Wo die Liebe sich in Luft auflöst, fängt Literatur an: "Luft und Liebe" ist eine mitreißende Liebes- und Verratsgeschichte, ein großes literarisches Vergnügen.
Die große Liebe - gibt es das? Anfang Vierzig und in Herzensdingen längst an das ganz normale Glück oder Unglück gewöhnt, begegnet sie in Paris einem nicht mehr ganz jungen Mann mit Bauchansatz, nach dem sich auf der Straße niemand umdrehen würde. Aber entgegen alle Erwartungen ist er der Mann, auf den die Heldin gewartet hat: Er ist zärtlich, aufmerksam und charmant, Hals über Kopf verliebt und verspricht ihr den Himmel auf Erden. Und um die Idylle vollkommen zu machen, lebt dieser Märchenprinz auf einem Schloss in der französischen Provinz.
Zu schön, um wahr zu sein? Als die Träume - gemeinsames Leben, Hochzeit, Kind - Realität werden sollen, zerplatzen sie wie Seifenblasen. Und die mit großer Leichtigkeit und funkelnder Ironie erzählte Geschichte nimmt ein Ende mit Schrecken ...
Anne Webers sprachliche Brillanz, ihreFähigkeit, "auf leichte Art ernst zu werden" (Die Zeit) machen aus einer unerhörten Begebenheit einen doppelbödigen Roman.
Die große Liebe - gibt es das? Anfang Vierzig und in Herzensdingen längst an das ganz normale Glück oder Unglück gewöhnt, begegnet sie in Paris einem nicht mehr ganz jungen Mann mit Bauchansatz, nach dem sich auf der Straße niemand umdrehen würde. Aber entgegen alle Erwartungen ist er der Mann, auf den die Heldin gewartet hat: Er ist zärtlich, aufmerksam und charmant, Hals über Kopf verliebt und verspricht ihr den Himmel auf Erden. Und um die Idylle vollkommen zu machen, lebt dieser Märchenprinz auf einem Schloss in der französischen Provinz.
Zu schön, um wahr zu sein? Als die Träume - gemeinsames Leben, Hochzeit, Kind - Realität werden sollen, zerplatzen sie wie Seifenblasen. Und die mit großer Leichtigkeit und funkelnder Ironie erzählte Geschichte nimmt ein Ende mit Schrecken ...
Anne Webers sprachliche Brillanz, ihreFähigkeit, "auf leichte Art ernst zu werden" (Die Zeit) machen aus einer unerhörten Begebenheit einen doppelbödigen Roman.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2010Liebe, Bier und Wahrheit
Hermann Kant erfindet sich ein Heldenleben, Moritz Rinke wird unter Symbolen begraben, Anne Weber verliert sich an den falschen Prinzen, und Frank Schulz trinkt und küsst und feiert: Die deutsche Literatur des Frühlings
Als Günter Grass vor zwei Wochen in einem Interview erzählte, er sei überrascht gewesen, dass Hermann Kant schon 1961 Berichte über ihn und seine Besuche in der DDR für die Stasi geliefert habe, da erschien, fast zeitgleich, Hermann Kants neuer Roman. Er heißt "Kennung", spielt im Jahr 1961 und erzählt die Geschichte eines Anwerbungsversuchs durch die Stasi. Linus Cord, ein junger, aufstrebender Literaturkritiker, soll einen ersten, scheinbar harmlosen Auftrag für die Staatssicherheit übernehmen und - er widersteht. Eine Heldengeschichte, geschrieben von einem der Top-Funktionäre der untergegangenen DDR, Präsident des Schriftstellerverbandes, Mitglied des Zentralkomitees der SED. Das Buch über seine Stasiakte, das 1995 erschien, ist 500 Seiten dick.
Was soll das? Was fällt dem Mann ein? Macht der sich lustig über uns? Ist Literatur dazu da? Zu lügen? Sich selbst zu verschönern? Das eigene Leben? Die Vergangenheit? Gute Literatur ist ohne Wahrheit nicht zu haben. Und das heißt nicht, dass hier etwa schnöde das Leben nacherzählt werden muss, so wie es ist und wie es war. Im Gegenteil. Es geht um eine Wahrhaftigkeit, die das Werk zusammenhalten muss, eine innere Notwendigkeit des Schreibens, die eine Notwendigkeit des Lesens nach sich zieht.
Das Buch Hermann Kants, der heute 83-jährig in Mecklenburg-Vorpommern lebt, ist keine Lüge. Es ist seine Geschichte, seine Art, die Geschichte zu sehen. Denn jener widerständige Linus Cord wird den Auftrag der Stasi schließlich doch annehmen. Nur tut er es nicht für sie, sondern für sich. Es geht auch zunächst nicht um Spitzeltätigkeiten, sondern um eine Recherche über die eigene Vergangenheit. Kant beginnt beinahe genial, mit dem immer noch so leichtfüßigen, überironischen Sprachfluss, den Endlossätzen, die immer wieder überraschend ein stimmiges Ende finden. Aber zum Schluss verspielt er beinahe alles. Denn die kantsche Ironie lässt eine letzte Ernsthaftigkeit nicht zu. Lässt den existentiellen Ernst, den die sich zuspitzende Situation für Cord bekommen müsste, nicht zu. Und er umstellt die Angst vor der Wahrheit mit Partizipialkonstruktionen und Witzchen. Klarer, ernsthafter geschrieben und gedacht, hätte das Buch vielleicht an einer ganzen Lebenskonstruktion rütteln können. An der des Autors selbst. Das hat Hermann Kant nicht gewagt.
* * *
"Ich bin schuldig und bleibe es auch. Unsere Scheißpartei hat die Leute um die Möglichkeit gebracht, unter normalen Verhältnissen erwachsen zu werden. Darauf hätten sie aber ein Recht gehabt", heißt es in dem neuen Roman des 1951 in Prag geborenen Autors Jan Faktor. Das Buch trägt den Titel "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag" und ist ein echtes Berserkerbuch aus dem Bergwerk der Wahrhaftigkeit. Es geht um Sex und Liebe, Anpassertum, Widerstand und Gläubigkeit in einem sozialistischen Staat, um die Macht des körperlichen Begehrens in einem von unsichtbaren Beobachtern umstellten Universum. Es beginnt in einer Art Sorglosigkeit: "Wir - die Kleinen wie die Großen - lebten damals in Prag, ohne darunter sonderlich zu leiden, in einer totalitären Gesellschaft." Der Ich-Erzähler Georg wächst in einem summenden, zwischen Überliebe und Depression schwankenden jüdischen Frauenhaushalt mit Mutter und zahlreichen Tanten auf und redet für sein Leben gern, so dass ihm im Kindergarten an besonders plapperhaften Tagen der Mund mit einem Klebestreifen verschlossen wird. Und am Anfang dieses fulminanten Buches wünscht man sich auch mal kurz einen Klebestreifen über den Mund des Autors, der seine Geschichten nur so hervorsprudelt. Aber man verliebt sich schnell in die kraftvolle Sprache, in den unmäßigen, manchmal scheinbar unkontrollierten Fluss der Geschichten. Die Sorglosigkeit ist schnell vorüber. Das Jahr 1968 reißt die Geschichte dieser Stadt und dieses Buches entzwei. Die Tage des sowjetischen Einmarsches erscheinen zunächst unspektakulär. Doch "wie hoch wir eigentlich verloren hatten, bekamen wir erst nach und nach zu spüren. Und irgendwann mit voller Härte."
Jan Faktor schont niemanden, als Letztes den Ich-Erzähler Georg in seinem unmäßigen Bekenntnisdrang. Es ist keine Heldengeschichte, eher die Geschichte eines Taumelns und Suchens, und auch von den miesesten Spitzeln und opportunistischen Parteigängern der Macht erzählt Faktor mit ungeheurem Interesse an den Wurzeln des Bösen. Das Zitat vom Anfang stammt von Georgs blindem Lebensfreund und Wunschvater Kláda, der 1989 auf sein Leben in Reue zurückblickt. Über seine Genossen von einst sagt er: "Von mir aus sollen die Leute ruhig stur bleiben. Das kollektive Wissen ist sowieso hartnäckig." Und wird mit Büchern wie diesem wie durch einen dröhnenden Wahrheitslautsprecher eindringlich verstärkt.
* * *
Dagegen liest sich dieses ehrgeizige Buch wie am Reißbrett der kleinen Symbolschule entworfen. Der 42-jährige Dramatiker Moritz Rinke aus Worpswede hat einen Jahrhundertroman über Worpswede geschrieben. Und - ja, Sie haben recht, es geht um Kunst und Nationalsozialismus, geht um Rilke, Wolken und das Moor. Held des Buches ist der erfolglose Künstler Paul Wendland, der einst aus Worpswede nach Berlin geflüchtet ist. Jetzt kehrt er zurück, denn das Haus seiner Kindheit versinkt im Moor. Nein, es versinkt nicht einfach, es droht entzweizubrechen, dieses deutsche Haus, in einen West- und einen Ostflügel. Und mit dem Haus stürzen die Erinnerungen. An den Großvater, den sie den "Rodin des Nordens" nannten und der ein Nazi war und auch sonst ein schlechter Mensch. An die Mutter, die heute auf Fuerteventura lebt und eine Achtundsechzigerin ist, wie sie sein muss, wenn man sie als Symbol verwenden möchte. Der Latte-Macchiato-Künstler selbst, der aussieht, redet, lebt wie der Prenzlauer-Berg-Standard-Künstler der letzten Jahre und der doch dann als ärmliches Klischee seiner selbst wenigstens unbedingt lustig sein müsste, satirisch überzeichnet, lächerlich, großartig, gewöhnlichkeitsterroristisch. Aber nein, nein, nein, er soll nur sein, wie er eben ist - sehr langweilig.
Dabei gibt es in dem Roman immer wieder skurrile Plötzlichkeitsauftritte sonderbarer Menschen und beinahe unglaublicher Geschichten. Rinke kann schon schreiben, das ist es nicht. Nur das Absurde, das Sonderbare, das Eigenwillige und Neue, das verschenkt er wie nebenbei. Das erzählt er nicht, deutet es nur an. Weil er überehrgeizig dieser Jahrhundertgeschichte folgen will. Doch der Leser weiß schon längst, wohin das alles führen wird. Er ist immer schon im Ziel, wenn sich der Autor japsend mit seinem Rucksack voller Symbole auf dem Rücken erst mühsam heranschleppt.
* * *
Wie aufregend und schön liest sich dagegen das Rätsel- und Verhüllungsbuch von Benjamin Stein, "Die Leinwand". Auch dieser Roman ist aufwendig konstruiert. So aufwendig, dass man schon am Anfang die Lust verlieren könnte: Das Buch hat zwei Titelseiten. Man kann von beiden Seiten zu lesen beginnen. Es werden zwei Geschichten erzählt, und erst in der Mitte treffen sie aufeinander. Solche Gimmick-Literatur hat ja immer etwas Nervtötend-Pseudooriginelles. Wie schön ist doch ein klassisches Buch mit einem Anfang und einem Ende, denkt man sich. Doch es lohnt unbedingt, sich darauf einzulassen. Eine Geschichte handelt von dem jüdischen Journalisten Jan Wechsler, der sich nicht an seine Vergangenheit erinnert. Der sich ein neues Leben ausgedacht hat, nachdem er die Autobiographie des Holocaust-Überlebenden Minsky als Lüge enttarnt hatte. Ein Koffer, plötzlich vor seiner Tür, wirft ihn in sein altes Leben zurück. Auf dem Weg in seine eigene Vergangenheit verliert er seine Familie und alle Gewissheiten seines Lebens. Eine Horrorgeschichte des Selbstzweifels und der schwankenden Identitäten. "Ich stehe vor einer schwarzpolierten Wand und starre ins Nichts."
Fängt man von der anderen Seite des Buches an, liest man die Geschichte Amnon Zichronis, der im jüdisch-orthodoxen Viertel Jerusalems aufwächst und, nachdem er trotz Verbots heimlich "Das Bildnis des Dorian Gray" gelesen hat, die Stadt und seine Familie verlassen muss, um in Zürich, bei seinem gemäßigt orthodoxen Onkel, aufzuwachsen. Zichroni ist die Gegenfigur zu Wechsler. Er hat die unheimliche Gabe, intensive Erinnerungen anderer Menschen zu empfinden, als wären es seine eigenen. Das hört sich jetzt sehr spiritistisch an, ist aber einfach religiös. Und Steins Buch lehrt, dass, wenn man die unglaublichsten Begebenheiten mit innerer Überzeugung erzählen kann, sich der Leser die Frage nach der Wahrscheinlichkeit gar nicht erst stellt. Zichroni schließlich ist es auch, der jenen Minsky ermuntert, die Geschichte seines Überlebens aufzuschreiben. Jene Geschichte, die Wechsler später als Fiktion enttarnen wird. Ist sie womöglich doch wahr?
In der Mitte des Buches treffen die beiden jüdischen Identitätsjongleure zu einem spektakulären Showdown aufeinander. Es scheint, als kennten sie sich schon lange. Vielleicht ein ganzes Leben lang.
* * *
Sooo. Und hier mal bitte: nur Liebe und Verzweiflung. Ganz ohne deutsche Geschichtsbeschwernis. Die Geschichte von Anne Weber: "Luft und Liebe" heißt sie. Der Ton, die Melodie, die Worte, das hat sofort so etwas Singendes, Hohes, Poetisch-Schönes. Vor fünfundzwanzig Jahren ist Weber von Offenbach nach Paris gezogen. Sie schreibt ihre Bücher auf Deutsch, und dann schreibt sie sie noch mal auf Französisch auf. Wenn man es weiß, hört man das in jedem Satz. Weiß man es nicht, ahnt man es immerhin. Manchmal klingt ihre Prosa ein wenig wie die von Peter Handke. Die Erzählerin ihres neuen Buches hat ein gutes Vorhaben: eine glückliche Liebesgeschichte erzählen. Als Vorarbeit nimmt sie sich vor, erst mal eine zu erleben. Leider scheitert sie schon daran. Es könnte alles herrlich sein. Ein unwahrscheinlicher Liebesprinz drängt in ihr Leben, bietet ein Schloss im Süden und ein romantisches Leben. Sie, 42, hat vor allem einen Wunsch: ein Kind. Prinzessin "kurz vor dem Verfallsdatum" nennt sie sich selbst. Es kommt zu Zeugungspanik. Alle Mittel der Fortpflanzungsmedizin werden eingesetzt. Doch ein Kind kommt nicht. Der Prinz ist in Wahrheit ein erbärmlicher Lügenhans. Er selbst hat verhindert, dass ein Kind entsteht. Er wird zum Lebensunglück der Prinzessin, zur Strafe für eine Frau, die gern in Luft und Träumen lebt. "Kann es sein, dass das Leben keinen anderen Sinn hat, als erzählt zu werden und im Erzählt-Werden immer wieder neu zu entstehen?", fragt sie sich. Das wäre allerdings sehr wenig. Wäre ja ein kleiner Sinn, ein Schriftstellersinn. Mit Buch statt Kindern. Wäre ein bisschen zu leise vielleicht. Anne Webers Buch ist laut und schön.
* * *
Das Schönste an den Geschichten von Frank Schulz sind seine Bierbeschreibungen. Was jetzt nicht heißt, dass die sonst irgendwie dürftig wären oder langweilig oder unsinnlich. Im Gegenteil. Seine aktuellen Liebesgeschichten sind geradezu sensationell sinnlich, manchmal ins Alkoholisch-Übersinnliche schwappend. Es geht um Liebe, und zwar ausschließlich. Liebe zu einer Brotverkäuferin. Zu einem verrückten Großvater. Hoffnungslose Liebe zu einer Bea ein Leben lang. Zu ihrer Art, das Wort "schön" auszusprechen zum Beispiel, oder zu ihrem Herzmund und vor allem "ihrer beständigen Bereitschaft das Leben zu feiern". Der Hamburger Schulz kann einfach wahnsinnig gut erzählen. Da ist kein Wort zu viel, kein Ton ist falsch, es ist fast immer sehr, sehr lustig, was er erzählt, selbst wenn es sehr traurig ist und ein treuherziger Trinker namens Helmer zum Beispiel eben jene Bea verliert für immer und elf Jahre lang umsonst geliebt hat. Zum Trost schnell diese Biere hier: "Leuchtend wie Lampions die Humpen voll kühlem, cremig schäumendem Carlsberg Gold; drei Exemplare davon und du bist glücklich wie ein Ochse."
Man sollte in seinem Leben schon einige davon getrunken und dabei sehr genau beobachtet haben, um das so glaubhaft enthusiastisch beschreiben zu können. Es ist einer der Glücksmomente in den Büchern der deutschen Literatur dieses Frühjahrs.
VOLKER WEIDERMANN
Hermann Kant: "Kennung", Aufbau-Verlag, 250 Seiten, 19,95 Euro. Jan Faktor: "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des Heiligen Hodensack-Bimbams von Prag", Kiepenheuer & Witsch, 636 Seiten, 24,95 Euro. Moritz Rinke: "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel", Kiepenheuer & Witsch, 482 Seiten, 19,95 Euro. Benjamin Stein: "Die Leinwand", C. H. Beck, 400 Seiten, 19,95 Euro. Anne Weber: "Luft und Liebe", S. Fischer, 188 Seiten, 17,95 Euro. Frank Schulz: "Mehr Liebe", Galiani Berlin, 292 Seiten 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hermann Kant erfindet sich ein Heldenleben, Moritz Rinke wird unter Symbolen begraben, Anne Weber verliert sich an den falschen Prinzen, und Frank Schulz trinkt und küsst und feiert: Die deutsche Literatur des Frühlings
Als Günter Grass vor zwei Wochen in einem Interview erzählte, er sei überrascht gewesen, dass Hermann Kant schon 1961 Berichte über ihn und seine Besuche in der DDR für die Stasi geliefert habe, da erschien, fast zeitgleich, Hermann Kants neuer Roman. Er heißt "Kennung", spielt im Jahr 1961 und erzählt die Geschichte eines Anwerbungsversuchs durch die Stasi. Linus Cord, ein junger, aufstrebender Literaturkritiker, soll einen ersten, scheinbar harmlosen Auftrag für die Staatssicherheit übernehmen und - er widersteht. Eine Heldengeschichte, geschrieben von einem der Top-Funktionäre der untergegangenen DDR, Präsident des Schriftstellerverbandes, Mitglied des Zentralkomitees der SED. Das Buch über seine Stasiakte, das 1995 erschien, ist 500 Seiten dick.
Was soll das? Was fällt dem Mann ein? Macht der sich lustig über uns? Ist Literatur dazu da? Zu lügen? Sich selbst zu verschönern? Das eigene Leben? Die Vergangenheit? Gute Literatur ist ohne Wahrheit nicht zu haben. Und das heißt nicht, dass hier etwa schnöde das Leben nacherzählt werden muss, so wie es ist und wie es war. Im Gegenteil. Es geht um eine Wahrhaftigkeit, die das Werk zusammenhalten muss, eine innere Notwendigkeit des Schreibens, die eine Notwendigkeit des Lesens nach sich zieht.
Das Buch Hermann Kants, der heute 83-jährig in Mecklenburg-Vorpommern lebt, ist keine Lüge. Es ist seine Geschichte, seine Art, die Geschichte zu sehen. Denn jener widerständige Linus Cord wird den Auftrag der Stasi schließlich doch annehmen. Nur tut er es nicht für sie, sondern für sich. Es geht auch zunächst nicht um Spitzeltätigkeiten, sondern um eine Recherche über die eigene Vergangenheit. Kant beginnt beinahe genial, mit dem immer noch so leichtfüßigen, überironischen Sprachfluss, den Endlossätzen, die immer wieder überraschend ein stimmiges Ende finden. Aber zum Schluss verspielt er beinahe alles. Denn die kantsche Ironie lässt eine letzte Ernsthaftigkeit nicht zu. Lässt den existentiellen Ernst, den die sich zuspitzende Situation für Cord bekommen müsste, nicht zu. Und er umstellt die Angst vor der Wahrheit mit Partizipialkonstruktionen und Witzchen. Klarer, ernsthafter geschrieben und gedacht, hätte das Buch vielleicht an einer ganzen Lebenskonstruktion rütteln können. An der des Autors selbst. Das hat Hermann Kant nicht gewagt.
* * *
"Ich bin schuldig und bleibe es auch. Unsere Scheißpartei hat die Leute um die Möglichkeit gebracht, unter normalen Verhältnissen erwachsen zu werden. Darauf hätten sie aber ein Recht gehabt", heißt es in dem neuen Roman des 1951 in Prag geborenen Autors Jan Faktor. Das Buch trägt den Titel "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag" und ist ein echtes Berserkerbuch aus dem Bergwerk der Wahrhaftigkeit. Es geht um Sex und Liebe, Anpassertum, Widerstand und Gläubigkeit in einem sozialistischen Staat, um die Macht des körperlichen Begehrens in einem von unsichtbaren Beobachtern umstellten Universum. Es beginnt in einer Art Sorglosigkeit: "Wir - die Kleinen wie die Großen - lebten damals in Prag, ohne darunter sonderlich zu leiden, in einer totalitären Gesellschaft." Der Ich-Erzähler Georg wächst in einem summenden, zwischen Überliebe und Depression schwankenden jüdischen Frauenhaushalt mit Mutter und zahlreichen Tanten auf und redet für sein Leben gern, so dass ihm im Kindergarten an besonders plapperhaften Tagen der Mund mit einem Klebestreifen verschlossen wird. Und am Anfang dieses fulminanten Buches wünscht man sich auch mal kurz einen Klebestreifen über den Mund des Autors, der seine Geschichten nur so hervorsprudelt. Aber man verliebt sich schnell in die kraftvolle Sprache, in den unmäßigen, manchmal scheinbar unkontrollierten Fluss der Geschichten. Die Sorglosigkeit ist schnell vorüber. Das Jahr 1968 reißt die Geschichte dieser Stadt und dieses Buches entzwei. Die Tage des sowjetischen Einmarsches erscheinen zunächst unspektakulär. Doch "wie hoch wir eigentlich verloren hatten, bekamen wir erst nach und nach zu spüren. Und irgendwann mit voller Härte."
Jan Faktor schont niemanden, als Letztes den Ich-Erzähler Georg in seinem unmäßigen Bekenntnisdrang. Es ist keine Heldengeschichte, eher die Geschichte eines Taumelns und Suchens, und auch von den miesesten Spitzeln und opportunistischen Parteigängern der Macht erzählt Faktor mit ungeheurem Interesse an den Wurzeln des Bösen. Das Zitat vom Anfang stammt von Georgs blindem Lebensfreund und Wunschvater Kláda, der 1989 auf sein Leben in Reue zurückblickt. Über seine Genossen von einst sagt er: "Von mir aus sollen die Leute ruhig stur bleiben. Das kollektive Wissen ist sowieso hartnäckig." Und wird mit Büchern wie diesem wie durch einen dröhnenden Wahrheitslautsprecher eindringlich verstärkt.
* * *
Dagegen liest sich dieses ehrgeizige Buch wie am Reißbrett der kleinen Symbolschule entworfen. Der 42-jährige Dramatiker Moritz Rinke aus Worpswede hat einen Jahrhundertroman über Worpswede geschrieben. Und - ja, Sie haben recht, es geht um Kunst und Nationalsozialismus, geht um Rilke, Wolken und das Moor. Held des Buches ist der erfolglose Künstler Paul Wendland, der einst aus Worpswede nach Berlin geflüchtet ist. Jetzt kehrt er zurück, denn das Haus seiner Kindheit versinkt im Moor. Nein, es versinkt nicht einfach, es droht entzweizubrechen, dieses deutsche Haus, in einen West- und einen Ostflügel. Und mit dem Haus stürzen die Erinnerungen. An den Großvater, den sie den "Rodin des Nordens" nannten und der ein Nazi war und auch sonst ein schlechter Mensch. An die Mutter, die heute auf Fuerteventura lebt und eine Achtundsechzigerin ist, wie sie sein muss, wenn man sie als Symbol verwenden möchte. Der Latte-Macchiato-Künstler selbst, der aussieht, redet, lebt wie der Prenzlauer-Berg-Standard-Künstler der letzten Jahre und der doch dann als ärmliches Klischee seiner selbst wenigstens unbedingt lustig sein müsste, satirisch überzeichnet, lächerlich, großartig, gewöhnlichkeitsterroristisch. Aber nein, nein, nein, er soll nur sein, wie er eben ist - sehr langweilig.
Dabei gibt es in dem Roman immer wieder skurrile Plötzlichkeitsauftritte sonderbarer Menschen und beinahe unglaublicher Geschichten. Rinke kann schon schreiben, das ist es nicht. Nur das Absurde, das Sonderbare, das Eigenwillige und Neue, das verschenkt er wie nebenbei. Das erzählt er nicht, deutet es nur an. Weil er überehrgeizig dieser Jahrhundertgeschichte folgen will. Doch der Leser weiß schon längst, wohin das alles führen wird. Er ist immer schon im Ziel, wenn sich der Autor japsend mit seinem Rucksack voller Symbole auf dem Rücken erst mühsam heranschleppt.
* * *
Wie aufregend und schön liest sich dagegen das Rätsel- und Verhüllungsbuch von Benjamin Stein, "Die Leinwand". Auch dieser Roman ist aufwendig konstruiert. So aufwendig, dass man schon am Anfang die Lust verlieren könnte: Das Buch hat zwei Titelseiten. Man kann von beiden Seiten zu lesen beginnen. Es werden zwei Geschichten erzählt, und erst in der Mitte treffen sie aufeinander. Solche Gimmick-Literatur hat ja immer etwas Nervtötend-Pseudooriginelles. Wie schön ist doch ein klassisches Buch mit einem Anfang und einem Ende, denkt man sich. Doch es lohnt unbedingt, sich darauf einzulassen. Eine Geschichte handelt von dem jüdischen Journalisten Jan Wechsler, der sich nicht an seine Vergangenheit erinnert. Der sich ein neues Leben ausgedacht hat, nachdem er die Autobiographie des Holocaust-Überlebenden Minsky als Lüge enttarnt hatte. Ein Koffer, plötzlich vor seiner Tür, wirft ihn in sein altes Leben zurück. Auf dem Weg in seine eigene Vergangenheit verliert er seine Familie und alle Gewissheiten seines Lebens. Eine Horrorgeschichte des Selbstzweifels und der schwankenden Identitäten. "Ich stehe vor einer schwarzpolierten Wand und starre ins Nichts."
Fängt man von der anderen Seite des Buches an, liest man die Geschichte Amnon Zichronis, der im jüdisch-orthodoxen Viertel Jerusalems aufwächst und, nachdem er trotz Verbots heimlich "Das Bildnis des Dorian Gray" gelesen hat, die Stadt und seine Familie verlassen muss, um in Zürich, bei seinem gemäßigt orthodoxen Onkel, aufzuwachsen. Zichroni ist die Gegenfigur zu Wechsler. Er hat die unheimliche Gabe, intensive Erinnerungen anderer Menschen zu empfinden, als wären es seine eigenen. Das hört sich jetzt sehr spiritistisch an, ist aber einfach religiös. Und Steins Buch lehrt, dass, wenn man die unglaublichsten Begebenheiten mit innerer Überzeugung erzählen kann, sich der Leser die Frage nach der Wahrscheinlichkeit gar nicht erst stellt. Zichroni schließlich ist es auch, der jenen Minsky ermuntert, die Geschichte seines Überlebens aufzuschreiben. Jene Geschichte, die Wechsler später als Fiktion enttarnen wird. Ist sie womöglich doch wahr?
In der Mitte des Buches treffen die beiden jüdischen Identitätsjongleure zu einem spektakulären Showdown aufeinander. Es scheint, als kennten sie sich schon lange. Vielleicht ein ganzes Leben lang.
* * *
Sooo. Und hier mal bitte: nur Liebe und Verzweiflung. Ganz ohne deutsche Geschichtsbeschwernis. Die Geschichte von Anne Weber: "Luft und Liebe" heißt sie. Der Ton, die Melodie, die Worte, das hat sofort so etwas Singendes, Hohes, Poetisch-Schönes. Vor fünfundzwanzig Jahren ist Weber von Offenbach nach Paris gezogen. Sie schreibt ihre Bücher auf Deutsch, und dann schreibt sie sie noch mal auf Französisch auf. Wenn man es weiß, hört man das in jedem Satz. Weiß man es nicht, ahnt man es immerhin. Manchmal klingt ihre Prosa ein wenig wie die von Peter Handke. Die Erzählerin ihres neuen Buches hat ein gutes Vorhaben: eine glückliche Liebesgeschichte erzählen. Als Vorarbeit nimmt sie sich vor, erst mal eine zu erleben. Leider scheitert sie schon daran. Es könnte alles herrlich sein. Ein unwahrscheinlicher Liebesprinz drängt in ihr Leben, bietet ein Schloss im Süden und ein romantisches Leben. Sie, 42, hat vor allem einen Wunsch: ein Kind. Prinzessin "kurz vor dem Verfallsdatum" nennt sie sich selbst. Es kommt zu Zeugungspanik. Alle Mittel der Fortpflanzungsmedizin werden eingesetzt. Doch ein Kind kommt nicht. Der Prinz ist in Wahrheit ein erbärmlicher Lügenhans. Er selbst hat verhindert, dass ein Kind entsteht. Er wird zum Lebensunglück der Prinzessin, zur Strafe für eine Frau, die gern in Luft und Träumen lebt. "Kann es sein, dass das Leben keinen anderen Sinn hat, als erzählt zu werden und im Erzählt-Werden immer wieder neu zu entstehen?", fragt sie sich. Das wäre allerdings sehr wenig. Wäre ja ein kleiner Sinn, ein Schriftstellersinn. Mit Buch statt Kindern. Wäre ein bisschen zu leise vielleicht. Anne Webers Buch ist laut und schön.
* * *
Das Schönste an den Geschichten von Frank Schulz sind seine Bierbeschreibungen. Was jetzt nicht heißt, dass die sonst irgendwie dürftig wären oder langweilig oder unsinnlich. Im Gegenteil. Seine aktuellen Liebesgeschichten sind geradezu sensationell sinnlich, manchmal ins Alkoholisch-Übersinnliche schwappend. Es geht um Liebe, und zwar ausschließlich. Liebe zu einer Brotverkäuferin. Zu einem verrückten Großvater. Hoffnungslose Liebe zu einer Bea ein Leben lang. Zu ihrer Art, das Wort "schön" auszusprechen zum Beispiel, oder zu ihrem Herzmund und vor allem "ihrer beständigen Bereitschaft das Leben zu feiern". Der Hamburger Schulz kann einfach wahnsinnig gut erzählen. Da ist kein Wort zu viel, kein Ton ist falsch, es ist fast immer sehr, sehr lustig, was er erzählt, selbst wenn es sehr traurig ist und ein treuherziger Trinker namens Helmer zum Beispiel eben jene Bea verliert für immer und elf Jahre lang umsonst geliebt hat. Zum Trost schnell diese Biere hier: "Leuchtend wie Lampions die Humpen voll kühlem, cremig schäumendem Carlsberg Gold; drei Exemplare davon und du bist glücklich wie ein Ochse."
Man sollte in seinem Leben schon einige davon getrunken und dabei sehr genau beobachtet haben, um das so glaubhaft enthusiastisch beschreiben zu können. Es ist einer der Glücksmomente in den Büchern der deutschen Literatur dieses Frühjahrs.
VOLKER WEIDERMANN
Hermann Kant: "Kennung", Aufbau-Verlag, 250 Seiten, 19,95 Euro. Jan Faktor: "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des Heiligen Hodensack-Bimbams von Prag", Kiepenheuer & Witsch, 636 Seiten, 24,95 Euro. Moritz Rinke: "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel", Kiepenheuer & Witsch, 482 Seiten, 19,95 Euro. Benjamin Stein: "Die Leinwand", C. H. Beck, 400 Seiten, 19,95 Euro. Anne Weber: "Luft und Liebe", S. Fischer, 188 Seiten, 17,95 Euro. Frank Schulz: "Mehr Liebe", Galiani Berlin, 292 Seiten 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.02.2010Auf dem zweiten Bindungsweg
Anne Weber erzählt in ihrem neuen Roman „Luft und Liebe” ein abgründiges Prinzessinnenmärchen
Die emotionale Fallhöhe dieses Romans reicht weiter als vom Schreibtisch bis zum Papierkorb. Dort liegt zwar seit dem Ende des ersten Kapitels das Romanmanuskript, aus dem es manchmal noch emporraschelt. Das Versteckspiel zwischen Romanheldin, Erzählerin und Autorin ist aber so angelegt, dass man sich bald auf eine mittlere Distanz zur hypothetischen Handlungsfigur einstellt: eine Frau Anfang vierzig. Nennen wir sie, wie die Erzählerin es tut, die „Märchenprinzessin”, um mit ihr dann aus der stillen Glückserwartung im Hin und Her zwischen Paris und normannischem oder burgundischem Schlossleben in die Tiefe eines Schauermärchens zu stürzen.
Die 1964 geborene, in Frankreich lebende, auf Deutsch wie auf Französisch schreibende Autorin Anne Weber hat auch früher schon ihr Talent gezeigt, so viel Eigenes in die erfundenen Figuren zu stecken, bis die Maske perfekt sitzt und die Fiktion narrensicher ist. Nur der immerfort zwischen die Zeilen gemurmelte Selbstkommentar – Los! Der Romanfigur Léa zu ihrem Scheidungstermin das lavendelfarbene Samtkleid übergezogen und zur Belebung des Platzes vor dem Pariser Gerichtspalast schnell ein paar picknickende Touristen auf die Bänke verteilt! – verrät das Spiel mit den Erzählebenen, auf denen Ironie und Ernsthaftigkeit sich die Waage halten.
Denn der Scheidungstermin im lavendelfarbenen Kleid ist nur der Auftakt zum wahren Prinzessinnenschicksal. Eine Frau also, die aus einem komplizierten Liebesleben in einen stilleren Lebensabschnitt wechseln will, trifft auf einen Verehrer gesetzten Alters: einen Schlossherrn zwar von vornehmer Herkunft und angenehmem Umgang, in der Erscheinung aber Durchschnitt. Ihm gegenüber braucht die Frau schon einmal sechs Jahre, um zu merken, dass sie immer noch Frau und er ja auch Mann ist. Ist es dann so weit, blüht das Glück beinahe zu schön, mit freudvoll bangem Warten im Pariser Bahnhof beim Einfahren des Zugs und einer „Ehrfurcht einflößenden Schönheit” draußen auf dem Herrschaftsgut, wo Schlosshund und Pfau unter majestätischen Bäumen einander gute Nacht sagen.
Nun gehört es zum Ritter- und Prinzessinnensein, dass beide viele Jahre glücklich zusammenleben und, notfalls auch im schon vorgerückten Alter, Kinder haben. Hier setzt die Wende zum Drama ein, denn dieser Märchenwahrheit muss mit Hormonspritzen, postkoitalen Tests und der ganzen hoffnungsmedizinischen Mühle nachgeholfen werden.
Die Mutterschaftsanwärterin hätte schon stutzig werden sollen, als sie erfuhr, dass der sonst so liebevoll willfährige Mann in der Kabine sich geweigert hat, seinen Samen herzugeben. Aber wie die Erzählerin weiß, sind Prinzessinnen dumm. So kann die Geschichte weitergehen bis zum bitteren Ende, das schmerzhafte Enthüllungen und einen bombastisch-burlesken Ausgang bringt. Durch die dünne Luft ihres Liebesmärchens bewegt die Autorin sich mit dem sicheren Gespür für Irrwege und abschüssige Stellen ins Klischee. Sie vermeidet unnötige Ausschmückung, beschränkt das Personal auf die zwei Hauptfiguren und hält diese in der für solche Geschichten üblichen Allgemeinheit. Lieber scherzt sie, um die Spannung zu halten, mit ihrer Erzählerin und mit der Romanheldin Léa, die sie gelegentlich auch um ihr reges Liebesleben beneidet. Ein Krimistoff wäre das oder allenfalls Stoff für eine Novelle, spekuliert sie, kaum aber ein richtiger Roman – dafür wäre ein Balzac oder zumindest ein drittklassiger Sittenromanautor nötig gewesen.
Damit hat die Erzählerin nicht ganz unrecht. Die eindringlichsten Momente, wenn etwa die hormonal perfekt auf den Eisprung zugerichtete Frau nach nicht durchgeführter Insemination die letzten fruchtbaren Stunden ihres Lebens gedankenleer vor dem Fernseher verbringt, kippen immer gleich wieder ins mehr oder weniger treffende Apropos über. Lese- und Bildassoziationen treiben vorbei, eingestreute Sprachbetrachtungen bleiben hängen, der „postkoitale Test” wird zum „postkoitalen Text” bemüht.
Das reflektierende Beiwerk hängt in diesem Roman nicht an einem Handlungsstrang, sondern die Sache ist umgekehrt, als wäre das Märchen an die lose Kette von Skizzen, Notizen und Betrachtungen aufgefädelt worden. Da entfaltet es sich mitunter prächtig, beim Gedanken etwa an die Gleichzeitigkeit aller Dinge auf Erden, wenn die frisch verheiratete Frau ihre Hochzeitsreise schon wieder allein nach Hongkong antritt und, den Gatten im Baskenland wissend, darüber staunt, dass so ein Hongkong und gleichzeitig ein Baskenland mit einem Ehemann drin überhaupt möglich sind. Schon immer habe diese Gleichzeitigkeit sie in Staunen versetzt, gesteht die Erzählerin – und „während ich diesen Satz spreche, dachte ich, fährt unten ein Kind mit dem Fahrrad an einem Mörder vorbei, spiegelt die Sonne sich in einem Dachfenster in Suresnes, läuft in Nowosibirsk eine Maus in die Falle”.
Die Märchen von der großen Liebe – so wird man der Autorin zugutehalten müssen – können nur am lockeren Seil dieser puren Gleichzeitigkeit flattern. Kompakt erzählt, würden sie sofort bröselig. Die elegante und fein komponierte Zwanglosigkeit der Dinge ist denn auch das Schöne an diesem Buch: In ihr tun sich ohne den geringsten Gefühlsmief Abgründe auf. Dass dabei das Selbstgespräch der Autorin zwischen Schreibtisch und Papierkorb mitunter etwas aufdringlich wird, vergisst man gern. JOSEPH HANIMANN
ANNE WEBER: Luft und Liebe. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2010. 189 Seiten, 17,95 Euro.
Mann, Schloss und Hund – nur ein Kind fehlt zum perfekten Glück
Wanderin zwischen zwei Sprachwelten: Anne Weber lebt in Frankreich und schreibt auf Deutsch und Französisch. Foto: Isolde Ohlbaum
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Anne Weber erzählt in ihrem neuen Roman „Luft und Liebe” ein abgründiges Prinzessinnenmärchen
Die emotionale Fallhöhe dieses Romans reicht weiter als vom Schreibtisch bis zum Papierkorb. Dort liegt zwar seit dem Ende des ersten Kapitels das Romanmanuskript, aus dem es manchmal noch emporraschelt. Das Versteckspiel zwischen Romanheldin, Erzählerin und Autorin ist aber so angelegt, dass man sich bald auf eine mittlere Distanz zur hypothetischen Handlungsfigur einstellt: eine Frau Anfang vierzig. Nennen wir sie, wie die Erzählerin es tut, die „Märchenprinzessin”, um mit ihr dann aus der stillen Glückserwartung im Hin und Her zwischen Paris und normannischem oder burgundischem Schlossleben in die Tiefe eines Schauermärchens zu stürzen.
Die 1964 geborene, in Frankreich lebende, auf Deutsch wie auf Französisch schreibende Autorin Anne Weber hat auch früher schon ihr Talent gezeigt, so viel Eigenes in die erfundenen Figuren zu stecken, bis die Maske perfekt sitzt und die Fiktion narrensicher ist. Nur der immerfort zwischen die Zeilen gemurmelte Selbstkommentar – Los! Der Romanfigur Léa zu ihrem Scheidungstermin das lavendelfarbene Samtkleid übergezogen und zur Belebung des Platzes vor dem Pariser Gerichtspalast schnell ein paar picknickende Touristen auf die Bänke verteilt! – verrät das Spiel mit den Erzählebenen, auf denen Ironie und Ernsthaftigkeit sich die Waage halten.
Denn der Scheidungstermin im lavendelfarbenen Kleid ist nur der Auftakt zum wahren Prinzessinnenschicksal. Eine Frau also, die aus einem komplizierten Liebesleben in einen stilleren Lebensabschnitt wechseln will, trifft auf einen Verehrer gesetzten Alters: einen Schlossherrn zwar von vornehmer Herkunft und angenehmem Umgang, in der Erscheinung aber Durchschnitt. Ihm gegenüber braucht die Frau schon einmal sechs Jahre, um zu merken, dass sie immer noch Frau und er ja auch Mann ist. Ist es dann so weit, blüht das Glück beinahe zu schön, mit freudvoll bangem Warten im Pariser Bahnhof beim Einfahren des Zugs und einer „Ehrfurcht einflößenden Schönheit” draußen auf dem Herrschaftsgut, wo Schlosshund und Pfau unter majestätischen Bäumen einander gute Nacht sagen.
Nun gehört es zum Ritter- und Prinzessinnensein, dass beide viele Jahre glücklich zusammenleben und, notfalls auch im schon vorgerückten Alter, Kinder haben. Hier setzt die Wende zum Drama ein, denn dieser Märchenwahrheit muss mit Hormonspritzen, postkoitalen Tests und der ganzen hoffnungsmedizinischen Mühle nachgeholfen werden.
Die Mutterschaftsanwärterin hätte schon stutzig werden sollen, als sie erfuhr, dass der sonst so liebevoll willfährige Mann in der Kabine sich geweigert hat, seinen Samen herzugeben. Aber wie die Erzählerin weiß, sind Prinzessinnen dumm. So kann die Geschichte weitergehen bis zum bitteren Ende, das schmerzhafte Enthüllungen und einen bombastisch-burlesken Ausgang bringt. Durch die dünne Luft ihres Liebesmärchens bewegt die Autorin sich mit dem sicheren Gespür für Irrwege und abschüssige Stellen ins Klischee. Sie vermeidet unnötige Ausschmückung, beschränkt das Personal auf die zwei Hauptfiguren und hält diese in der für solche Geschichten üblichen Allgemeinheit. Lieber scherzt sie, um die Spannung zu halten, mit ihrer Erzählerin und mit der Romanheldin Léa, die sie gelegentlich auch um ihr reges Liebesleben beneidet. Ein Krimistoff wäre das oder allenfalls Stoff für eine Novelle, spekuliert sie, kaum aber ein richtiger Roman – dafür wäre ein Balzac oder zumindest ein drittklassiger Sittenromanautor nötig gewesen.
Damit hat die Erzählerin nicht ganz unrecht. Die eindringlichsten Momente, wenn etwa die hormonal perfekt auf den Eisprung zugerichtete Frau nach nicht durchgeführter Insemination die letzten fruchtbaren Stunden ihres Lebens gedankenleer vor dem Fernseher verbringt, kippen immer gleich wieder ins mehr oder weniger treffende Apropos über. Lese- und Bildassoziationen treiben vorbei, eingestreute Sprachbetrachtungen bleiben hängen, der „postkoitale Test” wird zum „postkoitalen Text” bemüht.
Das reflektierende Beiwerk hängt in diesem Roman nicht an einem Handlungsstrang, sondern die Sache ist umgekehrt, als wäre das Märchen an die lose Kette von Skizzen, Notizen und Betrachtungen aufgefädelt worden. Da entfaltet es sich mitunter prächtig, beim Gedanken etwa an die Gleichzeitigkeit aller Dinge auf Erden, wenn die frisch verheiratete Frau ihre Hochzeitsreise schon wieder allein nach Hongkong antritt und, den Gatten im Baskenland wissend, darüber staunt, dass so ein Hongkong und gleichzeitig ein Baskenland mit einem Ehemann drin überhaupt möglich sind. Schon immer habe diese Gleichzeitigkeit sie in Staunen versetzt, gesteht die Erzählerin – und „während ich diesen Satz spreche, dachte ich, fährt unten ein Kind mit dem Fahrrad an einem Mörder vorbei, spiegelt die Sonne sich in einem Dachfenster in Suresnes, läuft in Nowosibirsk eine Maus in die Falle”.
Die Märchen von der großen Liebe – so wird man der Autorin zugutehalten müssen – können nur am lockeren Seil dieser puren Gleichzeitigkeit flattern. Kompakt erzählt, würden sie sofort bröselig. Die elegante und fein komponierte Zwanglosigkeit der Dinge ist denn auch das Schöne an diesem Buch: In ihr tun sich ohne den geringsten Gefühlsmief Abgründe auf. Dass dabei das Selbstgespräch der Autorin zwischen Schreibtisch und Papierkorb mitunter etwas aufdringlich wird, vergisst man gern. JOSEPH HANIMANN
ANNE WEBER: Luft und Liebe. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2010. 189 Seiten, 17,95 Euro.
Mann, Schloss und Hund – nur ein Kind fehlt zum perfekten Glück
Wanderin zwischen zwei Sprachwelten: Anne Weber lebt in Frankreich und schreibt auf Deutsch und Französisch. Foto: Isolde Ohlbaum
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dies ist ein Buch über ein Buch, das geschrieben, aber nicht veröffentlicht worden ist. Und über eins, das nun geschrieben wurde und nun sozusagen das Buch ist, das wir vor uns haben. So kompliziert, so postmodern. In Wahrheit aber, dies jedenfalls Sandra Kegels starke Vermutung, ist das, was im vorliegenden und, wie man darin erfährt, auch im unveröffentlichten Buch geschildert wird, eine stark autobiografisch grundierte Geschichte. Und zwar der so einfachen wie verheerenden Art. Die Ich-Erzählerin, in Paris lebend wie die Autorin, verliebt sich in einen Mann. Er ist Franzose, Adliger und nach einem Jahr des Zusammenlebens stellt sich - bei einer in der Besprechung nicht näher geschilderten "unerhörten Begebenheit" - heraus, dass die Dinge nicht so liegen, wie die Erzählerin dachte. Kegel findet die verschobene Art, in der Weber zwar selbstironisch, aber mit spürbar echter Betroffenheit davon erzählt, spannend - aber nur rund die Hälfte des Buchs lang. Danach verliere die Geschichte leider deutlich an Schwung.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH