Luise, Mädchen vom Hinterhof, liebt Bertram aus der Beletage. Und er liebt sie. Doch beider Eltern sind dagegen: Luise ist den einen zu arm und Bertram für die anderen nur der "Judenbengel".
1890: In einem Haus im Berliner Norden leben unter anderen zwei Familien. Die Sanders mit ihrer Tochter Luise im Hinterhof, die Glücksmanns mit Sohn Bertram in der Beletage. Zufällig begegnen sich die beiden jungen Menschen und verlieben sich ineinander. Aber Sandmanns halten nichts von den reichen semitischen Emporkömmlingen und für Vater Glücksmann, der nach höherem strebt, ist ein Mädchen aus dem Hinterhaus indiskutabel. Als die Fassade der Glücksmann'schen Prosperität ins Wanken gerät, begeht Bertram Luise gegenüber einen Fehler, der ihrer beider heimliches Glück beinahe vernichtet hätte. Dies ist der erste Teil einer Trilogie über drei Generationen und einhundert Jahre deutscher Geschichte.
1890: In einem Haus im Berliner Norden leben unter anderen zwei Familien. Die Sanders mit ihrer Tochter Luise im Hinterhof, die Glücksmanns mit Sohn Bertram in der Beletage. Zufällig begegnen sich die beiden jungen Menschen und verlieben sich ineinander. Aber Sandmanns halten nichts von den reichen semitischen Emporkömmlingen und für Vater Glücksmann, der nach höherem strebt, ist ein Mädchen aus dem Hinterhaus indiskutabel. Als die Fassade der Glücksmann'schen Prosperität ins Wanken gerät, begeht Bertram Luise gegenüber einen Fehler, der ihrer beider heimliches Glück beinahe vernichtet hätte. Dies ist der erste Teil einer Trilogie über drei Generationen und einhundert Jahre deutscher Geschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.08.1999Die Töchter der versoffenen Wäscherin
Berliner Leben, Berliner Frauen: Waldtraut Lewins Hundert-Jahre-Trilogie
Der Roman eines Berliner Mietshauses im Brennpunkt der Jahre 1890, 1935 und 1989 läßt unweigerlich an Klaus Kordons Berlin-Romane denken. Doch Waldtraut Lewin braucht den Vergleich nicht zu fürchten. Mit Kordon teilt sie die geschichtsdidaktische Intention wie die Konzeption: Der Ort bildet den Bühnenraum, in dem historische und individuelle Schwellenzeiten am Leitfaden einer Familiengeschichte exemplarisch in Szene gesetzt werden. Den Kordon'schen Erörterungen in der Wohnküche, seinen biederen Helden und dem gleichmäßigen Erzählstrom setzt Lewin präzis gezeichnete Frauengestalten entgegen, die Aspekte ihrer Epoche verkörpern. Die versierte Dramaturgin und Regisseurin konstruiert eine spannungsreiche Trilogie mit einer Exposition ("Luise, Hinterhof Nord"), in der sie den Handlungsknoten schnürt, und zwei analytischen Dramen, die eine dunkle Vergangenheit langsam ans Licht bringen.
Am Anfang steht eine versoffene Wäscherin mit ihren vier Töchtern. Die energische und intelligente Älteste, Luise, will aus dem ärmlichen Hinterhof in die Beletage. Aber nicht kalter Ehrgeiz lässt ihren Aufstieg gelingen, sondern die Liebe zu dem jüdischen Gymnasiasten aus dem Vorderhaus. Mit der Geschichte der Berliner Juden bleiben seitdem Luises Leben und das ihrer nicht ganz so lebensklugen Schwester Agnes eng verbunden. Aus der proletarischen und weiblichen Perspektive beleuchtet die Autorin scharf die sozialen Konflikte und den Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Bis zu den Nebenfiguren sind die Personen differenziert gezeichnet - komplexe Charaktere mit Stärken und sympathischen Schwächen.
