Das Leben des siebenjährigen Jean-Pio und seiner Familie spielt sich hauptsächlich im Auto, unterwegs, in Eile ab. Der Vater reist europaweit von Konferenz zu Konferenz, um über seine neuesten Erkenntnisse auf dem Gebiet der Anatomie und Histopathologie zu referieren, seine Frau und die drei Söhne sind immer dabei. Jean-Pio leidet ständig unter Kopfschmerzen, die - davon ist er überzeugt - durch seine intensiven Gedanken verursacht werden. Ob das nun stimmt oder nicht, auf jeden Fall beschließt Jean-Pios Mutter, dem dauernden Reisen ein Ende zu setzen und mit der ganzen Familie in das leerstehende Haus des Großvaters in Frankreich einzuziehen. Für Jean-Pio bedeutet diese Umstellung kaum Erleichterung, denn mit dem Tod des Großvaters sind wieder zahlreiche Gedanken - und damit Kopfschmerzen - verbunden: Er war unter bislang ungeklärten Umständen beim Krebsfischen ertrunken, und keiner weiß, wie dies passieren konnte - war es wirklich ein Unfall? Ben Faccini legt i n seinem ungewöhnlichen Debütroman ein skurriles Familienporträt vor, das sich auf spannende und gekonnte Weise mit den unausgesprochenen Mythen und Geheimnissen auseinandersetzt, die innerhalb einer Familie von Generation zu Generation weitergetragen werden und dabei immer mehr an Gewicht gewinnen - bis sie einen schließlich schier erdrücken.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Walter Klier bespricht ein trotz seiner Schwächen durchaus gelungenes Romandebüt. Der junge Engländer Faccini beschäftigt sich in seinem Roman mit der Kindheit eines überempfindlichen Kindes in einer kosmopolitischen Familie. Das Thema der Hypersensibilität sei in der Literaturgeschichte zwar schon zu genüge ausgereizt worden, aber dennoch sei es dem Autor gelungen, dem ganzen einen frischen Anstrich zu geben, so der Rezensent. Es gelinge Faccini, liebevoll zu erzählen und zugleich präzise Beobachtungen anzustellen, aber dennoch werde die Ausführlichkeit des zweiten Teils in Verbindung mit den gesammelten Hypersensibilitäten mit der Zeit doch ein wenig anstrengend - weniger wäre mehr gewesen. Dennoch schließt Klier seine Rezension mit einem Lob des vielversprechenden Autors und seiner Übersetzerin Barbara Rojahn-Deyk.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.01.2003In der Kaninchenfalle
Außer Atem: Ben Faccini stemmt sich gegen den Mobilitätswahn
Die Familie des Histopathologen Gaspare ist immer auf Achse. Die Rücksitze des Autos wurden zum mobilen Kinderzimmer, damit der Papa keine Konferenz versäumt, um seine Kollegen von der Theorie der krankmachenden Luftverschmutzung durch Klimaanlagen zu überzeugen. Und weil sich die Familie kein eigenes Haus leisten kann und will und der Papa meint, Reisen kultiviere, braust er mit Frau und Söhnen über die Autobahnen des Kontinents. Dabei sehen die Kinder freilich mehr Motels als Metropolen.
In atemlosem Wortschwall schildert Ben Faccini das freudlose Dasein der akademischen Wanderei, die Übelkeit in den Kurven, das Leben aus dem Koffer, die Art, wie sich alles nach den Strecken richtet, sogar die Musik: Liszt für die geraden, Verdi für die kurvenreichen. Autobahnschilder werden zu Lesefibeln und Rechenbüchern, denn die Kinder sollen schließlich etwas lernen. Und zu allem Überfluß soll es bei dem Zigeunerleben auch noch möglichst keimfrei zugehen. Der von der Volksgesundheit besessene Papa setzt seine Lieben einigen Strapazen aus, die nicht folgenlos bleiben. Energisch und weltfremd, wie der Professore nun mal ist, schleppt er den unter Kopfschmerzen leidenden Jean-Pio zu den Koryphäen der medizinischen Zunft, ohne auf das Naheliegendste, den Reisestreß, zu kommen. Bis endlich die unter Schlaflosigkeit leidende Mama an einem der vielen öden Haltepunkte ein Machtwort spricht.
