Steffen Mau wächst in den siebziger Jahren im Rostocker Neubauviertel Lütten Klein auf. 1989 dient er bei der NVA, nach der Wende studiert er, wird schließlich Professor. 30 Jahre nach dem Mauerfall zieht Mau eine persönliche und sozialwissenschaftliche Bilanz. Er nimmt die gesellschaftlichen Brüche in den Blick, an denen sich Verbitterung und Unmut entzünden. Er spricht mit Weggezogenen und Dagebliebenen, schaut zurück auf das Leben in einem Staat, den es nicht mehr gibt. Wie wurde aus der Stadt, in der er gemeinsam mit Kindern aller Schichten seine Jugend verbrachte, ein Ort sozialer Spaltung? Was sind die Ursachen für Unzufriedenheit und politische Entfremdung in den neuen Ländern?
»Steffen Maus Studie über das DDR-Wohnviertel Lütten Klein steckt voll anregender Provokationen.« Frank Pergande Frankfurter Allgemeine Zeitung 20191008
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.08.2019Manche strauchelten heftig
Woher kommt die Wut im Osten? Der Soziologe Steffen Mau über die
Rostocker Neubausiedlung Lütten Klein, in der er aufgewachsen ist
VON BURKHARD MÜLLER
Der Erklärungsbedarf ist derzeit hoch: Warum nur, nachdem er drei Jahrzehnte lang die geforderten Anpassungsleistungen mehr oder weniger folgsam und erfolgreich geliefert hat, bockt der deutsche Osten auf einmal und neigt sich einem rechten Populismus zu, der behauptet, für etwas Älteres, Echteres und Besseres zu stehen, als es BRD, EU, und Globalisierung zu bieten haben?
Steffen Mau, Verfasser des Buchs „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“, nimmt für sich als Alleinstellungsmerkmal das Privileg eines doppelten Zugangs in Anspruch. Er ist heute Professor für Soziologie, stammt aber aus der titelgebenden Rostocker Neubausiedlung Lütten Klein und wurde von der Wende überrollt, als er gerade seinen Dienst bei der Nationalen Volksarmee versah. Er versteht sich als jemand, der seinen Gegenstand von innen und außen zugleich ins Auge fasst und empirisch im doppelten Sinn des Worts verfährt, nämlich als Wissenschaftler und als Teil jener Lebenswelt, die er untersucht.
Eine solch doppelte Blickachse kann je nachdem erst die volle räumliche Tiefe erschließen – oder ins Schielen verfallen, wenn die differierenden Bilder nicht zur Synthese finden. Mau berichtet, wie er sich in der Zeit des Umbruchs von seinem alten Milieu entfernt und nur noch gelegentlich dorthin zurückkehrt. „Aus der Teilnehmer- wechselte ich in eine Besucher- und Beobachterperspektive, was für mich als jungen Soziologiestudenten natürlich besonders interessant war, da ich mich intensiv mit der damals boomenden Transformationsforschung beschäftigte. (…) Das Feldexperiment lief auf vollen Touren und erfasste Bekannte, Nachbarn, ehemalige Mitschüler, von denen manche heftig strauchelten.“ Und wenig später: „Gerade weil sie aus der Mitte der Gesellschaft stammten, war es umso schwerer zu ertragen, mit ansehen zu müssen, wie sie unter die Schwelle vor Kurzem noch geltender Anerkennungsstandards gerieten.“
Das flapsige Nebeneinander von Beobachterperspektive beim großen „Feldexperiment“ und Nichtmitansehenkönnen im privaten Bereich erweckt den Eindruck des Zynismus. Zynismus hat nichts Teuflisches. Zynisch ist, wer die Brille abnimmt und sich mit geschlossenen Augen den Nasenrücken reibt, weil er nicht die Kraft hat, die offenkundige Diskrepanz beim Namen zu nennen, als läge letztlich nichts daran, und als käme er persönlich auch so davon. Dass ein solcher Zynismus unbewusst und unfreiwillig wäre, mag den verlorenen Sohn Rostocks entschuldigen; doch schwerlich den Wissenschaftler, der sich über die Voraussetzungen seiner Tätigkeit unzulängliche Rechenschaft gibt.