Dies gilt auch für den eindrucksvollen zweiten Band mit der Jahreszahl 1935. Hier steht Agnes' Enkelin Katharina im Mittelpunkt. Ihre Ungewissheit über ihre Herkunft schlägt in Enttäuschung um, als sich herausstellt, dass die verehrte Tante Paula in Wahrheit ihre Mutter ist, die erst spät ihre Liebe zu dem Kind erkannt hat. Katharina gerät in einen weiteren Konflikt: Die Enkelin eines Juden verliebt sich in einen jungen Nationalsozialisten. Die Zuspitzung der Situation erzwingt ihren Entschluss, Deutschland und den schönen Fanatiker zu verlassen.
Die Spannung, die Waldtraut Lewin aufbaut, greift tiefer als die jugendliterarisch gängige der gefahrvollen Aktionen und amourösen Verwicklungen. Kein Geheimnis provoziert ein solches Bedürfnis nach Erhellung wie das der eigenen Herkunft. Freud fasste die Phantasien, die dies Geheimnis betreffen, unter dem Begriff des jugendlichen Familienromans zusammen. Waldtraut Lewin hat nun einen Familienroman geschrieben, in dem sich die Faszination dieser Phantasien mit sozialgeschichtlich genau recherchierten Familiensituationen einprägsam verdichtet. Ihre Entscheidung für die Perspektive der Frauen ist aus heutiger Sicht schlüssig. In Berlin ist ihr Roman auch daher zu Recht angesiedelt, denn hier haben zwar Männer Geschichte gemacht, die Frauen aber haben stets mit besonderer Zähigkeit das Gewebe des Alltagslebens geflickt und erneuert. Zu diesem unauffälligen Matriarchat gehören Lewins sinnliche, aufrechte Frauen, die selbst in Sucht und Verzweiflung noch ihre Würde bewahren. Lewins matriarchale Ordnung ist zugleich matrilinear: Nicht der väterliche Name, sondern der mütterliche wird weitergegeben.
Im dritten Band aus dem Wendejahr 1989 gerät das Verfahren, die Vergangenheit nur langsamen Schritts zu enthüllen, zur Wirrnis. Lewin setzt die grellen Effekte des Doppelgänger- und Zwillingsmotivs ebenso wie die des Agententhrillers ein. Damit gleitet der prägnante Realismus der ersten Bände ab in eine Story voll Unwahrscheinlichkeiten, mit paranoiden Zügen. Der Autorin - Nationalpreisträgerin der DDR und IM der Staatssicherheit - fehlt offensichtlich die Distanz, um das Geschehen von 1989 mit der gleichen Genauigkeit in eine bündige Handlung umzusetzen, wie es ihr in den anderen Bänden gelungen ist.
GUNDEL MATTENKLOTT
Waldtraut Lewin: "Luise, Hinterhof Nord"; "Paulas Katze"; "Mauersegler". Alle drei Bände Otto Maier Verlag, Ravensburg 1999. Je 256 S., geb., 26,- DM. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Berliner Leben, Berliner Frauen: Waldtraut Lewins Hundert-Jahre-Trilogie
Der Roman eines Berliner Mietshauses im Brennpunkt der Jahre 1890, 1935 und 1989 läßt unweigerlich an Klaus Kordons Berlin-Romane denken. Doch Waldtraut Lewin braucht den Vergleich nicht zu fürchten. Mit Kordon teilt sie die geschichtsdidaktische Intention wie die Konzeption: Der Ort bildet den Bühnenraum, in dem historische und individuelle Schwellenzeiten am Leitfaden einer Familiengeschichte exemplarisch in Szene gesetzt werden. Den Kordon'schen Erörterungen in der Wohnküche, seinen biederen Helden und dem gleichmäßigen Erzählstrom setzt Lewin präzis gezeichnete Frauengestalten entgegen, die Aspekte ihrer Epoche verkörpern. Die versierte Dramaturgin und Regisseurin konstruiert eine spannungsreiche Trilogie mit einer Exposition ("Luise, Hinterhof Nord"), in der sie den Handlungsknoten schnürt, und zwei analytischen Dramen, die eine dunkle Vergangenheit langsam ans Licht bringen.