In Frankreich nämlich gibt es noch ein Haus, in dem die nun in England lebende Großmutter einst mit ihrem französischen Mann gelebt hatte, bis dieser mit dem Bein in eine Tierfalle geriet, hinkend schwermütig wurde und beim Fischen im See auf mysteriöse Weise ertrank. Von da an war die Großmutter nicht mehr dieselbe, und das Haus galt als vom bösen Zauber befallen. Diese heruntergekommene Villa an malerischen Weinbergen soll sich aber schließlich für alle als Segen erweisen, sogar für die Großmutter, die pflegebedürftig aus England zur Familie gebracht wird, am Ort ihres Unglücks in Depressionen verfällt, bis sie schließlich dem todbringenden See ins Auge blickt und gesundet.
Ben Faccini wurde 1967 in Italien geboren und wuchs in Frankreich und England aus. Viele Jahre arbeitete er in Projekten der Vereinten Nationen mit Straßenkindern. Sein Romandebüt über eine kosmopolitisch mobile Kindheit ist kein flammender Appell, aber ein nachdrücklicher und amüsant gehaltener Denkzettel für karrierebesessene, sendungsbewußte Väter, die mit ihrer Weltverbesserei Kindheiten ruinieren. Vor allem aber ist es ein beherztes Plädoyer für familiäre Normalität im globalen Mobilitätswahn.
SABINE BERKING
Ben Faccini: "Luft Anhalten". Roman. Aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk. Verlag C. H. Beck, München 2001. 290 S., geb., 19,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Außer Atem: Ben Faccini stemmt sich gegen den Mobilitätswahn
Die Familie des Histopathologen Gaspare ist immer auf Achse. Die Rücksitze des Autos wurden zum mobilen Kinderzimmer, damit der Papa keine Konferenz versäumt, um seine Kollegen von der Theorie der krankmachenden Luftverschmutzung durch Klimaanlagen zu überzeugen. Und weil sich die Familie kein eigenes Haus leisten kann und will und der Papa meint, Reisen kultiviere, braust er mit Frau und Söhnen über die Autobahnen des Kontinents. Dabei sehen die Kinder freilich mehr Motels als Metropolen.
In atemlosem Wortschwall schildert Ben Faccini das freudlose Dasein der akademischen Wanderei, die Übelkeit in den Kurven, das Leben aus dem Koffer, die Art, wie sich alles nach den Strecken richtet, sogar die Musik: Liszt für die geraden, Verdi für die kurvenreichen. Autobahnschilder werden zu Lesefibeln und Rechenbüchern, denn die Kinder sollen schließlich etwas lernen. Und zu allem Überfluß soll es bei dem Zigeunerleben auch noch möglichst keimfrei zugehen. Der von der Volksgesundheit besessene Papa setzt seine Lieben einigen Strapazen aus, die nicht folgenlos bleiben. Energisch und weltfremd, wie der Professore nun mal ist, schleppt er den unter Kopfschmerzen leidenden Jean-Pio zu den Koryphäen der medizinischen Zunft, ohne auf das Naheliegendste, den Reisestreß, zu kommen. Bis endlich die unter Schlaflosigkeit leidende Mama an einem der vielen öden Haltepunkte ein Machtwort spricht.
In Frankreich nämlich gibt es noch ein Haus, in dem die nun in England lebende Großmutter einst mit ihrem französischen Mann gelebt hatte, bis dieser mit dem Bein in eine Tierfalle geriet, hinkend schwermütig wurde und beim Fischen im See auf mysteriöse Weise ertrank. Von da an war die Großmutter nicht mehr dieselbe, und das Haus galt als vom bösen Zauber befallen. Diese heruntergekommene Villa an malerischen Weinbergen soll sich aber schließlich für alle als Segen erweisen, sogar für die Großmutter, die pflegebedürftig aus England zur Familie gebracht wird, am Ort ihres Unglücks in Depressionen verfällt, bis sie schließlich dem todbringenden See ins Auge blickt und gesundet.
Ben Faccini wurde 1967 in Italien geboren und wuchs in Frankreich und England aus. Viele Jahre arbeitete er in Projekten der Vereinten Nationen mit Straßenkindern. Sein Romandebüt über eine kosmopolitisch mobile Kindheit ist kein flammender Appell, aber ein nachdrücklicher und amüsant gehaltener Denkzettel für karrierebesessene, sendungsbewußte Väter, die mit ihrer Weltverbesserei Kindheiten ruinieren. Vor allem aber ist es ein beherztes Plädoyer für familiäre Normalität im globalen Mobilitätswahn.
SABINE BERKING
Ben Faccini: "Luft Anhalten". Roman. Aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk. Verlag C. H. Beck, München 2001. 290 S., geb., 19,50 [Euro].
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