Eine Geschichte von alttestamentarischer Wucht - John Burnsides großer Text über seinen Hass auf den Vater
Am Ende wünscht John Burnside seinem Vater nur noch den Tod. Er hat für den Mann, der über Jahre die Familie terrorisiert, der lügt und säuft, einzig Hass übrig. Doch er verbirgt seine Gefühle und schweigt. Bis die Begegnung mit einem Fremden ihn zwingt, sich seinen Erinnerungen zu stellen und diese Geschichte von alttestamentarischer Wucht zu erzählen.
Der Vater war ein Nichts. Als Säugling auf einer Türschwelle abgelegt. Zeitlebens erfindet er sich in unzähligen Lügen eine Herkunft, will Anerkennung und Bedeutung. Er ist brutal, ein Großmaul, ein schwerer Trinker, ein Tyrann. Seine Verachtung zerstört alles, die Mutter, die Familie, John. Dieser hat als junger Mann massivste Suchtprobleme, landet in der Psychiatrie und erkennt in den eigenen Exzessen den Vater. Erst die Entdeckung der Welt der Literatur eröffnet ihm eine Perspektive. Nur einem Autor vom Kaliber John Burnsides kann es gelingen, eine solche, auch noch autobiographische Geschichte in Literatur zu überführen. So ist dieses Buch ein radikal wahrer Blick in die menschlichen Abgründe und zugleich eine Feier der Sprache.
Am Ende wünscht John Burnside seinem Vater nur noch den Tod. Er hat für den Mann, der über Jahre die Familie terrorisiert, der lügt und säuft, einzig Hass übrig. Doch er verbirgt seine Gefühle und schweigt. Bis die Begegnung mit einem Fremden ihn zwingt, sich seinen Erinnerungen zu stellen und diese Geschichte von alttestamentarischer Wucht zu erzählen.
Der Vater war ein Nichts. Als Säugling auf einer Türschwelle abgelegt. Zeitlebens erfindet er sich in unzähligen Lügen eine Herkunft, will Anerkennung und Bedeutung. Er ist brutal, ein Großmaul, ein schwerer Trinker, ein Tyrann. Seine Verachtung zerstört alles, die Mutter, die Familie, John. Dieser hat als junger Mann massivste Suchtprobleme, landet in der Psychiatrie und erkennt in den eigenen Exzessen den Vater. Erst die Entdeckung der Welt der Literatur eröffnet ihm eine Perspektive. Nur einem Autor vom Kaliber John Burnsides kann es gelingen, eine solche, auch noch autobiographische Geschichte in Literatur zu überführen. So ist dieses Buch ein radikal wahrer Blick in die menschlichen Abgründe und zugleich eine Feier der Sprache.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2011Etwas Neues, das immer schon da war
Der Schotte John Burnside ist einer der größten Schriftsteller, und das Erinnerungsbuch "Lügen über meinen Vater" sein vielleicht stärkstes Werk.
Von Thomas Glavinic
Wie sich schreibend einem Autor wie John Burnside nähern? Wie sich über einen Schriftsteller äußern, dessen Werk einem so eindrucksvoll, so gewaltig erscheint, dass man lieber nichts sagen würde, lieber bloß jedem Menschen, dem man auf der Straße begegnet, seine Bücher in die Hand drücken und ihn zwingen würde, nach Hause zu laufen und das Haus nicht zu verlassen, ehe er nicht die letzte Zeile gelesen hat? Vielleicht muss man mit einem Hinweis beginnen. Die schottische Schriftstellerin A. L. Kennedy wird vom Knaus Verlag mit dem lapidaren Satz zitiert: "John Burnside ist ein bemerkenswerter Autor." Das ist möglicherweise das, was man britisches Understatement nennt, denn ihr 1955 geborener Landsmann ist einer der ungeheuerlichsten Schriftsteller der Welt.
In Deutschland wurde John Burnside mit "Die Spur des Teufels" sowie vor allem mit "Glister" bekannt, Romanen über Angst und Einsamkeit, über die Suche nach Gott in der Welt, doch vor allem in uns selbst, Büchern von hypnotischer Wucht und einer stilistischen Brillanz, die bei wenigen zeitgenössischen Autoren zu finden ist. Mit "Glister" gelang ihm sogar das Kunststück, in gewisser Weise zwei Handlungen zur gleichen Zeit stattfinden zu lassen, indem er uns auf einer Ebene des Textes den Mann, der Jungen aus dem verrotteten Dorf, in dem der Erzähler Leonard lebt, auf bestialische Weise tötet, als ein der übelsten Dunkelheit entstiegenes Monster lesen lässt, auf der anderen als Engel, der sie als Erlöser aus der Hölle ans Licht führt.