Auch in der Art der Darstellung bricht sich dieses Zweierlei Bahn. Insgesamt wiegt der wissenschaftliche Duktus vor, doch dazwischen schieben sich immer wieder persönliche Erfahrungsberichte, die in dieser Vereinzelung allerdings nicht über das Anekdotische hinauskommen. Mau betont, dass er für sein Buch mit Dutzenden von früheren und gegenwärtigen Bewohnern der Siedlung gesprochen habe; aber deren Beiträge bleiben marginal in einer Weise, die an Herablassung grenzt. Als der junge Student während der Ausländerjagden von 1992 mit dem Rad nach Lichtenhagen fährt, das gleich neben Lütten Klein liegt – eine einmalige Gelegenheit! – vermag er weder als Landsmann noch als Augenzeuge noch als Soziologe viel Erhellendes zur Lage beizusteuern; alles geht irgendwie durcheinander.
Auch sonst trägt das Buch Züge mangelnder Reflexion. Dass im deutschen Osten einer Umfrage zufolge nahezu zwei Drittel der Bevölkerung die Demokratie nicht notwendig für die beste Staats- und Regierungsform halten, führt bei Mau nur zu sorgenvollem Kopfschütteln. Der lehrreiche Widersinn eines demokratisch legitimierten Antidemokratismus geht ihm nicht auf. Er stellt zur Debatte, ob der Trend zur populistischen Radikalisierung eher in der Klasse oder der Kultur begründet liegt, ohne (außer in einem schwachen Nachklapp) das dialektische Verhältnis der beiden zu registrieren, wo er als gelernter DDR-Bürger doch eigentlich etwas von Basis und Überbau gehört haben sollte.
Und er glaubt allen Ernstes, sich die Frage ersparen zu dürfen, ob es sich bei der Wende von 1989 um eine Revolution oder um eine „Implosion“ des Systems gehandelt, ob das Volk sie also vollbracht oder erlitten habe – das wäre ja Politik! Überhaupt kann man an diesem Buch einiges darüber lernen, zu welchen Blind- und Fehlstellen es führt, wenn soziologische Fragen ausschließlich mit den Methoden der Soziologie bearbeitet werden.
Ansonsten hat das Buch das relative Verdienst, auf rund 250 Seiten einen Abriss zur viel diskutierten Frage zu bieten, weshalb der Osten, obschon dreißig Jahre vereinigt, immer noch nicht so recht angekommen scheint. Von einem Abriss sollte man billigerweise keine Originalität erwarten.
Das weitaus meiste von dem, was Mau zu sagen hat, kennt man bereits aus anderen Quellen: dass die DDR eine nach unten nivellierte Gesellschaft gewesen ist; dass Begünstigungs- und Tauschwirtschaft eine erhebliche Rolle spielten; dass die herrschende Elite sich zwar gegen die Bürger weitgehend abschottete, aber, von ein paar Volvos und Westschnäpsen abgesehen, kaum nennenswerte materielle Vorteile genoss (ein Sozialismus mit menschlichem Wandlitz sozusagen). Auch von den Gründen, aus denen die Unzufriedenheit zunimmt, hat man schon gehört, von all den Fehlern, die absichtlich oder unabsichtlich bei der Vereinigung gemacht wurden, von Besserwessis und Jammerossis, existenzieller Verunsicherung, Elitenaustausch und Ohnmachtserfahrung.
Einen selbständigen Ansatz lässt Mau am ehesten im Nachdruck erkennen, den er auf zwei Punkte legt: Der heutige völkische Furor der östlichen Rechtsgruppen habe seine Wurzel in dem vereinheitlichenden Nationalgefühl, das der Westen 1990 geschürt hat, um von den hinderlichen Differenzen abzulenken. Und der Unmut über die Zuwanderung von Flüchtlingen und Fremden entspringe einer tiefen Erschöpfung und dem Widerstand dagegen, sich nach den traumatischen Verwerfungen am Ende der DDR schon wieder in einer gewandelten, globalisierten Welt neu orientieren zu sollen. „Das Ganze nicht noch einmal!“, sei der angsthafte Affekt, der hinter der Wut auf die Ankömmlinge stecke.
