Bisher unbeachtete Akten in den Vatikanischen Archiven lassen erstmals detailliert erkennen, wie Luther von Rom aus wahrgenommen wurde. Volker Reinhardt zeigt in seinem bahnbrechenden Buch, wie sich daraus ein ganz neues Bild der Reformation ergibt, deren tiefere, bis heute nachwirkende Ursachen in Hass und Unverständnis zwischen "kultivierten Italienern" und "barbarischen Deutschen" liegen. Luther hegte einen flammenden Hass auf "des Teufels Sau, den Bapst". Die römischen Theologen wiederum verstanden nicht, was der grobschlächtige, unendlich eitle Mönch anderes wollte, als das Papsttum zu zerstören. Und fromme Fürsten in Deutschland hatten ihre eigenen Gründe, den wortgewaltigen Hassprediger zu unterstützen. So war der Weg zur Kirchenspaltung früh vorgezeichnet - ganz unabhängig von den theologischen Disputen, die schon damals kaum jemand verstand. Volker Reinhardt zeigt anhand bisher vernachlässigter römischer Quellen über Luther, dass die wahren Gründe für die Glaubensspaltung jenseits der Glaubensfragen liegen. Er rekonstruiert erstmals die großen, von Protestanten mythisch verklärten Begegnungen zwischen Luther und dem Papsttum aus römischer Sicht, zeigt, warum die Päpste das Geschrei im fernen Deutschland oft nicht ernst nahmen, und zeichnet ein erstaunlich neues Bild von dem Kampf der Mentalitäten und Interessen, der die Welt verändert hat.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Stephan Speicher stellt zwei neue Bücher über Luther vor: Volker Leppins "Die fremde Reformation" und Volker Reinhardts "Luther, der Ketzer". Auch wenn er Reinhardt den Vorzug geben mag, kann er doch beide Bücher als Ergänzung empfehlen. Denn Leppin schildert die Reformation eher als Kultur- denn als Religionsgeschichte. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Verhältnis der Deutschen zu den italienischen Geistlichen, erklärt Speicher. Die Italiener hielten die Deutschen für Barbaren, die Deutschen hatten einen Minderwertigkeitskomplex, hielten sich dafür aber moralisch für überlegen. Wie Leppin das erzählt, fand der Rezensent offenbar anregend, Volker Reinhardts Buch, das die theologische Entwicklung der Reformation nachzeichnet findet er allerdings "feiner gearbeitet". Laut Reinhardt war Luther stark von spätmittelalterlichen Theologen geprägt, die bereits den Grundstein für die Ideen der Reformation legten, indem sie - anders als die Kirche mit ihren theologischen Haarspaltereien - das Verhältnis des Einzelnen zu Gott betonten. Dass die Katholische Kirche nach den Konzilen in Konstanz und Basel an den eigenen Vorrechte festhalten musste, findet Speicher verständlich. Dass es darüber zu einem "geistigen Bürgerkrieg" kam, war vielleicht unvermeidlich, so der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2016Ein Gespenst namens Protestantismus
Reformatoren-Zwerge und ein Schrumpfgermane: Drei neue Bücher über Martin Luther werfen die Frage auf, warum 2017 eigentlich gefeiert wird.
Die heute bekannteste zeitgenössische Luther-Darstellung ist die massenhaft reproduzierte Skulptur Otmar Hörls - ein Verkaufsschlager, lieferbar in den Farben Kobaltblau, Moosgrün, Purpurrot, Schwarz und Bronze, hergestellt in der Materialität unserer Wegwerfzivilisation: Kunststoff. Das dem knapp einen Meter großen Luther-Zwerg zugrundeliegende "Urbild" ist jene Monumentalstatue J. G. Schadows, die seit 1821 den Marktplatz Wittenbergs beherrscht. Die bunte und billige Reproduktion eines nationalistischen Heros des neunzehnten Jahrhunderts - das Luther-Bild unserer Zeit. In Hörls Strategie, ein überkommenes Geschichtsbild zugleich zu konterkarieren und zu reproduzieren, zeigt sich ein symptomatischer Zug unserer Gegenwart.
Diesen Zug kann man auch an einigen Neuerscheinungen wahrnehmen - ein erstes Rauschen der heraufziehenden Reformationsjubiläumspublizistik. Jedes dieser Bücher macht sich Luthers Bekanntheit zunutze und führt seinen Namen im Haupt- oder Untertitel; keines dieser Bücher erkennt ihm und der mit ihm verbundenen Reformation Größe im Sinn originaler historischer Prägekraft oder bleibender Bedeutsamkeit zu. "Luther der Ketzer - Rom und die Reformation", vorgelegt von Volker Reinhardt, dem in Fribourg lehrenden profunden Kenner Italiens und des Papsttums um 1500, erzählt die Geschichte des Wittenberger Reformators aus der Perspektive Roms, also der im Auftrag und Umkreis des Papstes tätigen Skribenten, Nuntien, Kurtisanen.
Auf anschauliche Weise führt Reinhardt vor Augen, wie wenig die römischen Akteure von Luther verstanden, wie tief sie in Ressentiments gegenüber den germanischen Barbaren befangen waren, wie blasiert-befremdet sie der Luther-Begeisterung nördlich der Alpen gegenüberstanden und wie unfähig und -willig sie waren, die religiöse Inbrunst, die ihnen hier entgegenschlug, auf theologisch ernsthafte Weise zu parieren.
Mit diesem durchaus originellen ultramontanen Blick aber ist die Grenze des Buches erreicht, denn im Grunde teilt der eloquente Stilist Reinhardt das Befremden seiner Quellen; was an Luthers Sicht des Christentums zu faszinieren vermochte, warum Menschen vor einem halben Jahrtausend bei der Lektüre seiner Texte elektrisiert waren, weshalb Lebensgeschichten infolge der Begegnung mit seiner Botschaft einen neuen Verlauf nahmen - Mönche und Nonnen ihre Klöster verließen, Priester heirateten, Stifter ihre Bilder und Altäre abbrechen ließen -, von all dem erfährt der Leser nichts.
Ärgerlich, ja hart am Limit der Seriosität, ist die reißerische Werbebanderole: "Geheimakte Luther. Vatikanische Quellen decken auf, was in der Reformation wirklich geschah". Nicht ein einziges Aktenpartikelchen aus den reichen römischen Archiven bringt der Rom-Kenner Reinhardt neu bei! Was er auswertet und -schreibt, sind die seit 1892 publizierten Nuntiaturberichte und die von Th. Brieger und P. Kalkoff seit 1884 veröffentlichten Depeschen, in denen Alexander und andere Emissäre in die Ewige Stadt berichteten. Dass ein Autor italienische Quellen auswerten kann, ist fein - aber "Geheimakte Luther"?! Die gab es eben nicht, und das ist Teil jener Tristesse, die das Thema "Rom und die Reformation" umgibt.
Verfremdung und Enthüllung verspricht auch ein zweiter Titel: "Die fremde Reformation - Luthers mystische Wurzeln". Sein Verfasser, Volker Leppin, evangelischer Kirchenhistoriker, fasst hier monographisch kompakt zusammen, was ihn seit längerem umtreibt: die tiefe und nachhaltige Prägung Luthers durch die mystische Theologie Johannes Taulers und einiger Nachfolger. Unermüdlich zeigt er Parallelen zwischen Frömmigkeitstraditionen des späten Mittelalters und dem theologischen Werden des Wittenberger Reformators auf; entscheidende intellektuelle Weichenstellungen wie die Konzentration auf das Gotteswort, die Freiheit eines Christenmenschen, das Priestertum aller Gläubigen, die Sakramentenlehre sind nichts anderes als "Transformationen" - so der von Leppin als Alternative zu der auf "Umbruch" abonnierten Reformationsterminologie eingebrachte Schlüsselbegriff - mystischer Traditionsbestände.
Leppins Luther wird zugunsten der ihm vorangegangenen Frömmigkeitstradition geschrumpft. Konzeptionell unbefriedigend, eine Folge der methodischen Engführung auf Frömmigkeits- und Theologiegeschichte, bleibt, dass die Rekonstruktion des theologischen Werdens Luthers schon gleich "die Reformation" sein soll. Leppin kämpft unablässig gegen das offenbar namen- und gesichtslose Gespenst "des Protestantismus", der sich der Erkenntnis seiner Prägung durch "das Mittelalter" entzieht und die fälligen Konsequenzen für die Ökumene, die Angebetete des tragischen Tübinger Ritters, verweigert. Keine Angst, Jubiläumsfreude kommt so nicht auf!
Dass diese Gefahr auch bei "Der deutsche Glaubenskrieg. Martin Luther, der Papst und die Folgen" von Tillman Bendikowski, einem Neuzeit-Historiker und Journalisten, nicht besteht, ist klar. Bendikowski zeigt die deutsche Geschichte im Bann tiefer religiöser Verwerfungen, die unendliches Leid - kulminierend im Dreißigjährigen Krieg - über die Deutschen gebracht, im Kulturkampf fröhliche Urständ gefeiert habe und in der "neuen Konjunktur" der Religion in unserer Gegenwart bedrohlich zurückkehre. Luther und die Reformation - der Anfang einer Unheilsgeschichte, deren lange Schatten bis zu den "Privilegien" der Amtskirchen unserer Tage reichten, die in der "deutschen Religionspolitik" "etwa dem Islam gegenüber" noch immer "bessergestellt" würden.
Das Alarmierend-Bemerkenswerte dieses Buches besteht in dreierlei: in der völligen Ignoranz gegenüber religiös induzierten Konflikten vor Luther, deren Kenntnis eine Voraussetzung für die in der Reformation auftretenden Konfliktlagen wäre; in der Fixierung auf die deutsche Geschichte, das heißt der Unkenntnis der etwa in Frankreich tobenden Religionskriege; schließlich im Unwillen oder in der Unfähigkeit, den mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 beziehungsweise dem Westfälischen Frieden von 1648 mit großem Erfolg eingeschlagenen Weg der Pazifizierung der Religionsfrage mittels ihrer staatlichen Verrechtlichung angemessen zu würdigen.
Das deutsche Staatskirchenrecht, in der Tat die Blut-und-Tränen-Saat eines mörderischen Religionskonflikts, repräsentiert ein Modell der Entschärfung religiöser Gewaltpotentiale durch staatlich verbürgte und durchgesetzte Toleranz - um des förderlichen Interesses an der Religion willen. Ein Modell, das von protestantischen Juristen propagiert und von evangelischen Theologen bereits verteidigt wurde, als Katholiken noch darüber stritten, ob man mit Ketzern überhaupt Frieden schließen dürfe!
Der 31. Oktober 2017 wird in der Bundesrepublik Deutschland als außerordentlicher Feiertag begangen werden. Die hier besprochenen Bücher liefern keinen Grund, dies zu tun. Doch einen solchen Grund gibt es: Die Antwort unserer Rechtskultur auf die Gretchenfrage lautet nicht, dass die Religion überwunden oder ignoriert werden kann und soll; der Königsweg der Moderne ist der der Zivilisierung der Religion mit den Mitteln des staatlichen Rechts.
Die Legitimität dieses Weges hat übrigens kein Theologe des sechzehnten Jahrhunderts nachdrücklicher verfochten als Luther; die weltliche Gewalt habe nicht zum Glauben zu erziehen, sondern dem Bösen zu wehren und den äußeren Frieden zu sichern. Neben vielem anderen war Luther ein genialer Publizist, ein virtuoser Sprachkünstler, ein Kämpfer für den Sinn und die Freiheit des Glaubens. Jenseits des abstoßenden Heroismus des neunzehnten Jahrhunderts kommt ihm historische Größe zu; zum Schrumpfgermanen taugt er nicht.
THOMAS KAUFMANN
Volker Reinhardt: "Luther der Ketzer". Rom und die Reformation.
Verlag C. H. Beck, München 2016. 352 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Volker Leppin: "Die fremde Reformation". Luthers mystische Wurzeln.
Verlag C. H. Beck, München 2016. 247 S., Abb., geb., 21,95 [Euro].
Tillmann Bendikowski: "Der deutsche Glaubenskrieg". Martin Luther, der Papst und die Folgen.
C. Bertelsmann Verlag, München 2016. 384 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reformatoren-Zwerge und ein Schrumpfgermane: Drei neue Bücher über Martin Luther werfen die Frage auf, warum 2017 eigentlich gefeiert wird.
Die heute bekannteste zeitgenössische Luther-Darstellung ist die massenhaft reproduzierte Skulptur Otmar Hörls - ein Verkaufsschlager, lieferbar in den Farben Kobaltblau, Moosgrün, Purpurrot, Schwarz und Bronze, hergestellt in der Materialität unserer Wegwerfzivilisation: Kunststoff. Das dem knapp einen Meter großen Luther-Zwerg zugrundeliegende "Urbild" ist jene Monumentalstatue J. G. Schadows, die seit 1821 den Marktplatz Wittenbergs beherrscht. Die bunte und billige Reproduktion eines nationalistischen Heros des neunzehnten Jahrhunderts - das Luther-Bild unserer Zeit. In Hörls Strategie, ein überkommenes Geschichtsbild zugleich zu konterkarieren und zu reproduzieren, zeigt sich ein symptomatischer Zug unserer Gegenwart.
Diesen Zug kann man auch an einigen Neuerscheinungen wahrnehmen - ein erstes Rauschen der heraufziehenden Reformationsjubiläumspublizistik. Jedes dieser Bücher macht sich Luthers Bekanntheit zunutze und führt seinen Namen im Haupt- oder Untertitel; keines dieser Bücher erkennt ihm und der mit ihm verbundenen Reformation Größe im Sinn originaler historischer Prägekraft oder bleibender Bedeutsamkeit zu. "Luther der Ketzer - Rom und die Reformation", vorgelegt von Volker Reinhardt, dem in Fribourg lehrenden profunden Kenner Italiens und des Papsttums um 1500, erzählt die Geschichte des Wittenberger Reformators aus der Perspektive Roms, also der im Auftrag und Umkreis des Papstes tätigen Skribenten, Nuntien, Kurtisanen.
Auf anschauliche Weise führt Reinhardt vor Augen, wie wenig die römischen Akteure von Luther verstanden, wie tief sie in Ressentiments gegenüber den germanischen Barbaren befangen waren, wie blasiert-befremdet sie der Luther-Begeisterung nördlich der Alpen gegenüberstanden und wie unfähig und -willig sie waren, die religiöse Inbrunst, die ihnen hier entgegenschlug, auf theologisch ernsthafte Weise zu parieren.
Mit diesem durchaus originellen ultramontanen Blick aber ist die Grenze des Buches erreicht, denn im Grunde teilt der eloquente Stilist Reinhardt das Befremden seiner Quellen; was an Luthers Sicht des Christentums zu faszinieren vermochte, warum Menschen vor einem halben Jahrtausend bei der Lektüre seiner Texte elektrisiert waren, weshalb Lebensgeschichten infolge der Begegnung mit seiner Botschaft einen neuen Verlauf nahmen - Mönche und Nonnen ihre Klöster verließen, Priester heirateten, Stifter ihre Bilder und Altäre abbrechen ließen -, von all dem erfährt der Leser nichts.
Ärgerlich, ja hart am Limit der Seriosität, ist die reißerische Werbebanderole: "Geheimakte Luther. Vatikanische Quellen decken auf, was in der Reformation wirklich geschah". Nicht ein einziges Aktenpartikelchen aus den reichen römischen Archiven bringt der Rom-Kenner Reinhardt neu bei! Was er auswertet und -schreibt, sind die seit 1892 publizierten Nuntiaturberichte und die von Th. Brieger und P. Kalkoff seit 1884 veröffentlichten Depeschen, in denen Alexander und andere Emissäre in die Ewige Stadt berichteten. Dass ein Autor italienische Quellen auswerten kann, ist fein - aber "Geheimakte Luther"?! Die gab es eben nicht, und das ist Teil jener Tristesse, die das Thema "Rom und die Reformation" umgibt.
Verfremdung und Enthüllung verspricht auch ein zweiter Titel: "Die fremde Reformation - Luthers mystische Wurzeln". Sein Verfasser, Volker Leppin, evangelischer Kirchenhistoriker, fasst hier monographisch kompakt zusammen, was ihn seit längerem umtreibt: die tiefe und nachhaltige Prägung Luthers durch die mystische Theologie Johannes Taulers und einiger Nachfolger. Unermüdlich zeigt er Parallelen zwischen Frömmigkeitstraditionen des späten Mittelalters und dem theologischen Werden des Wittenberger Reformators auf; entscheidende intellektuelle Weichenstellungen wie die Konzentration auf das Gotteswort, die Freiheit eines Christenmenschen, das Priestertum aller Gläubigen, die Sakramentenlehre sind nichts anderes als "Transformationen" - so der von Leppin als Alternative zu der auf "Umbruch" abonnierten Reformationsterminologie eingebrachte Schlüsselbegriff - mystischer Traditionsbestände.
Leppins Luther wird zugunsten der ihm vorangegangenen Frömmigkeitstradition geschrumpft. Konzeptionell unbefriedigend, eine Folge der methodischen Engführung auf Frömmigkeits- und Theologiegeschichte, bleibt, dass die Rekonstruktion des theologischen Werdens Luthers schon gleich "die Reformation" sein soll. Leppin kämpft unablässig gegen das offenbar namen- und gesichtslose Gespenst "des Protestantismus", der sich der Erkenntnis seiner Prägung durch "das Mittelalter" entzieht und die fälligen Konsequenzen für die Ökumene, die Angebetete des tragischen Tübinger Ritters, verweigert. Keine Angst, Jubiläumsfreude kommt so nicht auf!
Dass diese Gefahr auch bei "Der deutsche Glaubenskrieg. Martin Luther, der Papst und die Folgen" von Tillman Bendikowski, einem Neuzeit-Historiker und Journalisten, nicht besteht, ist klar. Bendikowski zeigt die deutsche Geschichte im Bann tiefer religiöser Verwerfungen, die unendliches Leid - kulminierend im Dreißigjährigen Krieg - über die Deutschen gebracht, im Kulturkampf fröhliche Urständ gefeiert habe und in der "neuen Konjunktur" der Religion in unserer Gegenwart bedrohlich zurückkehre. Luther und die Reformation - der Anfang einer Unheilsgeschichte, deren lange Schatten bis zu den "Privilegien" der Amtskirchen unserer Tage reichten, die in der "deutschen Religionspolitik" "etwa dem Islam gegenüber" noch immer "bessergestellt" würden.
Das Alarmierend-Bemerkenswerte dieses Buches besteht in dreierlei: in der völligen Ignoranz gegenüber religiös induzierten Konflikten vor Luther, deren Kenntnis eine Voraussetzung für die in der Reformation auftretenden Konfliktlagen wäre; in der Fixierung auf die deutsche Geschichte, das heißt der Unkenntnis der etwa in Frankreich tobenden Religionskriege; schließlich im Unwillen oder in der Unfähigkeit, den mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 beziehungsweise dem Westfälischen Frieden von 1648 mit großem Erfolg eingeschlagenen Weg der Pazifizierung der Religionsfrage mittels ihrer staatlichen Verrechtlichung angemessen zu würdigen.
Das deutsche Staatskirchenrecht, in der Tat die Blut-und-Tränen-Saat eines mörderischen Religionskonflikts, repräsentiert ein Modell der Entschärfung religiöser Gewaltpotentiale durch staatlich verbürgte und durchgesetzte Toleranz - um des förderlichen Interesses an der Religion willen. Ein Modell, das von protestantischen Juristen propagiert und von evangelischen Theologen bereits verteidigt wurde, als Katholiken noch darüber stritten, ob man mit Ketzern überhaupt Frieden schließen dürfe!
Der 31. Oktober 2017 wird in der Bundesrepublik Deutschland als außerordentlicher Feiertag begangen werden. Die hier besprochenen Bücher liefern keinen Grund, dies zu tun. Doch einen solchen Grund gibt es: Die Antwort unserer Rechtskultur auf die Gretchenfrage lautet nicht, dass die Religion überwunden oder ignoriert werden kann und soll; der Königsweg der Moderne ist der der Zivilisierung der Religion mit den Mitteln des staatlichen Rechts.
Die Legitimität dieses Weges hat übrigens kein Theologe des sechzehnten Jahrhunderts nachdrücklicher verfochten als Luther; die weltliche Gewalt habe nicht zum Glauben zu erziehen, sondern dem Bösen zu wehren und den äußeren Frieden zu sichern. Neben vielem anderen war Luther ein genialer Publizist, ein virtuoser Sprachkünstler, ein Kämpfer für den Sinn und die Freiheit des Glaubens. Jenseits des abstoßenden Heroismus des neunzehnten Jahrhunderts kommt ihm historische Größe zu; zum Schrumpfgermanen taugt er nicht.
THOMAS KAUFMANN
Volker Reinhardt: "Luther der Ketzer". Rom und die Reformation.
Verlag C. H. Beck, München 2016. 352 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Volker Leppin: "Die fremde Reformation". Luthers mystische Wurzeln.
Verlag C. H. Beck, München 2016. 247 S., Abb., geb., 21,95 [Euro].
Tillmann Bendikowski: "Der deutsche Glaubenskrieg". Martin Luther, der Papst und die Folgen.
C. Bertelsmann Verlag, München 2016. 384 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Spannende- besser spannungsreich- ist die Luthers Leben abarbeitende und in glänzendem Stil verfasste Biographie."
Christopher Spehr, Zeitzeichen, August 2016
"Mit leichter Hand führt Reinhardt den Leser in die nordalpinen Lebenswelten des Reformators ein und kontrastiert sie mit den Strukturen Roms und seines 'souveränen Pontifex."
Heinz Schilling, Süddeutsche Zeitung, 11. Februar 2016
Christopher Spehr, Zeitzeichen, August 2016
"Mit leichter Hand führt Reinhardt den Leser in die nordalpinen Lebenswelten des Reformators ein und kontrastiert sie mit den Strukturen Roms und seines 'souveränen Pontifex."
Heinz Schilling, Süddeutsche Zeitung, 11. Februar 2016