Nun erscheint sein im englischen Original 2006 veröffentlichtes Erinnerungsbuch "Lügen über meinen Vater" auf Deutsch. Der erste Absatz lautet: "Dieses Buch liest man am besten als ein Werk der Fiktion. Wäre mein Vater hier, um mit mir darüber zu reden, gäbe er mir bestimmt recht, wenn ich sagte, es sei ebenso wahr zu behaupten, dass ich nie einen Vater, wie dass er nie einen Sohn hatte." Damit ist vieles von diesem erdrückenden, erschütternden Buch über eine Kindheit und Jugend, die nie aufhört, ins spätere Leben fortzuwirken, gesagt.
Vordergründig geht es um das Aufwachsen des Erzählers, um seine Familie, um seinen Vater, den Alkoholiker und Gewaltmenschen, und um seine Mutter, die diesem nicht gewachsen ist und den Jungen während der nächtlichen Zornesausbrüche ihres Mannes drängt, aus dem Fenster zu springen und in der Nacht zu verschwinden, bis der Anfall vorüber ist. Es geht auch um seine Schwester Margaret und seinen Bruder Andrew, der bei der Geburt stirbt: "Ich bekam ihn nie zu sehen, doch hatte ich nun einen weiteren Geist, um den ich mich kümmern musste." Gesichtslose Onkel, Tanten, Bekannte, Saufkumpane des Vaters, Mitschüler, Lehrer und Freunde ziehen am Leser vorüber, doch auf jeder Seite wird vor allem von jenem Duell berichtet, das dieser Sohn mit seinem Vater ausfechten muss, das er annimmt, auf das er aber gern verzichtet hätte.
John Burnside erzählt von seiner Jugend in Schottland und England, von seinem Aufwachsen in strukturschwachen Ortschaften, in denen sich der Gelegenheitsjobs ausübende Vater je nach Laune und Trunkenheitsgrad immer wieder neue Geschichten über seine Herkunft ausdenkt, in denen er aber auch neue Grausamkeiten ersinnt, mit denen er den Sohn auf manchmal subtile, manchmal offenherzig brutale Weise quält, ob er nun ausspricht, was er fühlt, dass nämlich John derjenige hätte gewesen sein sollen, der bei der Geburt starb, oder ob er ihm schlicht den Teddy verbrennt: Das Gefühl des Ausgeliefertseins erschüttert den Leser auf jeder Seite. Dabei wird Burnside niemals sentimental, niemals larmoyant, er erzählt in luzider, kristallener Sprache von seinem eigenen Untergang ins Dunkle hinein, von seinem Weg in den Alkoholismus, in die Drogen, ins Verschwinden und Vergessen. Er erzählt von einem Leben, in dem der Vater immer präsent sein wird, in dem der Schatten jenes Mannes, den er hasst und liebt, immer über ihm sein wird: "Ich kann nicht über ihn reden, ohne über mich selbst zu reden, so wie ich nie in den Spiegel sehen kann, ohne sein Gesicht zu sehen."
Angst, Dämonen, funkelnde Schwärze, in uns und in der Welt: das ist es, was Burnside in seinen Büchern beschwört, in jedem einzelnen und in diesem besonders. Er erzählt eine ungemütliche Geschichte von einem Leben als Einzelwesen, das seine Umwelt staunend betrachtet, ohne sie je verstehen zu können. Vom Leben jedes Menschen als jemand, der in einer Reihenfolge steht, als jemand, der Sohn oder Tochter von jemandem ist, der wiederum Sohn oder Tochter von jemandem ist, und von der fast tragischen Tatsache, dass wir daran nichts ändern können. Wir alle sind zum Lieben geboren, wir sind dafür geboren, unsere Eltern zu lieben, auch wenn wir sie hassen und wenn sie unseren Hass hundert und tausend Mal verdient haben, ja auch wenn sie uns nicht lieben. Nicht jeder Mensch liebt seine Kinder. Nicht alle von uns werden von ihren Eltern geliebt. Dies sich einzugestehen, damit zu leben ist für manchen eine Aufgabe, mit der zeitlebens nur schwer fertig zu werden ist.
In diesem Buch findet sich kaum eine Seite, die nicht klar belegt, wie sehr Burnside dieses Leben durchschaut hat, wie sehr er es mit seinem Blick durchdringt, ihm viele Geheimnisse abgerungen, sich Erkenntnisse erarbeitet hat, die den meisten Menschen wohl ewig verschlossen bleiben. Es ist ein Buch, das beispielhaft sein könnte für die Behauptung, dass es in der Kunst darum geht, Persönlichkeit in Ästhetik zu verwandeln. Die Persönlichkeit des Autors muss in seinem Text aufgehen, mit oder ohne autobiographischen Hintergrund, dann und nur dann entsteht jene Einheit von Erzähler und Erzähltem, die große Literatur erst möglich macht. Das weiß Burnside, so wie er weiß, dass Literaturwissenschaft für die Literatur da ist und nicht umgekehrt, dass die Autoren nicht bei den Literaturwissenschaftlern lernen müssen, wie Schreiben funktioniert, sondern dass die Literaturwissenschaftler bei den Schriftstellern lernen könnten, was alles Literatur sein kann; so wie er weiß, dass akademische Literatur eine Literatur ohne Geheimnisse ist und ohne Substanz, und deshalb schreibt er Bücher, die sich nicht wirklich zerpflücken lassen. Darin liegt die Magie seiner Literatur, ähnlich wie bei Denis Johnson, und tatsächlich ist das, was Burnside wie Johnson schriftstellerisch unternehmen, "etwas Neues, das, was immer schon da war" (Roberto Bolaño): eine Literatur des Unheimlichen vielleicht, eine Literatur, die mit unserem Unbewussten korrespondiert, die aus dem Bereich hinter dem Spiegel stammt, die vom Autor nicht beherrscht noch verstanden wird, in die Welt geworfen für den, der frei nach Bolaño bereit ist, sie als das Neue zu begreifen, das immer schon da war.
"Lügen über meinen Vater" ist ein Buch voller Sätze, die das eigene Leben plötzlich erhellen und den Leser verstehen lassen, was er seit Jahren und Jahrzehnten gefühlt und gedacht hat, ohne es je an die Oberfläche gebracht zu haben, eines jener Bücher, in dem man Sätze unterstreicht, mehr und mehr Sätze, bis man es sein lässt, weil es ja wenig Sinn macht, ganze Kapitel zu unterstreichen. Es ist ein Buch, in das man sich hineinbegibt, auf beinahe körperliche Weise, zugleich ist jedes Kapitel, jeder Satz etwas, das man fast wie Stoffliches zu sich nimmt. Es wurde von jemandem geschrieben, der die Mischung aus Erhabenheit und Lächerlichkeit kennt, die jedem Suchenden eigen ist, und der durch die Hölle von Drogen, Schmerz, Todessehnsucht und verzweifelter Einsamkeit gegangen ist, ohne daran zu zerbrechen, der sich - woran nur, fragt man sich beim Lesen und hat die Antwort in der Hand - an irgendetwas festgehalten hat, um dauerhaft zurückzukehren.
John Burnside: "Lügen über meinen Vater". Roman.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Knaus Verlag, München 2011. 382 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schotte John Burnside ist einer der größten Schriftsteller, und das Erinnerungsbuch "Lügen über meinen Vater" sein vielleicht stärkstes Werk.
Von Thomas Glavinic
Wie sich schreibend einem Autor wie John Burnside nähern? Wie sich über einen Schriftsteller äußern, dessen Werk einem so eindrucksvoll, so gewaltig erscheint, dass man lieber nichts sagen würde, lieber bloß jedem Menschen, dem man auf der Straße begegnet, seine Bücher in die Hand drücken und ihn zwingen würde, nach Hause zu laufen und das Haus nicht zu verlassen, ehe er nicht die letzte Zeile gelesen hat? Vielleicht muss man mit einem Hinweis beginnen. Die schottische Schriftstellerin A. L. Kennedy wird vom Knaus Verlag mit dem lapidaren Satz zitiert: "John Burnside ist ein bemerkenswerter Autor." Das ist möglicherweise das, was man britisches Understatement nennt, denn ihr 1955 geborener Landsmann ist einer der ungeheuerlichsten Schriftsteller der Welt.
In Deutschland wurde John Burnside mit "Die Spur des Teufels" sowie vor allem mit "Glister" bekannt, Romanen über Angst und Einsamkeit, über die Suche nach Gott in der Welt, doch vor allem in uns selbst, Büchern von hypnotischer Wucht und einer stilistischen Brillanz, die bei wenigen zeitgenössischen Autoren zu finden ist. Mit "Glister" gelang ihm sogar das Kunststück, in gewisser Weise zwei Handlungen zur gleichen Zeit stattfinden zu lassen, indem er uns auf einer Ebene des Textes den Mann, der Jungen aus dem verrotteten Dorf, in dem der Erzähler Leonard lebt, auf bestialische Weise tötet, als ein der übelsten Dunkelheit entstiegenes Monster lesen lässt, auf der anderen als Engel, der sie als Erlöser aus der Hölle ans Licht führt.
Nun erscheint sein im englischen Original 2006 veröffentlichtes Erinnerungsbuch "Lügen über meinen Vater" auf Deutsch. Der erste Absatz lautet: "Dieses Buch liest man am besten als ein Werk der Fiktion. Wäre mein Vater hier, um mit mir darüber zu reden, gäbe er mir bestimmt recht, wenn ich sagte, es sei ebenso wahr zu behaupten, dass ich nie einen Vater, wie dass er nie einen Sohn hatte." Damit ist vieles von diesem erdrückenden, erschütternden Buch über eine Kindheit und Jugend, die nie aufhört, ins spätere Leben fortzuwirken, gesagt.
Vordergründig geht es um das Aufwachsen des Erzählers, um seine Familie, um seinen Vater, den Alkoholiker und Gewaltmenschen, und um seine Mutter, die diesem nicht gewachsen ist und den Jungen während der nächtlichen Zornesausbrüche ihres Mannes drängt, aus dem Fenster zu springen und in der Nacht zu verschwinden, bis der Anfall vorüber ist. Es geht auch um seine Schwester Margaret und seinen Bruder Andrew, der bei der Geburt stirbt: "Ich bekam ihn nie zu sehen, doch hatte ich nun einen weiteren Geist, um den ich mich kümmern musste." Gesichtslose Onkel, Tanten, Bekannte, Saufkumpane des Vaters, Mitschüler, Lehrer und Freunde ziehen am Leser vorüber, doch auf jeder Seite wird vor allem von jenem Duell berichtet, das dieser Sohn mit seinem Vater ausfechten muss, das er annimmt, auf das er aber gern verzichtet hätte.
John Burnside erzählt von seiner Jugend in Schottland und England, von seinem Aufwachsen in strukturschwachen Ortschaften, in denen sich der Gelegenheitsjobs ausübende Vater je nach Laune und Trunkenheitsgrad immer wieder neue Geschichten über seine Herkunft ausdenkt, in denen er aber auch neue Grausamkeiten ersinnt, mit denen er den Sohn auf manchmal subtile, manchmal offenherzig brutale Weise quält, ob er nun ausspricht, was er fühlt, dass nämlich John derjenige hätte gewesen sein sollen, der bei der Geburt starb, oder ob er ihm schlicht den Teddy verbrennt: Das Gefühl des Ausgeliefertseins erschüttert den Leser auf jeder Seite. Dabei wird Burnside niemals sentimental, niemals larmoyant, er erzählt in luzider, kristallener Sprache von seinem eigenen Untergang ins Dunkle hinein, von seinem Weg in den Alkoholismus, in die Drogen, ins Verschwinden und Vergessen. Er erzählt von einem Leben, in dem der Vater immer präsent sein wird, in dem der Schatten jenes Mannes, den er hasst und liebt, immer über ihm sein wird: "Ich kann nicht über ihn reden, ohne über mich selbst zu reden, so wie ich nie in den Spiegel sehen kann, ohne sein Gesicht zu sehen."
Angst, Dämonen, funkelnde Schwärze, in uns und in der Welt: das ist es, was Burnside in seinen Büchern beschwört, in jedem einzelnen und in diesem besonders. Er erzählt eine ungemütliche Geschichte von einem Leben als Einzelwesen, das seine Umwelt staunend betrachtet, ohne sie je verstehen zu können. Vom Leben jedes Menschen als jemand, der in einer Reihenfolge steht, als jemand, der Sohn oder Tochter von jemandem ist, der wiederum Sohn oder Tochter von jemandem ist, und von der fast tragischen Tatsache, dass wir daran nichts ändern können. Wir alle sind zum Lieben geboren, wir sind dafür geboren, unsere Eltern zu lieben, auch wenn wir sie hassen und wenn sie unseren Hass hundert und tausend Mal verdient haben, ja auch wenn sie uns nicht lieben. Nicht jeder Mensch liebt seine Kinder. Nicht alle von uns werden von ihren Eltern geliebt. Dies sich einzugestehen, damit zu leben ist für manchen eine Aufgabe, mit der zeitlebens nur schwer fertig zu werden ist.
In diesem Buch findet sich kaum eine Seite, die nicht klar belegt, wie sehr Burnside dieses Leben durchschaut hat, wie sehr er es mit seinem Blick durchdringt, ihm viele Geheimnisse abgerungen, sich Erkenntnisse erarbeitet hat, die den meisten Menschen wohl ewig verschlossen bleiben. Es ist ein Buch, das beispielhaft sein könnte für die Behauptung, dass es in der Kunst darum geht, Persönlichkeit in Ästhetik zu verwandeln. Die Persönlichkeit des Autors muss in seinem Text aufgehen, mit oder ohne autobiographischen Hintergrund, dann und nur dann entsteht jene Einheit von Erzähler und Erzähltem, die große Literatur erst möglich macht. Das weiß Burnside, so wie er weiß, dass Literaturwissenschaft für die Literatur da ist und nicht umgekehrt, dass die Autoren nicht bei den Literaturwissenschaftlern lernen müssen, wie Schreiben funktioniert, sondern dass die Literaturwissenschaftler bei den Schriftstellern lernen könnten, was alles Literatur sein kann; so wie er weiß, dass akademische Literatur eine Literatur ohne Geheimnisse ist und ohne Substanz, und deshalb schreibt er Bücher, die sich nicht wirklich zerpflücken lassen. Darin liegt die Magie seiner Literatur, ähnlich wie bei Denis Johnson, und tatsächlich ist das, was Burnside wie Johnson schriftstellerisch unternehmen, "etwas Neues, das, was immer schon da war" (Roberto Bolaño): eine Literatur des Unheimlichen vielleicht, eine Literatur, die mit unserem Unbewussten korrespondiert, die aus dem Bereich hinter dem Spiegel stammt, die vom Autor nicht beherrscht noch verstanden wird, in die Welt geworfen für den, der frei nach Bolaño bereit ist, sie als das Neue zu begreifen, das immer schon da war.
"Lügen über meinen Vater" ist ein Buch voller Sätze, die das eigene Leben plötzlich erhellen und den Leser verstehen lassen, was er seit Jahren und Jahrzehnten gefühlt und gedacht hat, ohne es je an die Oberfläche gebracht zu haben, eines jener Bücher, in dem man Sätze unterstreicht, mehr und mehr Sätze, bis man es sein lässt, weil es ja wenig Sinn macht, ganze Kapitel zu unterstreichen. Es ist ein Buch, in das man sich hineinbegibt, auf beinahe körperliche Weise, zugleich ist jedes Kapitel, jeder Satz etwas, das man fast wie Stoffliches zu sich nimmt. Es wurde von jemandem geschrieben, der die Mischung aus Erhabenheit und Lächerlichkeit kennt, die jedem Suchenden eigen ist, und der durch die Hölle von Drogen, Schmerz, Todessehnsucht und verzweifelter Einsamkeit gegangen ist, ohne daran zu zerbrechen, der sich - woran nur, fragt man sich beim Lesen und hat die Antwort in der Hand - an irgendetwas festgehalten hat, um dauerhaft zurückzukehren.
John Burnside: "Lügen über meinen Vater". Roman.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Knaus Verlag, München 2011. 382 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
John Burnside wird von der Kritik gemeinhin als "brillanter Apokalyptiker" gewürdigt, und Rezensent Christoph Schröder weiß nach der Lektüre von "Lügen über meinen Vater" einmal mehr warum. Denn dieser Roman, im Original vor "Die Spur des Teufels" und "Glister" erschienen, hat den Rezensenten in eine Welt aus "Halluzination, Delirium und Selbstauslöschung" geführt, die ihm psychisch noch "brutaler" erscheint als die seiner Nachfolger. Während der erste Teil des Romans die Übermacht des Vaters schildert, der seine armselige Existenz durch Lügen, Saufen und Prügeln kompensiert, liest Schröder den zweiten Teil als Fallstudie des "kaputten" Ich-Erzählers, der den Qualen der Kindheit durch Alkohol und Drogen zu entfliehen versucht. Einzig die Literatur verspricht Erlösung. Nicht nur der "nüchterne" und "illusionslose" Erzählstil dieses "beeindruckenden" Romans, sondern vor allem das Wissen darum, dass es sich bei dem Ich-Erzähler um niemanden anderen als Burnside selbst handelt, hat den Kritiker an die Grenze des Erträglichen geführt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"John Burnside ist einer der sprachmächtigsten Sinnsucher der britischen Literatur." Elmar Krekeler, Die Welt