurzfristig mit Aktualität aufzublasen, denn gelogen haben die Menschen schon immer, und deshalb kommt dieses Buch zur rechten Zeit - wann immer es kommt.
Stangneth lässt dankenswerterweise all die logischen Spitzfindigkeiten beiseite, die sich mit dem Lügen treiben lassen ("Ein Kreter sagt: ,Alle Kreter lügen'" et cetera), und stürzt sich sogleich in ein Wechselbad aus warmen Worten und kalten Botschaften. "Kein Mensch möchte als Lügner gelten" - das ist der fromme Konsens, auf den sich alle gerne einigen. "Kein Mensch will die Wahrheit" - das ist die nüchterne Gegenthese. Das Leben spielt sich nach Stangneth zwischen diesen beiden eigentlich unvereinbaren Sätzen ab: Wir verwerfen die Lüge, und doch sind wir "Meister darin, zu verfälschen und zu täuschen".
Ein bittersüßes Beispiel für diesen Zwiespalt ist die Erziehung: "Eltern geraten", so schreibt Stangneth, "nicht in die übliche Verzückung, mit der die Fortschritte der Kleinen sonst begrüßt werden, und sie kommen auch nicht auf die Idee, im Kindervergleich mit der stolzen Meldung zu punkten: ,Also unser Kind kann sogar schon lügen!'" Und trotzdem kommt - wie Stangneth lakonisch ergänzt - "mit dem strikten Lügenverbot" gleich die Aufforderung der Eltern an das Kind, sich "artig bei der lieben Tante für das uninteressante Geschenk zu bedanken". Ob man nun lügt oder nicht lügt - so oder so droht Ärger.
Beim alten Spruch "Kindermund tut Wahrheit kund" kann man also geradewegs tiefsinnig werden: Was passiert, wenn Kinder mundtot gemacht werden oder einfach nur erwachsen werden? Geht dann die Wahrheit flöten? Stangneth würde wohl erwidern: Anders als Kinder haben Erwachsene die freie Wahl und vor allem gute Übung darin, mal zu lügen und mal die Wahrheit zu sagen. Das heißt auch: Der Menschenmund tut Lüge kund, doch wenn sich der Erwachsene gegen das Lügen entscheidet, dann hat er gegenüber dem Kind den Vorsprung, die Wahrheit mit größerem Ernst und Vorsatz kundzutun.
Am Ende ihrer Erkundung der Lügen- und Wahrheitsspiele versucht Stangneth, den besorgten Leser zugleich zu beruhigen und zu beraten. Die beruhigende Botschaft lautet: Die Lüge ist kleiner und schwächer als die Wahrheit, sie bleibt gewissermaßen auf die Rolle des Parasiten beschränkt. Wer lügen will, muss die Wahrheit schon kennen, er bleibt also von ihr abhängig und setzt nur seine Extrawurst obendrauf: "Allen Befürchtungen zum Trotz ist die Welt bisher nicht in der Lüge versunken, und man braucht auch keine Glaskugel, um vorherzusagen, dass sie das auch in Zukunft nicht tun wird. Lügen ist nur als Ausnahme von der Regel erfolgreich. Auch das Lügen muss sich an der Wahrheit orientieren, wenn es eine Wirkung in der Welt hervorbringen will."
Derzeit droht man zu ertrinken in einem Ozean von spektakulären Scheinheiligkeiten und manipulierten Nachrichten. Diese Phänomene basieren auf einem Zusammenspiel zwischen dem Lügner und demjenigen, der ihm Glauben schenkt. Zur Lüge gehört also, wie Stangneth kühl bemerkt, "eine Gemeinschaftsleistung von zumindest zwei Menschen". Manche, die der Lüge Einhalt gebieten wollen, liebäugeln deshalb mit der Haurucklösung, diese fatale Kooperation einfach abzuschaffen. Sie finden "mit einer Lüge gleich jedes Miteinander verdächtig". Entsprechend sind verschiedene Modelle von Wahrheit im Angebot, die mit jenem "Miteinander" rein gar nichts zu tun haben wollen: einerseits die rein subjektive totale Selbstentblößung, der Seelenstriptease, andererseits die rein objektive Klarheit eines total ausgeleuchteten "Raums ohne Missverständnisse".
Stangneth rät nun, von der Verwendung dieser zwei Waffen gegen die Lüge abzusehen. Sie führen, wie sie meint, zu Horrorszenarien: Mit der reinen Subjektivität verliert man sich im Abgrund der Innerlichkeit, mit der reinen Objektivität schafft man eine Welt von nackten Fakten ohne Menschen. Ins Positive gewendet heißt dies: So wie die Lüge ihre "Wirkung in der Welt" nicht als "einsames Denken" erzielt, sondern nur dann, wenn andere sich von ihr ansprechen lassen, so funktioniert die Wahrheit nach Stangneth auch nur als intersubjektives Phänomen oder, wie sie gerne sagt, im "Dialog". Wenn die Lüge ein pervertierter Dialog ist, dann muss man die Perversion bekämpfen, aber nicht den Dialog beenden.
Nach Stangneth kommt es darauf an, die an ihn gebundenen Haltungen der Offenheit und Aufrichtigkeit zu erhalten, zu stärken und auszukosten. Ihr Plädoyer für den Dialog ist nicht sonderlich originell - Sokrates, Karl Jaspers, Hannah Arendt und andere werden von ihr als Zeugen aufgerufen. Aber zurzeit ist die Reputation des Dialogs auf die der Sonntagsrede herabgesunken, die vielleicht auch eine Art von Lüge ist. Da kann es nicht schaden, mit Hilfe dieses Buchs einen kleinen Wiederholungs- und Nachhilfekurs zum Lob des Dialogs zu durchlaufen.
DIETER THOMÄ
Bettina Stangneth: "Lügen lesen".
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 202 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sehr erhellend Yasmina Reza Die Zeit