Am Anfang steht eine versoffene Wäscherin mit ihren vier Töchtern. Die energische und intelligente Älteste, Luise, will aus dem ärmlichen Hinterhof in die Beletage. Aber nicht kalter Ehrgeiz lässt ihren Aufstieg gelingen, sondern die Liebe zu dem jüdischen Gymnasiasten aus dem Vorderhaus. Mit der Geschichte der Berliner Juden bleiben seitdem Luises Leben und das ihrer nicht ganz so lebensklugen Schwester Agnes eng verbunden. Aus der proletarischen und weiblichen Perspektive beleuchtet die Autorin scharf die sozialen Konflikte und den Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Bis zu den Nebenfiguren sind die Personen differenziert gezeichnet - komplexe Charaktere mit Stärken und sympathischen Schwächen.
Dies gilt auch für den eindrucksvollen zweiten Band mit der Jahreszahl 1935. Hier steht Agnes' Enkelin Katharina im Mittelpunkt. Ihre Ungewissheit über ihre Herkunft schlägt in Enttäuschung um, als sich herausstellt, dass die verehrte Tante Paula in Wahrheit ihre Mutter ist, die erst spät ihre Liebe zu dem Kind erkannt hat. Katharina gerät in einen weiteren Konflikt: Die Enkelin eines Juden verliebt sich in einen jungen Nationalsozialisten. Die Zuspitzung der Situation erzwingt ihren Entschluss, Deutschland und den schönen Fanatiker zu verlassen.
Die Spannung, die Waldtraut Lewin aufbaut, greift tiefer als die jugendliterarisch gängige der gefahrvollen Aktionen und amourösen Verwicklungen. Kein Geheimnis provoziert ein solches Bedürfnis nach Erhellung wie das der eigenen Herkunft. Freud fasste die Phantasien, die dies Geheimnis betreffen, unter dem Begriff des jugendlichen Familienromans zusammen. Waldtraut Lewin hat nun einen Familienroman geschrieben, in dem sich die Faszination dieser Phantasien mit sozialgeschichtlich genau recherchierten Familiensituationen einprägsam verdichtet. Ihre Entscheidung für die Perspektive der Frauen ist aus heutiger Sicht schlüssig. In Berlin ist ihr Roman auch daher zu Recht angesiedelt, denn hier haben zwar Männer Geschichte gemacht, die Frauen aber haben stets mit besonderer Zähigkeit das Gewebe des Alltagslebens geflickt und erneuert. Zu diesem unauffälligen Matriarchat gehören Lewins sinnliche, aufrechte Frauen, die selbst in Sucht und Verzweiflung noch ihre Würde bewahren. Lewins matriarchale Ordnung ist zugleich matrilinear: Nicht der väterliche Name, sondern der mütterliche wird weitergegeben.
Im dritten Band aus dem Wendejahr 1989 gerät das Verfahren, die Vergangenheit nur langsamen Schritts zu enthüllen, zur Wirrnis. Lewin setzt die grellen Effekte des Doppelgänger- und Zwillingsmotivs ebenso wie die des Agententhrillers ein. Damit gleitet der prägnante Realismus der ersten Bände ab in eine Story voll Unwahrscheinlichkeiten, mit paranoiden Zügen. Der Autorin - Nationalpreisträgerin der DDR und IM der Staatssicherheit - fehlt offensichtlich die Distanz, um das Geschehen von 1989 mit der gleichen Genauigkeit in eine bündige Handlung umzusetzen, wie es ihr in den anderen Bänden gelungen ist.
GUNDEL MATTENKLOTT
Waldtraut Lewin: "Luise, Hinterhof Nord"; "Paulas Katze"; "Mauersegler". Alle drei Bände Otto Maier Verlag, Ravensburg 1999. Je 256 S., geb., 26,- DM. Ab 14 J.
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