Statt 22,00 €**
14,00 €
**Preis der gebundenen Originalausgabe, Ausstattung einfacher als verglichene Ausgabe.

inkl. MwSt. und vom Verlag festgesetzt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln


  • Broschiertes Buch

1 Kundenbewertung

Steffen Mau wächst in den siebziger Jahren im Rostocker Neubauviertel Lütten Klein auf. 1989 dient er bei der NVA, nach der Wende studiert er, wird schließlich Professor. 30 Jahre nach dem Mauerfall zieht Mau eine persönliche und sozialwissenschaftliche Bilanz. Er nimmt die gesellschaftlichen Brüche in den Blick, an denen sich Verbitterung und Unmut entzünden. Er spricht mit Weggezogenen und Dagebliebenen, schaut zurück auf das Leben in einem Staat, den es nicht mehr gibt. Wie wurde aus der Stadt, in der er gemeinsam mit Kindern aller Schichten seine Jugend verbrachte, ein Ort sozialer…mehr

Produktbeschreibung
Steffen Mau wächst in den siebziger Jahren im Rostocker Neubauviertel Lütten Klein auf. 1989 dient er bei der NVA, nach der Wende studiert er, wird schließlich Professor. 30 Jahre nach dem Mauerfall zieht Mau eine persönliche und sozialwissenschaftliche Bilanz. Er nimmt die gesellschaftlichen Brüche in den Blick, an denen sich Verbitterung und Unmut entzünden. Er spricht mit Weggezogenen und Dagebliebenen, schaut zurück auf das Leben in einem Staat, den es nicht mehr gibt. Wie wurde aus der Stadt, in der er gemeinsam mit Kindern aller Schichten seine Jugend verbrachte, ein Ort sozialer Spaltung? Was sind die Ursachen für Unzufriedenheit und politische Entfremdung in den neuen Ländern?
Autorenporträt
Steffen Mau, geboren 1968, ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Buch Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft (st 5092) stand auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste von ZDF, Zeit und Deutschlandfunk Kultur. 2021 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Rezensionen
»Steffen Maus Studie über das DDR-Wohnviertel Lütten Klein steckt voll anregender Provokationen.« Frank Pergande Frankfurter Allgemeine Zeitung 20191008

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2019

Umstandslose Abrissbirne
Steffen Maus Studie über das DDR-Wohnviertel Lütten Klein steckt voll anregender Provokationen

Lütten Klein heißt ein Wohngebiet zwischen der Rostocker Innenstadt und Warnemünde an der Ostsee. Ein Plattenbaugebiet, in der DDR sagte man Neubaugebiet. 40 000 Menschen haben in den achtziger Jahren dort gewohnt. Und sie lebten gern dort, die ferngeheizten Wohnungen waren begehrt, Kindergarten und Schule, Kaufhalle und Ärztehaus (Ambulatorium) lagen gleich um die Ecke, ebenso der S-Bahnhof. Bis zum Strand war es nicht weit, auch nicht bis zu den Arbeitsplätzen vor allem im Schiffbau. In Lütten Klein ist der Soziologe Steffen Mau aufgewachsen. "Lütten Klein" heißt auch sein aktuelles Buch, eine Studie über das "Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft". Er beschreibt im ersten Teil das Leben in der DDR, um dann im zweiten zu zeigen, wie die DDR der Westen wurde und was dabei mit den Ostdeutschen geschah. Immer wieder kommt er auf sein Heimatviertel zu sprechen. Denn alles, was er zu sagen hat, lässt sich in Lütten Klein wie an einem Modell zeigen. Es ist also eine Mischung aus wissenschaftlicher Studie und persönlichem Erinnern. Solche Nähe zum Forschungsgegenstand ist problematisch, macht die Darstellung andererseits aber auch lebendiger und vielleicht auch schlüssiger.

In der DDR-Zeit war Lütten Klein voller junger Leute, Rentner gab es kaum. Heute ist es umgekehrt. Die Kaufhalle ist von einem neu errichteten Einkaufszentrum abgelöst worden, groß wie ein Fußballfeld. Eine Wiese wurde zu einem Boulevard. Mau lebt schon längst nicht mehr dort, auch seine Eltern wohnen seit Jahren ein paar Kilometer entfernt in einem eigenen Haus. Mau besuchte für seine Recherchen noch einmal die alte Wohnung, er traf auf eine Rentnerin, die gerade dabei war, im alten Kinderzimmer zwei afghanischen Flüchtlingsmädchen Deutsch beizubringen. Beim Blick aus dem Fenster bemerkte er, dass die Aussicht inzwischen eine völlig andere ist. Er habe, schreibt er, sowohl Distanz als auch Nähe empfunden: "Distanz, weil mein eigenes Leben heute mit dem Lütten Kleiner Alltag so wenig gemein hat; Nähe, weil mir die Art, auf die Welt zu schauen, und das mentale Gepäck vieler Bewohner denn doch vertraut waren."