Mau bietet kein Rezept, wie der gegenwärtige Zustand zu ändern wäre; das sollte man ihm nicht zum Vorwurf machen. Wohl aber ist der Begriff unbefriedigend, auf den er diesen Zustand bringt. In der Soziologie gibt es offenbar so etwas wie einen Preis für denjenigen, der die jeweils aktuelle Gesellschaft auf einen neuen, zugespitzten Namen tauft: So haben wir die Leistungs-, die Bildungs-, die Freizeit-, die Risiko- und manche andere Gesellschaft vorgesetzt bekommen. Da möchte auch Mau dabei sein und spricht, nachdem er von der Tatsache der Transformationsgesellschaft ausgegangen ist, im letzten Kapitel von einer „frakturierten“ Gesellschaft, einer Gesellschaft der Brüche also. Dass es sich bei der ostdeutschen Gesellschaft in vielfacher Hinsicht um eine solche handelt, wird niemand bestreiten. Aber das erklärt nichts; es stellt jenen Befund dar, der allererst zu erklären wäre.
Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 286 Seiten, 22 Euro.
Mau erspart sich die Frage, ob die
Wende von 1989 eine Revolution
war oder eine „Implosion“
Am Ende spricht Mau von einer
„frakturierten“ Gesellschaft,
einer Gesellschaft der Brüche
Lütten Klein im Nordwesten Rostocks, festlich beflaggt zur 14. Ostseewoche im Juli 1971. Die Plattenbausiedlung wurde in den Sechzigerjahren im Rahmen des Wohnungsbauprogramms der DDR auf freiem Feld errichtet.
Foto: dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Woher kommt die Wut im Osten? Der Soziologe Steffen Mau über die
Rostocker Neubausiedlung Lütten Klein, in der er aufgewachsen ist
VON BURKHARD MÜLLER
Der Erklärungsbedarf ist derzeit hoch: Warum nur, nachdem er drei Jahrzehnte lang die geforderten Anpassungsleistungen mehr oder weniger folgsam und erfolgreich geliefert hat, bockt der deutsche Osten auf einmal und neigt sich einem rechten Populismus zu, der behauptet, für etwas Älteres, Echteres und Besseres zu stehen, als es BRD, EU, und Globalisierung zu bieten haben?
Steffen Mau, Verfasser des Buchs „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“, nimmt für sich als Alleinstellungsmerkmal das Privileg eines doppelten Zugangs in Anspruch. Er ist heute Professor für Soziologie, stammt aber aus der titelgebenden Rostocker Neubausiedlung Lütten Klein und wurde von der Wende überrollt, als er gerade seinen Dienst bei der Nationalen Volksarmee versah. Er versteht sich als jemand, der seinen Gegenstand von innen und außen zugleich ins Auge fasst und empirisch im doppelten Sinn des Worts verfährt, nämlich als Wissenschaftler und als Teil jener Lebenswelt, die er untersucht.
Eine solch doppelte Blickachse kann je nachdem erst die volle räumliche Tiefe erschließen – oder ins Schielen verfallen, wenn die differierenden Bilder nicht zur Synthese finden. Mau berichtet, wie er sich in der Zeit des Umbruchs von seinem alten Milieu entfernt und nur noch gelegentlich dorthin zurückkehrt. „Aus der Teilnehmer- wechselte ich in eine Besucher- und Beobachterperspektive, was für mich als jungen Soziologiestudenten natürlich besonders interessant war, da ich mich intensiv mit der damals boomenden Transformationsforschung beschäftigte. (…) Das Feldexperiment lief auf vollen Touren und erfasste Bekannte, Nachbarn, ehemalige Mitschüler, von denen manche heftig strauchelten.“ Und wenig später: „Gerade weil sie aus der Mitte der Gesellschaft stammten, war es umso schwerer zu ertragen, mit ansehen zu müssen, wie sie unter die Schwelle vor Kurzem noch geltender Anerkennungsstandards gerieten.“
Das flapsige Nebeneinander von Beobachterperspektive beim großen „Feldexperiment“ und Nichtmitansehenkönnen im privaten Bereich erweckt den Eindruck des Zynismus. Zynismus hat nichts Teuflisches. Zynisch ist, wer die Brille abnimmt und sich mit geschlossenen Augen den Nasenrücken reibt, weil er nicht die Kraft hat, die offenkundige Diskrepanz beim Namen zu nennen, als läge letztlich nichts daran, und als käme er persönlich auch so davon. Dass ein solcher Zynismus unbewusst und unfreiwillig wäre, mag den verlorenen Sohn Rostocks entschuldigen; doch schwerlich den Wissenschaftler, der sich über die Voraussetzungen seiner Tätigkeit unzulängliche Rechenschaft gibt.
Auch in der Art der Darstellung bricht sich dieses Zweierlei Bahn. Insgesamt wiegt der wissenschaftliche Duktus vor, doch dazwischen schieben sich immer wieder persönliche Erfahrungsberichte, die in dieser Vereinzelung allerdings nicht über das Anekdotische hinauskommen. Mau betont, dass er für sein Buch mit Dutzenden von früheren und gegenwärtigen Bewohnern der Siedlung gesprochen habe; aber deren Beiträge bleiben marginal in einer Weise, die an Herablassung grenzt. Als der junge Student während der Ausländerjagden von 1992 mit dem Rad nach Lichtenhagen fährt, das gleich neben Lütten Klein liegt – eine einmalige Gelegenheit! – vermag er weder als Landsmann noch als Augenzeuge noch als Soziologe viel Erhellendes zur Lage beizusteuern; alles geht irgendwie durcheinander.
Auch sonst trägt das Buch Züge mangelnder Reflexion. Dass im deutschen Osten einer Umfrage zufolge nahezu zwei Drittel der Bevölkerung die Demokratie nicht notwendig für die beste Staats- und Regierungsform halten, führt bei Mau nur zu sorgenvollem Kopfschütteln. Der lehrreiche Widersinn eines demokratisch legitimierten Antidemokratismus geht ihm nicht auf. Er stellt zur Debatte, ob der Trend zur populistischen Radikalisierung eher in der Klasse oder der Kultur begründet liegt, ohne (außer in einem schwachen Nachklapp) das dialektische Verhältnis der beiden zu registrieren, wo er als gelernter DDR-Bürger doch eigentlich etwas von Basis und Überbau gehört haben sollte.
Und er glaubt allen Ernstes, sich die Frage ersparen zu dürfen, ob es sich bei der Wende von 1989 um eine Revolution oder um eine „Implosion“ des Systems gehandelt, ob das Volk sie also vollbracht oder erlitten habe – das wäre ja Politik! Überhaupt kann man an diesem Buch einiges darüber lernen, zu welchen Blind- und Fehlstellen es führt, wenn soziologische Fragen ausschließlich mit den Methoden der Soziologie bearbeitet werden.
Ansonsten hat das Buch das relative Verdienst, auf rund 250 Seiten einen Abriss zur viel diskutierten Frage zu bieten, weshalb der Osten, obschon dreißig Jahre vereinigt, immer noch nicht so recht angekommen scheint. Von einem Abriss sollte man billigerweise keine Originalität erwarten.
Das weitaus meiste von dem, was Mau zu sagen hat, kennt man bereits aus anderen Quellen: dass die DDR eine nach unten nivellierte Gesellschaft gewesen ist; dass Begünstigungs- und Tauschwirtschaft eine erhebliche Rolle spielten; dass die herrschende Elite sich zwar gegen die Bürger weitgehend abschottete, aber, von ein paar Volvos und Westschnäpsen abgesehen, kaum nennenswerte materielle Vorteile genoss (ein Sozialismus mit menschlichem Wandlitz sozusagen). Auch von den Gründen, aus denen die Unzufriedenheit zunimmt, hat man schon gehört, von all den Fehlern, die absichtlich oder unabsichtlich bei der Vereinigung gemacht wurden, von Besserwessis und Jammerossis, existenzieller Verunsicherung, Elitenaustausch und Ohnmachtserfahrung.
Einen selbständigen Ansatz lässt Mau am ehesten im Nachdruck erkennen, den er auf zwei Punkte legt: Der heutige völkische Furor der östlichen Rechtsgruppen habe seine Wurzel in dem vereinheitlichenden Nationalgefühl, das der Westen 1990 geschürt hat, um von den hinderlichen Differenzen abzulenken. Und der Unmut über die Zuwanderung von Flüchtlingen und Fremden entspringe einer tiefen Erschöpfung und dem Widerstand dagegen, sich nach den traumatischen Verwerfungen am Ende der DDR schon wieder in einer gewandelten, globalisierten Welt neu orientieren zu sollen. „Das Ganze nicht noch einmal!“, sei der angsthafte Affekt, der hinter der Wut auf die Ankömmlinge stecke.
Mau bietet kein Rezept, wie der gegenwärtige Zustand zu ändern wäre; das sollte man ihm nicht zum Vorwurf machen. Wohl aber ist der Begriff unbefriedigend, auf den er diesen Zustand bringt. In der Soziologie gibt es offenbar so etwas wie einen Preis für denjenigen, der die jeweils aktuelle Gesellschaft auf einen neuen, zugespitzten Namen tauft: So haben wir die Leistungs-, die Bildungs-, die Freizeit-, die Risiko- und manche andere Gesellschaft vorgesetzt bekommen. Da möchte auch Mau dabei sein und spricht, nachdem er von der Tatsache der Transformationsgesellschaft ausgegangen ist, im letzten Kapitel von einer „frakturierten“ Gesellschaft, einer Gesellschaft der Brüche also. Dass es sich bei der ostdeutschen Gesellschaft in vielfacher Hinsicht um eine solche handelt, wird niemand bestreiten. Aber das erklärt nichts; es stellt jenen Befund dar, der allererst zu erklären wäre.
Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 286 Seiten, 22 Euro.
Mau erspart sich die Frage, ob die
Wende von 1989 eine Revolution
war oder eine „Implosion“
Am Ende spricht Mau von einer
„frakturierten“ Gesellschaft,
einer Gesellschaft der Brüche
Lütten Klein im Nordwesten Rostocks, festlich beflaggt zur 14. Ostseewoche im Juli 1971. Die Plattenbausiedlung wurde in den Sechzigerjahren im Rahmen des Wohnungsbauprogramms der DDR auf freiem Feld errichtet.
Foto: dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2019Umstandslose Abrissbirne
Steffen Maus Studie über das DDR-Wohnviertel Lütten Klein steckt voll anregender Provokationen
Lütten Klein heißt ein Wohngebiet zwischen der Rostocker Innenstadt und Warnemünde an der Ostsee. Ein Plattenbaugebiet, in der DDR sagte man Neubaugebiet. 40 000 Menschen haben in den achtziger Jahren dort gewohnt. Und sie lebten gern dort, die ferngeheizten Wohnungen waren begehrt, Kindergarten und Schule, Kaufhalle und Ärztehaus (Ambulatorium) lagen gleich um die Ecke, ebenso der S-Bahnhof. Bis zum Strand war es nicht weit, auch nicht bis zu den Arbeitsplätzen vor allem im Schiffbau. In Lütten Klein ist der Soziologe Steffen Mau aufgewachsen. "Lütten Klein" heißt auch sein aktuelles Buch, eine Studie über das "Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft". Er beschreibt im ersten Teil das Leben in der DDR, um dann im zweiten zu zeigen, wie die DDR der Westen wurde und was dabei mit den Ostdeutschen geschah. Immer wieder kommt er auf sein Heimatviertel zu sprechen. Denn alles, was er zu sagen hat, lässt sich in Lütten Klein wie an einem Modell zeigen. Es ist also eine Mischung aus wissenschaftlicher Studie und persönlichem Erinnern. Solche Nähe zum Forschungsgegenstand ist problematisch, macht die Darstellung andererseits aber auch lebendiger und vielleicht auch schlüssiger.
In der DDR-Zeit war Lütten Klein voller junger Leute, Rentner gab es kaum. Heute ist es umgekehrt. Die Kaufhalle ist von einem neu errichteten Einkaufszentrum abgelöst worden, groß wie ein Fußballfeld. Eine Wiese wurde zu einem Boulevard. Mau lebt schon längst nicht mehr dort, auch seine Eltern wohnen seit Jahren ein paar Kilometer entfernt in einem eigenen Haus. Mau besuchte für seine Recherchen noch einmal die alte Wohnung, er traf auf eine Rentnerin, die gerade dabei war, im alten Kinderzimmer zwei afghanischen Flüchtlingsmädchen Deutsch beizubringen. Beim Blick aus dem Fenster bemerkte er, dass die Aussicht inzwischen eine völlig andere ist. Er habe, schreibt er, sowohl Distanz als auch Nähe empfunden: "Distanz, weil mein eigenes Leben heute mit dem Lütten Kleiner Alltag so wenig gemein hat; Nähe, weil mir die Art, auf die Welt zu schauen, und das mentale Gepäck vieler Bewohner denn doch vertraut waren."
Erstaunlich am DDR-Teil ist der wohlwollende Ton. Vielleicht liegt es daran, dass Mau hier auch über seine Jugend schreibt, an die er sich gern erinnert. Da heißt es geradezu stolz: "Ob in der Jugendkultur, in den Datschensiedlungen, bei Festivals, am FKK-Strand oder in der Kleinkunstszene - an vielen Orten spross ein Eigenleben, das manche westliche Beobachter (und manchmal sogar uns selbst) überraschte." Mau liebt zudem subtile Seitenhiebe auf den Westen. Etwa wenn er sagt: "Das Biografiemodell der DDR war eines der frühen Elternschaft und der frühen Eheschließung, nicht der ewig andauernden Postadoleszenz". Oder noch provozierender: "Vermutlich konnte man in der DDR der achtziger Jahre einfacher und unreflektierter Deutscher (und DDR-Bürger) sein als in der Bundesrepublik." Am Schluss des DDR-Kapitels nennt Mau eine Reihe von Gründen, warum es mit der DDR zu Ende gehen musste. Einer lautet aus seiner Sicht: mangelnde Aufstiegsmöglichkeiten für die Jugend. Aber sind die DDR-Bürger im Herbst 1989 tatsächlich deswegen auf die Straße gegangen? Nein, ihr Hauptziel war schon größer: Sie wollten endlich Freiheit.
Im zweiten Teil des Buches wird es richtig niederschmetternd. Etwas vergröbert lässt sich Maus Darstellung so zusammenfassen: Der Westen vereinnahmte den Osten und hinterließ dabei Verheerungen wie Massenarbeitslosigkeit, Deklassierung, gebrochene Biographien, zerstörte soziale Bindungen, noch weniger Chancen zum Aufstieg, einen beispiellosen Geburtenrückgang, verwahrloste Männer, eine Neigung zu autoritären politischen Angeboten - und überdies eine Kanzlerin, die sich als Ostdeutsche nur deshalb halten kann, weil sie auf ihre ostdeutsche Herkunft nichts gibt. Mau sagt sogar, durch den Westeinfluss sei das demokratische Projekt einer deutschen Einheit vom nationalen Projekt überlagert worden. Schon der Einigungsvertrag sei einer Kapitulation gleichgekommen. Das alles sei den Ostdeutschen schlecht bekommen: "Die Selbstabschaffung und die diskursive Entwertung der Deutschen Demokratischen Republik ließen die Quellen der (positiven) Bezugnahme auf die eigenen Wurzeln austrocknen." Oder: "Eine Liste der ,Errungenschaften in der DDR' wurde nie verfertigt, die Abrissbirne umstandslos angesetzt." Mau spricht von "sozialen Frakturen", die zwar schon in der DDR angelegt waren, aber erst nach dem DDR-Ende so richtig schlimm wurden, sogar mit der Gefahr "dauerhafter Fehlstellungen". Die Treuhand etwa erscheint als ein Monster, das im Osten alles kaputtgemacht hat.
Weiß der Autor wirklich nicht, wie hoch damals der Druck war, wirtschaftlich, politisch? Wie sehr die DDR am Ende war und wie schnell gehandelt werden musste, ohne dass alles vorher erst lange hätte bedacht werden können? Weiß er wirklich nicht, dass weder die Westdeutschen einen realistischen Blick auf den Osten haben konnten noch die Ostdeutschen auf den Westen und also der Kulturschock unvermeidbar war? Und dass es dafür doch noch ganz gut gegangen ist? Merkt er nicht, dass längst das Ostdeutsche schleichend auch den Westen verändert? Dass er selbst, inzwischen ein namhafter Soziologe, das lebt?
Nun sind andererseits viele von Maus Beobachtungen nicht einfach von der Hand zu weisen. In seinem Buch lässt sich einiges darüber lernen, weshalb die AfD im Osten so stark ist und die Nazi-Szene an manchen Orten so auffällig: "Der Mut der Wendezeit findet in ihnen seine - gespenstischen - Wiedergänger." (Die AfD plakatierte im Brandenburger Wahlkampf: "Vollende die Wende".) Populisten hätten im Osten so große Chancen, weil sie "ein Angebot in der Tasche haben, das kaum zu schlagen zu sein scheint, weil es die Menschen von Zumutungen entlastet: Die Welt muss verändert werden, um sich an dich anzupassen." Auch Mau beschreibt ja vor allem die Welt derer, die heute noch in Lütten Klein wohnen, die den Systemwechsel mehr oder weniger passiv über sich ergehen ließen. Von denen einige sogar zu "mentalen Sitzenbleibern der Sozialisationsanstalt DDR" wurden. Das bleibt aber nur ein Teil der Wahrheit. Das soziale Ergebnis der deutschen Einheit ist keineswegs nur ein schwarzer Abgrund, im Gegenteil. Schon ein einfaches Gedankenexperiment hellt die Stimmung auf. Man stelle sich nur einmal vor, wie schlimm es heute in Lütten Klein aussähe, gäbe es die DDR noch.
FRANK PERGANDE
Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 284 S., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Steffen Maus Studie über das DDR-Wohnviertel Lütten Klein steckt voll anregender Provokationen
Lütten Klein heißt ein Wohngebiet zwischen der Rostocker Innenstadt und Warnemünde an der Ostsee. Ein Plattenbaugebiet, in der DDR sagte man Neubaugebiet. 40 000 Menschen haben in den achtziger Jahren dort gewohnt. Und sie lebten gern dort, die ferngeheizten Wohnungen waren begehrt, Kindergarten und Schule, Kaufhalle und Ärztehaus (Ambulatorium) lagen gleich um die Ecke, ebenso der S-Bahnhof. Bis zum Strand war es nicht weit, auch nicht bis zu den Arbeitsplätzen vor allem im Schiffbau. In Lütten Klein ist der Soziologe Steffen Mau aufgewachsen. "Lütten Klein" heißt auch sein aktuelles Buch, eine Studie über das "Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft". Er beschreibt im ersten Teil das Leben in der DDR, um dann im zweiten zu zeigen, wie die DDR der Westen wurde und was dabei mit den Ostdeutschen geschah. Immer wieder kommt er auf sein Heimatviertel zu sprechen. Denn alles, was er zu sagen hat, lässt sich in Lütten Klein wie an einem Modell zeigen. Es ist also eine Mischung aus wissenschaftlicher Studie und persönlichem Erinnern. Solche Nähe zum Forschungsgegenstand ist problematisch, macht die Darstellung andererseits aber auch lebendiger und vielleicht auch schlüssiger.
In der DDR-Zeit war Lütten Klein voller junger Leute, Rentner gab es kaum. Heute ist es umgekehrt. Die Kaufhalle ist von einem neu errichteten Einkaufszentrum abgelöst worden, groß wie ein Fußballfeld. Eine Wiese wurde zu einem Boulevard. Mau lebt schon längst nicht mehr dort, auch seine Eltern wohnen seit Jahren ein paar Kilometer entfernt in einem eigenen Haus. Mau besuchte für seine Recherchen noch einmal die alte Wohnung, er traf auf eine Rentnerin, die gerade dabei war, im alten Kinderzimmer zwei afghanischen Flüchtlingsmädchen Deutsch beizubringen. Beim Blick aus dem Fenster bemerkte er, dass die Aussicht inzwischen eine völlig andere ist. Er habe, schreibt er, sowohl Distanz als auch Nähe empfunden: "Distanz, weil mein eigenes Leben heute mit dem Lütten Kleiner Alltag so wenig gemein hat; Nähe, weil mir die Art, auf die Welt zu schauen, und das mentale Gepäck vieler Bewohner denn doch vertraut waren."
Erstaunlich am DDR-Teil ist der wohlwollende Ton. Vielleicht liegt es daran, dass Mau hier auch über seine Jugend schreibt, an die er sich gern erinnert. Da heißt es geradezu stolz: "Ob in der Jugendkultur, in den Datschensiedlungen, bei Festivals, am FKK-Strand oder in der Kleinkunstszene - an vielen Orten spross ein Eigenleben, das manche westliche Beobachter (und manchmal sogar uns selbst) überraschte." Mau liebt zudem subtile Seitenhiebe auf den Westen. Etwa wenn er sagt: "Das Biografiemodell der DDR war eines der frühen Elternschaft und der frühen Eheschließung, nicht der ewig andauernden Postadoleszenz". Oder noch provozierender: "Vermutlich konnte man in der DDR der achtziger Jahre einfacher und unreflektierter Deutscher (und DDR-Bürger) sein als in der Bundesrepublik." Am Schluss des DDR-Kapitels nennt Mau eine Reihe von Gründen, warum es mit der DDR zu Ende gehen musste. Einer lautet aus seiner Sicht: mangelnde Aufstiegsmöglichkeiten für die Jugend. Aber sind die DDR-Bürger im Herbst 1989 tatsächlich deswegen auf die Straße gegangen? Nein, ihr Hauptziel war schon größer: Sie wollten endlich Freiheit.
Im zweiten Teil des Buches wird es richtig niederschmetternd. Etwas vergröbert lässt sich Maus Darstellung so zusammenfassen: Der Westen vereinnahmte den Osten und hinterließ dabei Verheerungen wie Massenarbeitslosigkeit, Deklassierung, gebrochene Biographien, zerstörte soziale Bindungen, noch weniger Chancen zum Aufstieg, einen beispiellosen Geburtenrückgang, verwahrloste Männer, eine Neigung zu autoritären politischen Angeboten - und überdies eine Kanzlerin, die sich als Ostdeutsche nur deshalb halten kann, weil sie auf ihre ostdeutsche Herkunft nichts gibt. Mau sagt sogar, durch den Westeinfluss sei das demokratische Projekt einer deutschen Einheit vom nationalen Projekt überlagert worden. Schon der Einigungsvertrag sei einer Kapitulation gleichgekommen. Das alles sei den Ostdeutschen schlecht bekommen: "Die Selbstabschaffung und die diskursive Entwertung der Deutschen Demokratischen Republik ließen die Quellen der (positiven) Bezugnahme auf die eigenen Wurzeln austrocknen." Oder: "Eine Liste der ,Errungenschaften in der DDR' wurde nie verfertigt, die Abrissbirne umstandslos angesetzt." Mau spricht von "sozialen Frakturen", die zwar schon in der DDR angelegt waren, aber erst nach dem DDR-Ende so richtig schlimm wurden, sogar mit der Gefahr "dauerhafter Fehlstellungen". Die Treuhand etwa erscheint als ein Monster, das im Osten alles kaputtgemacht hat.
Weiß der Autor wirklich nicht, wie hoch damals der Druck war, wirtschaftlich, politisch? Wie sehr die DDR am Ende war und wie schnell gehandelt werden musste, ohne dass alles vorher erst lange hätte bedacht werden können? Weiß er wirklich nicht, dass weder die Westdeutschen einen realistischen Blick auf den Osten haben konnten noch die Ostdeutschen auf den Westen und also der Kulturschock unvermeidbar war? Und dass es dafür doch noch ganz gut gegangen ist? Merkt er nicht, dass längst das Ostdeutsche schleichend auch den Westen verändert? Dass er selbst, inzwischen ein namhafter Soziologe, das lebt?
Nun sind andererseits viele von Maus Beobachtungen nicht einfach von der Hand zu weisen. In seinem Buch lässt sich einiges darüber lernen, weshalb die AfD im Osten so stark ist und die Nazi-Szene an manchen Orten so auffällig: "Der Mut der Wendezeit findet in ihnen seine - gespenstischen - Wiedergänger." (Die AfD plakatierte im Brandenburger Wahlkampf: "Vollende die Wende".) Populisten hätten im Osten so große Chancen, weil sie "ein Angebot in der Tasche haben, das kaum zu schlagen zu sein scheint, weil es die Menschen von Zumutungen entlastet: Die Welt muss verändert werden, um sich an dich anzupassen." Auch Mau beschreibt ja vor allem die Welt derer, die heute noch in Lütten Klein wohnen, die den Systemwechsel mehr oder weniger passiv über sich ergehen ließen. Von denen einige sogar zu "mentalen Sitzenbleibern der Sozialisationsanstalt DDR" wurden. Das bleibt aber nur ein Teil der Wahrheit. Das soziale Ergebnis der deutschen Einheit ist keineswegs nur ein schwarzer Abgrund, im Gegenteil. Schon ein einfaches Gedankenexperiment hellt die Stimmung auf. Man stelle sich nur einmal vor, wie schlimm es heute in Lütten Klein aussähe, gäbe es die DDR noch.
FRANK PERGANDE
Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 284 S., 22,- [Euro].
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