Für Oberregierungsrat Neise geht ein lang ersehnter Traum in Erfüllung: die Reise mit dem Luftschiff von Berlin nach Amerika. Es sind die 20er Jahre, die Welt ist in Bewegung und der Beamte Neise möchte für einen kurzen Moment der Alltagsroutine seines Schreibtisches entfliehen. Endlich ist es soweit: das Luftschiff startet von Berlin Tempelhof, Neise richtet sich in seiner behaglichen Kabine penibel ein. Er besichtigt die Bibliothek, das Raucherzimmer, den Salon, lauscht den angenehmen Klängen des Bordorchesters, knüpft interessante und kuriose Bekanntschaften und erlebt den sagenhaften Anblick von Paris aus der Luft. Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten gönnt sich Neisesogar ein Techtelmechtel, das ihn zu tiefschürfenden Gedanken über die Philosophie der Liebe anregt. Nach drei Tagen angenehmster Fortbewegung und gepflegter Unterhaltung soll das Luftschiff in Amerika landen. Doch aus unerklärlichen Gründen kommt alles ganz anders, Raum und Zeit existieren nicht mehr, die eben
noch so kleine, bürgerlich-heile Gesellschaft steuert dem unvermeidlichen Chaos entgegen ... Ein ungewöhnlicher, komischer und von beißender Ironie getragener Roman, der in eine faszinierende Welt von kafkaesker Absurdität entführt.
noch so kleine, bürgerlich-heile Gesellschaft steuert dem unvermeidlichen Chaos entgegen ... Ein ungewöhnlicher, komischer und von beißender Ironie getragener Roman, der in eine faszinierende Welt von kafkaesker Absurdität entführt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.09.2016NEUE TASCHENBÜCHER
Alles Fake,
über den Wolken
Zur Blütezeit der Luftschifffahrt: Oberregierungsrat Hermann Neise reist nach Amerika. Er benötigt Urlaub, die Nerven! Er geht an Bord der Berlin, mondänes Interieur, aber gefakt. Selbst die Zierpalmen sind künstlich. Ein Gast, von des Gedankens Blässe angekränkelt, raunt kryptisch: „Alles ist Sperrholz. Alles ist Leinwand. Alles ist Gas.“ Dazu spielt die Bordkapelle Salut d’Amour musikalische „Bonbons“, das Zimmermädchen Erika legt Neise eine Praline aufs Kopfkissen (und sich daneben). Drei Tage soll die Reise dauern, es werden Wochen. Milchig-zäher Nebel umwabert den Zeppelin, und er scheint aus Raum und Zeit zu fallen. Das Leben beginnt für die geschlossene Gesellschaft zu zerfließen: „Sie fragen, wann wir ankommen? Nun, das ist noch einfach zu beantworten: Es hängt davon ab, wohin wir fliegen. Und wohin fliegen wir? Auch das ist keine schwierige Frage: Es hängt davon ab, welches Ziel wir haben. Und welches Ziel haben wir? Aha, sehen Sie, hier beginnen die Schwierigkeiten . . .“ Stefan aus dem Siepens luftiges Debüt von 2006 hat die Literaturgeschichte im Gepäck, die Décadence, die Fantastik, Kafka. Herrlich anachronistisch. FLORIAN WELLE
Stefan aus dem Siepen: Luftschiff. Roman. dtv, München 2016. 158 Seiten, 9,90 Euro.
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Alles Fake,
über den Wolken
Zur Blütezeit der Luftschifffahrt: Oberregierungsrat Hermann Neise reist nach Amerika. Er benötigt Urlaub, die Nerven! Er geht an Bord der Berlin, mondänes Interieur, aber gefakt. Selbst die Zierpalmen sind künstlich. Ein Gast, von des Gedankens Blässe angekränkelt, raunt kryptisch: „Alles ist Sperrholz. Alles ist Leinwand. Alles ist Gas.“ Dazu spielt die Bordkapelle Salut d’Amour musikalische „Bonbons“, das Zimmermädchen Erika legt Neise eine Praline aufs Kopfkissen (und sich daneben). Drei Tage soll die Reise dauern, es werden Wochen. Milchig-zäher Nebel umwabert den Zeppelin, und er scheint aus Raum und Zeit zu fallen. Das Leben beginnt für die geschlossene Gesellschaft zu zerfließen: „Sie fragen, wann wir ankommen? Nun, das ist noch einfach zu beantworten: Es hängt davon ab, wohin wir fliegen. Und wohin fliegen wir? Auch das ist keine schwierige Frage: Es hängt davon ab, welches Ziel wir haben. Und welches Ziel haben wir? Aha, sehen Sie, hier beginnen die Schwierigkeiten . . .“ Stefan aus dem Siepens luftiges Debüt von 2006 hat die Literaturgeschichte im Gepäck, die Décadence, die Fantastik, Kafka. Herrlich anachronistisch. FLORIAN WELLE
Stefan aus dem Siepen: Luftschiff. Roman. dtv, München 2016. 158 Seiten, 9,90 Euro.
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Stefan Siepens luftiges Debüt von 2006 hat die Literaturgeschichte im Gepäck, die Décadence, die Fantastik, Kafka. Herrlich anachronistisch. Florian Welle Süddeutsche Zeitung 20160907