Erstaunlich am DDR-Teil ist der wohlwollende Ton. Vielleicht liegt es daran, dass Mau hier auch über seine Jugend schreibt, an die er sich gern erinnert. Da heißt es geradezu stolz: "Ob in der Jugendkultur, in den Datschensiedlungen, bei Festivals, am FKK-Strand oder in der Kleinkunstszene - an vielen Orten spross ein Eigenleben, das manche westliche Beobachter (und manchmal sogar uns selbst) überraschte." Mau liebt zudem subtile Seitenhiebe auf den Westen. Etwa wenn er sagt: "Das Biografiemodell der DDR war eines der frühen Elternschaft und der frühen Eheschließung, nicht der ewig andauernden Postadoleszenz". Oder noch provozierender: "Vermutlich konnte man in der DDR der achtziger Jahre einfacher und unreflektierter Deutscher (und DDR-Bürger) sein als in der Bundesrepublik." Am Schluss des DDR-Kapitels nennt Mau eine Reihe von Gründen, warum es mit der DDR zu Ende gehen musste. Einer lautet aus seiner Sicht: mangelnde Aufstiegsmöglichkeiten für die Jugend. Aber sind die DDR-Bürger im Herbst 1989 tatsächlich deswegen auf die Straße gegangen? Nein, ihr Hauptziel war schon größer: Sie wollten endlich Freiheit.

Im zweiten Teil des Buches wird es richtig niederschmetternd. Etwas vergröbert lässt sich Maus Darstellung so zusammenfassen: Der Westen vereinnahmte den Osten und hinterließ dabei Verheerungen wie Massenarbeitslosigkeit, Deklassierung, gebrochene Biographien, zerstörte soziale Bindungen, noch weniger Chancen zum Aufstieg, einen beispiellosen Geburtenrückgang, verwahrloste Männer, eine Neigung zu autoritären politischen Angeboten - und überdies eine Kanzlerin, die sich als Ostdeutsche nur deshalb halten kann, weil sie auf ihre ostdeutsche Herkunft nichts gibt. Mau sagt sogar, durch den Westeinfluss sei das demokratische Projekt einer deutschen Einheit vom nationalen Projekt überlagert worden. Schon der Einigungsvertrag sei einer Kapitulation gleichgekommen. Das alles sei den Ostdeutschen schlecht bekommen: "Die Selbstabschaffung und die diskursive Entwertung der Deutschen Demokratischen Republik ließen die Quellen der (positiven) Bezugnahme auf die eigenen Wurzeln austrocknen." Oder: "Eine Liste der ,Errungenschaften in der DDR' wurde nie verfertigt, die Abrissbirne umstandslos angesetzt." Mau spricht von "sozialen Frakturen", die zwar schon in der DDR angelegt waren, aber erst nach dem DDR-Ende so richtig schlimm wurden, sogar mit der Gefahr "dauerhafter Fehlstellungen". Die Treuhand etwa erscheint als ein Monster, das im Osten alles kaputtgemacht hat.

Weiß der Autor wirklich nicht, wie hoch damals der Druck war, wirtschaftlich, politisch? Wie sehr die DDR am Ende war und wie schnell gehandelt werden musste, ohne dass alles vorher erst lange hätte bedacht werden können? Weiß er wirklich nicht, dass weder die Westdeutschen einen realistischen Blick auf den Osten haben konnten noch die Ostdeutschen auf den Westen und also der Kulturschock unvermeidbar war? Und dass es dafür doch noch ganz gut gegangen ist? Merkt er nicht, dass längst das Ostdeutsche schleichend auch den Westen verändert? Dass er selbst, inzwischen ein namhafter Soziologe, das lebt?

Nun sind andererseits viele von Maus Beobachtungen nicht einfach von der Hand zu weisen. In seinem Buch lässt sich einiges darüber lernen, weshalb die AfD im Osten so stark ist und die Nazi-Szene an manchen Orten so auffällig: "Der Mut der Wendezeit findet in ihnen seine - gespenstischen - Wiedergänger." (Die AfD plakatierte im Brandenburger Wahlkampf: "Vollende die Wende".) Populisten hätten im Osten so große Chancen, weil sie "ein Angebot in der Tasche haben, das kaum zu schlagen zu sein scheint, weil es die Menschen von Zumutungen entlastet: Die Welt muss verändert werden, um sich an dich anzupassen." Auch Mau beschreibt ja vor allem die Welt derer, die heute noch in Lütten Klein wohnen, die den Systemwechsel mehr oder weniger passiv über sich ergehen ließen. Von denen einige sogar zu "mentalen Sitzenbleibern der Sozialisationsanstalt DDR" wurden. Das bleibt aber nur ein Teil der Wahrheit. Das soziale Ergebnis der deutschen Einheit ist keineswegs nur ein schwarzer Abgrund, im Gegenteil. Schon ein einfaches Gedankenexperiment hellt die Stimmung auf. Man stelle sich nur einmal vor, wie schlimm es heute in Lütten Klein aussähe, gäbe es die DDR noch.

FRANK PERGANDE

Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 284 S., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr