Lene ist dreizehn und kein Kind mehr. Mit ihrem Vater spricht sie nicht, entzieht sich seinem Zugriff, erhält immer mehr Macht und gewinnt letztendlich eine einflussreiche Position in der Familie, aus der sie ihn ganz verdrängt. Im Mittelpunkt dieses Kleinstadtromans steht die Beziehung zwischen Vater und Tochter. Davon ausgehend erzählt Anke Velmeke auf unsentimentale und ironische, fast spielerische Weise von den Konstellationen innerhalb der Familie, wobei die Autorin auf jegliche Art psychologischer Reflektion verzichtet. Ein ungewöhnliches Debüt!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2000Luftfisch an der Angel
Anke Velmeke sucht ihr Debüt · Von Thomas Wirtz
Nach dem Untergang der kampfwütigen Feudalheroen hätte die Literatur friedfertiger und ein bisschen langweilig fortgelebt, wäre sie nicht auf die Kleinfamilie gestoßen. Hier eröffnete sich ein Schauplatz konzentrierter Konflikte, in dem die ehemals vielköpfigen Schlachten in kleinerer Besetzung wieder auferstanden. Dabei hatte der Vernichtungswille durch die bürgerlich beschränkte Kulisse nichts an Intensität verloren, im Gegenteil. Es war gerade die Nähe am Frühstückstisch, die der Selbstbeherrschung zusetzte und den Morgengruß zur Kampfansage machte. Zwischen Marmelade und Kaffee wiederholte sich die frühere Einsicht, dass nichts grausamer als der Krieg unter Bekannten war.
Auch der Debütroman von Anke Velmeke erkundet dieses Schlachtfeld des unfriedlichen Lebens, wo die Freiheit gegen furnierte Schrankwände anläuft. Übersichtlich verlaufen die Fronten: Die Mutter hat sich aus dem Leben in die Pantoffel und den Geist des Amselfelder zurückgezogen. Ihr Traum vom Glück hat sich am Alltag verbraucht und in den Rauch der unauslöschlichen Zigarette verwandelt. Blind wie ihre Fensterscheiben ist die Wut, die sie in stiller Apathie gegen sich selbst kehrt. Bevor sie am Ende wirklich stirbt, probt sie lange den unklinischen Tod.
Ihr Mann ist Dachdecker, Vater der "Luftfische" und eine gut funktionierende "Wutmaschine". Es bedarf nur eines falschen Wimpernschlags, um ihn ausrasten zu lassen. Dann entfremdet er alles Handgreifliche zum Prügelinstrument, erprobt den Zollstock auf Kinderrücken. In der Not behilft er sich mit Tritten. Von ihm geht der Schrecken überraschender Gewalt aus. Auch die lebenslange Gemeinschaft in der Wohnzelle macht nicht vorhersagbar, wann die Gnade seiner Gleichgültigkeit in schmerzende Aufmerksamkeit umschlägt. Diese Unberechenbarkeit ist die Waffe des Tyrannen. Sie macht das Lauern auf die kleine Geste notwendig, sorgt für unterlassene Begegnungen im Wohnungsflur und garantiert eine Beobachtung, wie sie intimer auch unter Liebenden nicht sein kann.
Die dreizehnjährige "Lene war die einzige, die sich je gewehrt hatte". Der eine Tritt gegen den tretenden Vater schafft einen Respekt, der im anschließenden jahrelangen Anschweigen befestigt wird. Lene ist die Familienwiderständlerin, biologisch gerechtfertigt durch den Quersinn der Pubertät und moralisch unterstützt durch die Sorge für ihre jüngeren Brüder. Den Rückzug ihrer Eltern büßt sie mit vorzeitigem Altern. Anke Velmeke begleitet diese Heldin mit distanzierter Achtung. Für den Sicherheitsabstand zwischen Sympathie und Kunst haben ihre "Luftfische" einen bemerkenswert originellen Ton gefunden, ein Fabulieren im Unfertigen, eine Erzähllust dort, wo das rhetorisch Versierte sich ans Unbeholfene heranwagt: "Mittags waren die Pommes so gelb und goldig-goldgelb, fettschimmernd, mit durchscheinenden Salzkristallen besetzt, daß sich Mann, Frau und Kinder, also überhaupt alle, einander bis auf Tischbreite näherten und hinsetzten auf die Stühle, die ja bereits da waren, und mit spitzen Eßwerkzeugen hineinstachen, die Kartoffelquader also aufspießten, sortierten, nach Größe, Färbung, Form, oder aßen oder zu Prozessionen aufreihten, die sich spiralförmig auf die Mitten der Teller zubewegten."
Es ist der Wagemut des Schiefen und die kontrollierte Verfehlung, die aus dem tiefgefrorenen Mittagessen Requisiten einer Experimentalbühne macht. Da werden Dinge ebenso aufgereiht wie Worte, Satzglieder spielen miteinander unbekümmert um den Anschluss. Aus diesen Familienresten baut sich eine Syntax auf, die um Harmonie unbesorgt ist und die Verbote der Grammatik als Einladung begreift. Auffällig ist die wiederkehrende Figur des Zeugma, des verbsparenden und falschen Anschlusses: Lene hatte "alles vom Mann, also Pech". Was ein Kalauer zu sein scheint, ist Bruch der Familienordnung und zugleich abenteuernder Ersatz, ein Satzhüpfen, das sich Freiheit vorbehält.
Anke Velmeke übersieht Psychologie notorisch. Lenes Ferne wiederholt sich als Form: Diese ist grundsätzlich unwehleidig. Dass Lene am Ende Landvermesserin wird, macht die Ecken und Kanten des Erzählens zum Kalkül. Zum Spielen gehört das mutwillige Zerbrechen, das Hinwenden und Herdrehen der Sprache in der Neugier auf ihre Belastbarkeit. Auch Anke Velmeke wagt den Absturz. Wenn eine Kirchturmkugel so "omnipräsent wie Omis und Omnibusse" im Blick steht, ein "Tanz auf Distanz" der schönste ist, dann gleicht dies einem beidfüßigen Springen in die Sprachpfütze. Dieser Übermut verbündet sich mit dem spätkindlichen Freiheitsdrang seiner Heldin. Velmeke glücken in dieser scheinbaren Sorglosigkeit um den Sprachanstand überraschende Bilder, die Lenes Widerstand bewahrheiten. Ihr Ausbruch aus dem Wohnzimmer der brutalisierten Konventionen wird durch die Form vorbereitet: Hinter der Vielfalt wechselnder Metaphern bleibt der Reichtum väterlicher Prügel zurück.
Die Aufmerksamkeit für den Nahgegenstand drängt die Romanhandlung in den Hintergrund. So wird der dreiteilige Aufbau der "Luftfische" weniger durch das Geschehen als durch seinen Rhythmus bestimmt. Die porträtierenden Episoden des ersten Teils verlangsamen sich im zweiten, einem Camping-Urlaub an der Nordsee. Die Enge des Wohnwagens verschärft den Artenkampf im familiären Biotop, Lene bricht in die beherrschte Willkür einer Liebelei aus.
Der dritte Teil schließlich rafft mehrere Jahre zu einem Zerfall zusammen: Der Vater reanimiert seinen Körper an verschiedenen Geliebten, die Mutter löscht ihren im tödlichen Husten aus und Lene verlässt das gemeinsame Leben. Dass sie den Absprung geschafft hat, bescheinigt ihr die Verwandtschaft unfreiwillig beim Begräbnis: Anders sei sie als ihre verstorbene Mutter. Man muss das Urteil als Versprechen verstehen.
Anke Velmeke: "Luftfische". Roman. C.H. Beck Verlag, München 2000. 157 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anke Velmeke sucht ihr Debüt · Von Thomas Wirtz
Nach dem Untergang der kampfwütigen Feudalheroen hätte die Literatur friedfertiger und ein bisschen langweilig fortgelebt, wäre sie nicht auf die Kleinfamilie gestoßen. Hier eröffnete sich ein Schauplatz konzentrierter Konflikte, in dem die ehemals vielköpfigen Schlachten in kleinerer Besetzung wieder auferstanden. Dabei hatte der Vernichtungswille durch die bürgerlich beschränkte Kulisse nichts an Intensität verloren, im Gegenteil. Es war gerade die Nähe am Frühstückstisch, die der Selbstbeherrschung zusetzte und den Morgengruß zur Kampfansage machte. Zwischen Marmelade und Kaffee wiederholte sich die frühere Einsicht, dass nichts grausamer als der Krieg unter Bekannten war.
Auch der Debütroman von Anke Velmeke erkundet dieses Schlachtfeld des unfriedlichen Lebens, wo die Freiheit gegen furnierte Schrankwände anläuft. Übersichtlich verlaufen die Fronten: Die Mutter hat sich aus dem Leben in die Pantoffel und den Geist des Amselfelder zurückgezogen. Ihr Traum vom Glück hat sich am Alltag verbraucht und in den Rauch der unauslöschlichen Zigarette verwandelt. Blind wie ihre Fensterscheiben ist die Wut, die sie in stiller Apathie gegen sich selbst kehrt. Bevor sie am Ende wirklich stirbt, probt sie lange den unklinischen Tod.
Ihr Mann ist Dachdecker, Vater der "Luftfische" und eine gut funktionierende "Wutmaschine". Es bedarf nur eines falschen Wimpernschlags, um ihn ausrasten zu lassen. Dann entfremdet er alles Handgreifliche zum Prügelinstrument, erprobt den Zollstock auf Kinderrücken. In der Not behilft er sich mit Tritten. Von ihm geht der Schrecken überraschender Gewalt aus. Auch die lebenslange Gemeinschaft in der Wohnzelle macht nicht vorhersagbar, wann die Gnade seiner Gleichgültigkeit in schmerzende Aufmerksamkeit umschlägt. Diese Unberechenbarkeit ist die Waffe des Tyrannen. Sie macht das Lauern auf die kleine Geste notwendig, sorgt für unterlassene Begegnungen im Wohnungsflur und garantiert eine Beobachtung, wie sie intimer auch unter Liebenden nicht sein kann.
Die dreizehnjährige "Lene war die einzige, die sich je gewehrt hatte". Der eine Tritt gegen den tretenden Vater schafft einen Respekt, der im anschließenden jahrelangen Anschweigen befestigt wird. Lene ist die Familienwiderständlerin, biologisch gerechtfertigt durch den Quersinn der Pubertät und moralisch unterstützt durch die Sorge für ihre jüngeren Brüder. Den Rückzug ihrer Eltern büßt sie mit vorzeitigem Altern. Anke Velmeke begleitet diese Heldin mit distanzierter Achtung. Für den Sicherheitsabstand zwischen Sympathie und Kunst haben ihre "Luftfische" einen bemerkenswert originellen Ton gefunden, ein Fabulieren im Unfertigen, eine Erzähllust dort, wo das rhetorisch Versierte sich ans Unbeholfene heranwagt: "Mittags waren die Pommes so gelb und goldig-goldgelb, fettschimmernd, mit durchscheinenden Salzkristallen besetzt, daß sich Mann, Frau und Kinder, also überhaupt alle, einander bis auf Tischbreite näherten und hinsetzten auf die Stühle, die ja bereits da waren, und mit spitzen Eßwerkzeugen hineinstachen, die Kartoffelquader also aufspießten, sortierten, nach Größe, Färbung, Form, oder aßen oder zu Prozessionen aufreihten, die sich spiralförmig auf die Mitten der Teller zubewegten."
Es ist der Wagemut des Schiefen und die kontrollierte Verfehlung, die aus dem tiefgefrorenen Mittagessen Requisiten einer Experimentalbühne macht. Da werden Dinge ebenso aufgereiht wie Worte, Satzglieder spielen miteinander unbekümmert um den Anschluss. Aus diesen Familienresten baut sich eine Syntax auf, die um Harmonie unbesorgt ist und die Verbote der Grammatik als Einladung begreift. Auffällig ist die wiederkehrende Figur des Zeugma, des verbsparenden und falschen Anschlusses: Lene hatte "alles vom Mann, also Pech". Was ein Kalauer zu sein scheint, ist Bruch der Familienordnung und zugleich abenteuernder Ersatz, ein Satzhüpfen, das sich Freiheit vorbehält.
Anke Velmeke übersieht Psychologie notorisch. Lenes Ferne wiederholt sich als Form: Diese ist grundsätzlich unwehleidig. Dass Lene am Ende Landvermesserin wird, macht die Ecken und Kanten des Erzählens zum Kalkül. Zum Spielen gehört das mutwillige Zerbrechen, das Hinwenden und Herdrehen der Sprache in der Neugier auf ihre Belastbarkeit. Auch Anke Velmeke wagt den Absturz. Wenn eine Kirchturmkugel so "omnipräsent wie Omis und Omnibusse" im Blick steht, ein "Tanz auf Distanz" der schönste ist, dann gleicht dies einem beidfüßigen Springen in die Sprachpfütze. Dieser Übermut verbündet sich mit dem spätkindlichen Freiheitsdrang seiner Heldin. Velmeke glücken in dieser scheinbaren Sorglosigkeit um den Sprachanstand überraschende Bilder, die Lenes Widerstand bewahrheiten. Ihr Ausbruch aus dem Wohnzimmer der brutalisierten Konventionen wird durch die Form vorbereitet: Hinter der Vielfalt wechselnder Metaphern bleibt der Reichtum väterlicher Prügel zurück.
Die Aufmerksamkeit für den Nahgegenstand drängt die Romanhandlung in den Hintergrund. So wird der dreiteilige Aufbau der "Luftfische" weniger durch das Geschehen als durch seinen Rhythmus bestimmt. Die porträtierenden Episoden des ersten Teils verlangsamen sich im zweiten, einem Camping-Urlaub an der Nordsee. Die Enge des Wohnwagens verschärft den Artenkampf im familiären Biotop, Lene bricht in die beherrschte Willkür einer Liebelei aus.
Der dritte Teil schließlich rafft mehrere Jahre zu einem Zerfall zusammen: Der Vater reanimiert seinen Körper an verschiedenen Geliebten, die Mutter löscht ihren im tödlichen Husten aus und Lene verlässt das gemeinsame Leben. Dass sie den Absprung geschafft hat, bescheinigt ihr die Verwandtschaft unfreiwillig beim Begräbnis: Anders sei sie als ihre verstorbene Mutter. Man muss das Urteil als Versprechen verstehen.
Anke Velmeke: "Luftfische". Roman. C.H. Beck Verlag, München 2000. 157 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"[Luftfische] erzeugt einen Sog, dem der Leser sich allen Schrecken zum Trotz nicht entziehen kann." Brigitte
"In Anke Velmekes Prosa überzeugt die Sprache, eine vibrierende, nervige, schlanke Sprache, die sich nichts vormacht, die nah und vorbehaltlos an ihre Gegenstände heran will, ohne sie in den Schatten zu stellen. Eine Sprache voller Erfindungen, biegsam, einlässlich, gesättigt von Farben und Gerüchen, von der schmerzlichen Dunkelheit, jung zu sein." Ursula Krechel in der ›Zeit‹
"Der Roman ist literarisch ambitioniert, in einer ganz eigenen und mit virtuosem Wortwitz dicht an den Dingen, den Wahrnehmungen und Empfindungen entlang geführten Sprache geschrieben. Ein starkes Debüt, das zu Hoffnungen berechtigt." Hans-Dieter Fronz in der ›Badischen Zeitung‹
"Sprachliche Bilder, die den Schrecken immer wieder in Schönheit zu bannen vermögen." Stefanie Holzer in der ›Frankfurter Rundschau‹
"Da meldet sich eine Debütantin zu Wort, die über eine Sprache verfügt, welche den Leser fest in ihrem Griff hält." Salzburger Nachrichten
"In Anke Velmekes Prosa überzeugt die Sprache, eine vibrierende, nervige, schlanke Sprache, die sich nichts vormacht, die nah und vorbehaltlos an ihre Gegenstände heran will, ohne sie in den Schatten zu stellen. Eine Sprache voller Erfindungen, biegsam, einlässlich, gesättigt von Farben und Gerüchen, von der schmerzlichen Dunkelheit, jung zu sein." Ursula Krechel in der ›Zeit‹
"Der Roman ist literarisch ambitioniert, in einer ganz eigenen und mit virtuosem Wortwitz dicht an den Dingen, den Wahrnehmungen und Empfindungen entlang geführten Sprache geschrieben. Ein starkes Debüt, das zu Hoffnungen berechtigt." Hans-Dieter Fronz in der ›Badischen Zeitung‹
"Sprachliche Bilder, die den Schrecken immer wieder in Schönheit zu bannen vermögen." Stefanie Holzer in der ›Frankfurter Rundschau‹
"Da meldet sich eine Debütantin zu Wort, die über eine Sprache verfügt, welche den Leser fest in ihrem Griff hält." Salzburger Nachrichten
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In einer ziemlich deskriptiven, kaum wertenden Kritik schafft sich Monika Schattenhofer diesen Roman vom Halse, der sie in seiner "nervenden Intensität" der Beschreibung und in der Beziehungslosigkeit seiner Figuren irgendwie doch fasziniert zu haben scheint. Eindringlich schildert die Rezensentin jedenfalls, wie Mutter, Kinder und Vater im nordrhein-westfälischen Kleinbürgermilieu der siebziger Jahre aneinander vorbeileben und am Ende der Fernseher als das sensibelste Familienmitglied dasteht. Aber Schattenhofers abschließendes Urteil über den Roman ist kurz: "Freudlos."
© Perlentaucher Medien GmbH
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