«Allein in der Berufung auf sein Gewissen stürzte Martin Luther eine Welt um, wie es sonst nur Kopernikus gelang.»
Er war der größte Rebell, den die deutsche Geschichte aufzuweisen hat - und wollte doch nichts weniger sein. Martin Luther hat mit den sagenhaften Hammerschlägen, mit denen er seine 95 Thesen an das Tor der Schlosskirche zu Wittenberg nagelte, das Mittelalter beendet und ein neues Zeitalter begründet: das, in dem wir heute leben. Die von ihm angestoßene Reformation wirkte wie ein ungeheurer Modernisierungsschub, auf Kunst und Alltagsleben, Literatur, Wissenschaft und Publizistik; Luthers Bibelübersetzung ist der Grundtext für das heutige Deutsch. Vor allem aber gab der entlaufene Augustinermönch den Deutschen zum ersten Mal einen Begriff von der Individualität des Menschen: Du allein verfügst über dich, nicht der Kaiser, nicht der Papst, niemand außer Gott. Luther ist eine einzigartige Figur in der europäischen Geschichte. Ohne ihn wäre die Welt ärmer - auf jeden Fall eine andere.
Willi Winkler geht es darum, den ganzen Luther in den Blick zu nehmen, ihn als den Mann zu zeigen, der seine Welt vom Kopf auf die Füße gestellt hat, vor dem Hintergrund des aufregenden 16. Jahrhunderts, in dem die Neuzeit beginnt. Rechtzeitig zum Reformationsjahr erscheint diese große Biographie, die alle Anlagen zum Klassiker hat.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Er war der größte Rebell, den die deutsche Geschichte aufzuweisen hat - und wollte doch nichts weniger sein. Martin Luther hat mit den sagenhaften Hammerschlägen, mit denen er seine 95 Thesen an das Tor der Schlosskirche zu Wittenberg nagelte, das Mittelalter beendet und ein neues Zeitalter begründet: das, in dem wir heute leben. Die von ihm angestoßene Reformation wirkte wie ein ungeheurer Modernisierungsschub, auf Kunst und Alltagsleben, Literatur, Wissenschaft und Publizistik; Luthers Bibelübersetzung ist der Grundtext für das heutige Deutsch. Vor allem aber gab der entlaufene Augustinermönch den Deutschen zum ersten Mal einen Begriff von der Individualität des Menschen: Du allein verfügst über dich, nicht der Kaiser, nicht der Papst, niemand außer Gott. Luther ist eine einzigartige Figur in der europäischen Geschichte. Ohne ihn wäre die Welt ärmer - auf jeden Fall eine andere.
Willi Winkler geht es darum, den ganzen Luther in den Blick zu nehmen, ihn als den Mann zu zeigen, der seine Welt vom Kopf auf die Füße gestellt hat, vor dem Hintergrund des aufregenden 16. Jahrhunderts, in dem die Neuzeit beginnt. Rechtzeitig zum Reformationsjahr erscheint diese große Biographie, die alle Anlagen zum Klassiker hat.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der hier rezensierende Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann hält das Buch für Quark. Leser des Bandes verortet er vor allem, wenn nicht gar ausschließlich unter Willi Winklers persönlichen Fans. "Kundigere" Leser aber muss der Rezensent warnen: Die im Buch verarbeitete Literatur- und Quellenmenge ist sehr überschaubar. Eine flüssige, eingängige Schreibe macht noch kein gutes Luther-Buch, findet Kaufmann. Und was er bei Winkler an Richtigem entdeckt, kennt er längst und fundierter aus Heinz Schillings Luther-Biografie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2016Luther, Luther über alles
Auch nach fünfhundert Jahren gilt auf dem Buchmarkt: Luther verkauft sich. Das im nächsten Jahr anstehende Jubiläum beschert uns bereits heute drei neue Biographien des Reformators. Von zweien sollte man besser die Finger lassen.
Von Thomas Kaufmann
Unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache (der Reformation) nichts interessant als Luthers Charakter, und es ist auch das einzige, was einer Menge wirklich imponiert. Alles übrige ist ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt." Diese vertraulichen Sätze schrieb Goethe seinem "Urfreund" Karl Ludwig von Knebel 1817, im dreihundertsten Jahr der Reformation. Der Blick auf die Werbeaktivitäten im Zusammenhang des unmittelbar bevorstehenden Jubiläum nach fünfhundert Jahren, das unentrinnbare "Icon" mit dem Konterfei des alternden Wittenberger Reformators in Schwarz-Rot-Gold etwa, auch der als Symbol der Dachkampagne der drei "Nationalen Sonderausstellungen" des kommenden Jahres ins Zentrum gerückte aberwitzig doofe Luther-Hammer geben dem Weimarer Orakel recht: Luther, Luther über alles! Immer wieder drängt er sich in den Vordergrund - ob als Judenfeind vor anderen, ob als grobianischer Sprachtäter oder empfindsamer Sprachschöpfer, ob als Papst- und Türkenfeind, ob als feinsinniger Denker des Christentums.
Auch auf dem Buchmarkt ist es vor dem großen Finale 2017 nicht anders: Luther-Biographien dominieren das Gesamtbild. Obschon seit den ersten Anläufen zum großen Reformationsjubiläum vor knapp zehn Jahren von vielen Seiten immer wieder davor gewarnt wurde, Luther allzu sehr ins Zentrum zu rücken und die Sache - Goethes "Quark", also die Reformation in ihrer Vielfalt und Breite - darüber nicht zu vergessen, sprechen die Werbeleute, die Publizisten und die Verlage eine andere Sprache. Luther sells - die elementare Erfahrung der Buchdrucker aus den zwanziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts gilt offenbar auch heute noch.
Die drei hier anzuzeigenden Luther-Biographien könnten unterschiedlicher kaum sein. Das Buch der renommierten Oxforder Historikerin Lyndal Roper ist das Ergebnis einer intensiven, zehnjährigen Forschungsarbeit, die den handwerklichen Standards der einschlägigen Fachwissenschaft Rechnung trägt und das Spektrum ihrer Fragestellungen und Methoden signifikant und souverän erweitert. Das Buch des Nietzsche- und Wagnerforschers Joachim Köhler ist hingegen, wie es das Ausrufezeichen im Buchtitel bereits anzeigt, von frenetischer Affirmation - "Hoch lebe Luther!" - geprägt. Der Journalist Willi Winkler wiederum erneuert die Modernisierungsstory, will den Wandel des Zeitalters und Luther als Rebellen wider Willen profilieren; "das Mittelalter" habe er beendet und allein in "der Berufung auf seine Gewissensqualen" eine Welt umgestürzt, wie sonst nur Kopernikus.
Wissenschaftlichen Ansprüchen genügt unter den drei Büchern allein jenes von Lyndal Roper. Sie benutzt die einschlägigen zeitgenössischen Drucke und wissenschaftlichen Editionen; sie kennt die relevante, auch deutschsprachige Forschungsliteratur in einer für angloamerikanische Forscher derzeit singulären Dichte; sie entwickelt originelle Perspektiven auf den Gegenstand, die - neben den für sie charakteristischen feministischen, psychohistorischen und körpergeschichtlichen Akzenten - auch die weitere Lutherforschung beschäftigen werden: die prägende Bedeutung des ökonomisch aufstrebenden, aber auch von massiven Rückschlägen bedrohten mansfeldischen Bergbaumilieus; die Rolle einzelner lebenslanger Freundschaftsverbindungen; die spezifische Wahrnehmung der Körperlichkeit bei Luther, die eng mit seinem Verständnis der Leiblichkeit Gottes in der Inkarnation des Gottessohnes und im Abendmahlssakrament zusammenhing.
Freilich changiert Lyndal Ropers Biographie eigentümlich zwischen innovativen mikrohistorischen Perspektiven und prolongierten oder gar reaktivierten makrohistorischen Narrativen, über die man sich eher wundert. So, wenn sie mit Luthers Wirken den "Beginn des Säkularisierungsprozesses im Westen" verbunden sieht, die fünfundneunzig Thesen als "Zündfunken für die Reformation" bezeichnet und in ihnen bereits eine "Generalkritik" am Gesamtbau der römischen Kirche wahrnimmt oder - freilich kritisch-distanziert - das "Deutsche" an Luther stärker betont, als dies seit Jahrzehnten, insbesondere in unseren Breiten, üblich war.
Zu faszinieren vermag die Autorin überall dort, wo sie Luther vornehmlich aufgrund seiner Briefkorrespondenz kontextualisiert, seine facettenreiche Sprache analysiert, die Interaktionen zwischen ihm und seinen Kombattanten - Johannes Eck etwa, auch Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt - minutiös rekonstruiert. Zur Hochform läuft sie auf, wenn sie Luthers Gespür für effiziente publizistische Wirkungen erfasst, seine Hochzeit und seine Bejahung der Sinnlichkeit als Teil der sündigen Geschöpflichkeit schildert oder darstellt, in welchem Maße er und Katharina von Bora den Attacken sinistrer altgläubiger Gegner ausgesetzt waren, die den ehemaligen Mönch als wolllüstig denunzierten.
Auch im Verständnis für Luthers Theologie, ihre irrationalen Momente, die Bedeutung der leiblichen Realpräsenz Christi in Brot und Wein, zeigt das Buch große Stärken. Insgesamt ist Lyndal Ropers Luther weitaus weniger unsympathisch ausgefallen als eigentlich erwartet. Grenzen dieser Biographie werden insbesondere dort sichtbar, wo sie die Freudsche Psychoanalyse der Vater-Sohn-Beziehung als durchgängiges Schlüsselnarrativ verwendet und damit nicht nur Luthers Verhältnis zu seinem Vater Hans, sondern auch das zu allerlei anderen "Vätern", etwa Johannes von Staupitz, entsprechend interpretiert.
Diese Linie des notorischen Vaterrebellen setzt sie noch in die innerreformatorische Konfliktgeschichte hinein fort. Lyndal Roper deutet sie - höchst anfechtbar - als Aufstand der "Söhne" gegen ihren "Vater" Luther. Die Gefahr einer transhistorischen psychologischen Konstruktion ist offenkundig. Dass Luther ein "Alphamännchen" war, das konkurrierende Figuren aus dem Felde zu schlagen versuchte, ist klar; andere waren das auch.
Lyndal Roper zeigt in eingängiger, gut verständlicher Sprache den "Menschen" Luther und damit jene Aspekte an ihm, die in den traditionellen heroisierenden Erzählungen kaum eine Rolle spielten: den Streiter, den Beter, den Ehemann und Vater, den Angefochtenen, den Professor, den Briefe schreibenden Ratgeber.
Einer Tendenz kulturalistischer Historiographie folgend, tritt der politische Luther eher in den Hintergrund. Schon deshalb wird diese Biographie sicher nicht die Luther-Biographie werden, wie der englische Verlag sie vollmundig avisierte, gewiss aber doch eine unter den nicht sehr zahlreichen Luther-Biographien, die auch der wissenschaftliche Leser immer wieder mit Gewinn heranziehen wird.
Für die anderen beiden Luther-Biographien gilt dies gewiss nicht. Bei beiden Autoren stehen literarisches Talent und Sachkenntnis in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander. Nicht unwesentliche Momente des Pathos, dessen sich der publizistische Glücksritter Joachim Köhler bedient, speisen sich aus dem verärgerten Trotz des Anti-Experten gegenüber jenen miesepetrigen Historikern, die ganze Haarbüschel in der Luthersuppe finden: seine notorische politische Unkorrektheit, seine Frauenfeindlichkeit, die historischen Zweifel an den Pathosformeln Thesenanschlag (der Hammer!) und Wormsauftritt ("Hier stehe ich ...").
Gegen die vom historistischen Zweifel angenagten Profis bringt dieser sich von der Lektüre wissenschaftlicher Literatur, der Prüfung ihrer Argumente und der konsequenten Nutzung verlässlicher Textausgaben weitestgehend befreit fühlende Autor den frommen Kämpen ins Spiel, der es als "Befreiter" schon mal krachen lässt. Luther wird so, bemerkenswert zeitgemäß, gleichsam zum auftrumpfenden Wiedergänger unserer eigenen Zivilisation. Der Subtext des Buches lautet: Lasst euch doch den Luther eurer Kindheit und Jugend nicht rauben! Man hat es mit einem Luther-Reheroisierungsprogramm für Pluralisierungs- und Globalisierungsermüdete zu tun.
Willi Winkler, der den Papst auffordert, Luther endlich heiligzusprechen, hat auf die Frage, wie man ohne einschlägige Vorkenntnisse auf den Gedanken verfallen könne, ein Buch über Luther zu schreiben, geantwortet: "mit Größenwahn". Diese Antwort ist hilfreich. Angesichts all dessen, was Größenwahnsinnige sonst so tun, wird man ob der harmlosen Schäden, die überdies nur unkundigen Lesern drohen, dankbar sein. Ein kundigerer Leser wird dieses Buch nämlich umgehend beiseitelegen, weil ihm gleich klar wird, dass Winkler eine recht überschaubare Literatur- und eine noch übersichtlichere Quellenmenge bearbeitet beziehungsweise ausgeschlachtet hat.
Zugegeben: Winklers Schreibe ist flüssig und eingängig. Was gut und richtig ist an diesem Buch, liest man allerdings ungleich fundierter in Heinz Schillings soeben bei C. H. Beck neu aufgelegter Luther-Biographie. Eine These wie die, Luther habe die gesamte Christenheit einschließlich der katholischen Kirche von einer "schier unheilbaren Religionsneurose" befreit, "indem er die Angst hinwegfegte und so Gläubige und weniger Gläubige über die unvermeidliche Sterblichkeit trösten konnte", lässt von Luthers allein an das Wort Christi gebundenem Glauben als Dreh- und Angelpunkt der Heilsgewissheit nichts ahnen. Für Winkler-Fans mag das Buch eine tolle Lektüre sein; alle anderen sollten es meiden.
Mag sein, dass Luthers "Charakter" noch immer breites Interesse auf sich zieht. Die Neuerscheinungen dieses Herbstes zeigen allerdings, dass es unter den Versuchen, ihn zu erfassen, viel Quark gibt. Goethes Versuch freilich, mit der Person Luther das Interesse zu retten, das er dessen "Sache", dem verworrenen Reformationsquark, nicht mehr entgegenbringen wollte, ist oft durchgespielt worden und dürfte sich totgelaufen haben. Der parlamentarisch beschlossene bundesweite gesetzliche Feiertag des 31. Oktober 2017 erfordert andere Antworten.
Lyndal Roper: "Der Mensch Martin Luther". Die Biographie.
Aus dem Englischen von Holger Fock und Sabine Müller. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 736 S., geb., 28,- [Euro].
Willi Winkler: "Luther". Ein deutscher Rebell.
Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2016. 640 S., geb., 29,95 [Euro].
Joachim Köhler: "Luther!". Biographie eines Befreiten.
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2016. 408 S., Abb., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auch nach fünfhundert Jahren gilt auf dem Buchmarkt: Luther verkauft sich. Das im nächsten Jahr anstehende Jubiläum beschert uns bereits heute drei neue Biographien des Reformators. Von zweien sollte man besser die Finger lassen.
Von Thomas Kaufmann
Unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache (der Reformation) nichts interessant als Luthers Charakter, und es ist auch das einzige, was einer Menge wirklich imponiert. Alles übrige ist ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt." Diese vertraulichen Sätze schrieb Goethe seinem "Urfreund" Karl Ludwig von Knebel 1817, im dreihundertsten Jahr der Reformation. Der Blick auf die Werbeaktivitäten im Zusammenhang des unmittelbar bevorstehenden Jubiläum nach fünfhundert Jahren, das unentrinnbare "Icon" mit dem Konterfei des alternden Wittenberger Reformators in Schwarz-Rot-Gold etwa, auch der als Symbol der Dachkampagne der drei "Nationalen Sonderausstellungen" des kommenden Jahres ins Zentrum gerückte aberwitzig doofe Luther-Hammer geben dem Weimarer Orakel recht: Luther, Luther über alles! Immer wieder drängt er sich in den Vordergrund - ob als Judenfeind vor anderen, ob als grobianischer Sprachtäter oder empfindsamer Sprachschöpfer, ob als Papst- und Türkenfeind, ob als feinsinniger Denker des Christentums.
Auch auf dem Buchmarkt ist es vor dem großen Finale 2017 nicht anders: Luther-Biographien dominieren das Gesamtbild. Obschon seit den ersten Anläufen zum großen Reformationsjubiläum vor knapp zehn Jahren von vielen Seiten immer wieder davor gewarnt wurde, Luther allzu sehr ins Zentrum zu rücken und die Sache - Goethes "Quark", also die Reformation in ihrer Vielfalt und Breite - darüber nicht zu vergessen, sprechen die Werbeleute, die Publizisten und die Verlage eine andere Sprache. Luther sells - die elementare Erfahrung der Buchdrucker aus den zwanziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts gilt offenbar auch heute noch.
Die drei hier anzuzeigenden Luther-Biographien könnten unterschiedlicher kaum sein. Das Buch der renommierten Oxforder Historikerin Lyndal Roper ist das Ergebnis einer intensiven, zehnjährigen Forschungsarbeit, die den handwerklichen Standards der einschlägigen Fachwissenschaft Rechnung trägt und das Spektrum ihrer Fragestellungen und Methoden signifikant und souverän erweitert. Das Buch des Nietzsche- und Wagnerforschers Joachim Köhler ist hingegen, wie es das Ausrufezeichen im Buchtitel bereits anzeigt, von frenetischer Affirmation - "Hoch lebe Luther!" - geprägt. Der Journalist Willi Winkler wiederum erneuert die Modernisierungsstory, will den Wandel des Zeitalters und Luther als Rebellen wider Willen profilieren; "das Mittelalter" habe er beendet und allein in "der Berufung auf seine Gewissensqualen" eine Welt umgestürzt, wie sonst nur Kopernikus.
Wissenschaftlichen Ansprüchen genügt unter den drei Büchern allein jenes von Lyndal Roper. Sie benutzt die einschlägigen zeitgenössischen Drucke und wissenschaftlichen Editionen; sie kennt die relevante, auch deutschsprachige Forschungsliteratur in einer für angloamerikanische Forscher derzeit singulären Dichte; sie entwickelt originelle Perspektiven auf den Gegenstand, die - neben den für sie charakteristischen feministischen, psychohistorischen und körpergeschichtlichen Akzenten - auch die weitere Lutherforschung beschäftigen werden: die prägende Bedeutung des ökonomisch aufstrebenden, aber auch von massiven Rückschlägen bedrohten mansfeldischen Bergbaumilieus; die Rolle einzelner lebenslanger Freundschaftsverbindungen; die spezifische Wahrnehmung der Körperlichkeit bei Luther, die eng mit seinem Verständnis der Leiblichkeit Gottes in der Inkarnation des Gottessohnes und im Abendmahlssakrament zusammenhing.
Freilich changiert Lyndal Ropers Biographie eigentümlich zwischen innovativen mikrohistorischen Perspektiven und prolongierten oder gar reaktivierten makrohistorischen Narrativen, über die man sich eher wundert. So, wenn sie mit Luthers Wirken den "Beginn des Säkularisierungsprozesses im Westen" verbunden sieht, die fünfundneunzig Thesen als "Zündfunken für die Reformation" bezeichnet und in ihnen bereits eine "Generalkritik" am Gesamtbau der römischen Kirche wahrnimmt oder - freilich kritisch-distanziert - das "Deutsche" an Luther stärker betont, als dies seit Jahrzehnten, insbesondere in unseren Breiten, üblich war.
Zu faszinieren vermag die Autorin überall dort, wo sie Luther vornehmlich aufgrund seiner Briefkorrespondenz kontextualisiert, seine facettenreiche Sprache analysiert, die Interaktionen zwischen ihm und seinen Kombattanten - Johannes Eck etwa, auch Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt - minutiös rekonstruiert. Zur Hochform läuft sie auf, wenn sie Luthers Gespür für effiziente publizistische Wirkungen erfasst, seine Hochzeit und seine Bejahung der Sinnlichkeit als Teil der sündigen Geschöpflichkeit schildert oder darstellt, in welchem Maße er und Katharina von Bora den Attacken sinistrer altgläubiger Gegner ausgesetzt waren, die den ehemaligen Mönch als wolllüstig denunzierten.
Auch im Verständnis für Luthers Theologie, ihre irrationalen Momente, die Bedeutung der leiblichen Realpräsenz Christi in Brot und Wein, zeigt das Buch große Stärken. Insgesamt ist Lyndal Ropers Luther weitaus weniger unsympathisch ausgefallen als eigentlich erwartet. Grenzen dieser Biographie werden insbesondere dort sichtbar, wo sie die Freudsche Psychoanalyse der Vater-Sohn-Beziehung als durchgängiges Schlüsselnarrativ verwendet und damit nicht nur Luthers Verhältnis zu seinem Vater Hans, sondern auch das zu allerlei anderen "Vätern", etwa Johannes von Staupitz, entsprechend interpretiert.
Diese Linie des notorischen Vaterrebellen setzt sie noch in die innerreformatorische Konfliktgeschichte hinein fort. Lyndal Roper deutet sie - höchst anfechtbar - als Aufstand der "Söhne" gegen ihren "Vater" Luther. Die Gefahr einer transhistorischen psychologischen Konstruktion ist offenkundig. Dass Luther ein "Alphamännchen" war, das konkurrierende Figuren aus dem Felde zu schlagen versuchte, ist klar; andere waren das auch.
Lyndal Roper zeigt in eingängiger, gut verständlicher Sprache den "Menschen" Luther und damit jene Aspekte an ihm, die in den traditionellen heroisierenden Erzählungen kaum eine Rolle spielten: den Streiter, den Beter, den Ehemann und Vater, den Angefochtenen, den Professor, den Briefe schreibenden Ratgeber.
Einer Tendenz kulturalistischer Historiographie folgend, tritt der politische Luther eher in den Hintergrund. Schon deshalb wird diese Biographie sicher nicht die Luther-Biographie werden, wie der englische Verlag sie vollmundig avisierte, gewiss aber doch eine unter den nicht sehr zahlreichen Luther-Biographien, die auch der wissenschaftliche Leser immer wieder mit Gewinn heranziehen wird.
Für die anderen beiden Luther-Biographien gilt dies gewiss nicht. Bei beiden Autoren stehen literarisches Talent und Sachkenntnis in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander. Nicht unwesentliche Momente des Pathos, dessen sich der publizistische Glücksritter Joachim Köhler bedient, speisen sich aus dem verärgerten Trotz des Anti-Experten gegenüber jenen miesepetrigen Historikern, die ganze Haarbüschel in der Luthersuppe finden: seine notorische politische Unkorrektheit, seine Frauenfeindlichkeit, die historischen Zweifel an den Pathosformeln Thesenanschlag (der Hammer!) und Wormsauftritt ("Hier stehe ich ...").
Gegen die vom historistischen Zweifel angenagten Profis bringt dieser sich von der Lektüre wissenschaftlicher Literatur, der Prüfung ihrer Argumente und der konsequenten Nutzung verlässlicher Textausgaben weitestgehend befreit fühlende Autor den frommen Kämpen ins Spiel, der es als "Befreiter" schon mal krachen lässt. Luther wird so, bemerkenswert zeitgemäß, gleichsam zum auftrumpfenden Wiedergänger unserer eigenen Zivilisation. Der Subtext des Buches lautet: Lasst euch doch den Luther eurer Kindheit und Jugend nicht rauben! Man hat es mit einem Luther-Reheroisierungsprogramm für Pluralisierungs- und Globalisierungsermüdete zu tun.
Willi Winkler, der den Papst auffordert, Luther endlich heiligzusprechen, hat auf die Frage, wie man ohne einschlägige Vorkenntnisse auf den Gedanken verfallen könne, ein Buch über Luther zu schreiben, geantwortet: "mit Größenwahn". Diese Antwort ist hilfreich. Angesichts all dessen, was Größenwahnsinnige sonst so tun, wird man ob der harmlosen Schäden, die überdies nur unkundigen Lesern drohen, dankbar sein. Ein kundigerer Leser wird dieses Buch nämlich umgehend beiseitelegen, weil ihm gleich klar wird, dass Winkler eine recht überschaubare Literatur- und eine noch übersichtlichere Quellenmenge bearbeitet beziehungsweise ausgeschlachtet hat.
Zugegeben: Winklers Schreibe ist flüssig und eingängig. Was gut und richtig ist an diesem Buch, liest man allerdings ungleich fundierter in Heinz Schillings soeben bei C. H. Beck neu aufgelegter Luther-Biographie. Eine These wie die, Luther habe die gesamte Christenheit einschließlich der katholischen Kirche von einer "schier unheilbaren Religionsneurose" befreit, "indem er die Angst hinwegfegte und so Gläubige und weniger Gläubige über die unvermeidliche Sterblichkeit trösten konnte", lässt von Luthers allein an das Wort Christi gebundenem Glauben als Dreh- und Angelpunkt der Heilsgewissheit nichts ahnen. Für Winkler-Fans mag das Buch eine tolle Lektüre sein; alle anderen sollten es meiden.
Mag sein, dass Luthers "Charakter" noch immer breites Interesse auf sich zieht. Die Neuerscheinungen dieses Herbstes zeigen allerdings, dass es unter den Versuchen, ihn zu erfassen, viel Quark gibt. Goethes Versuch freilich, mit der Person Luther das Interesse zu retten, das er dessen "Sache", dem verworrenen Reformationsquark, nicht mehr entgegenbringen wollte, ist oft durchgespielt worden und dürfte sich totgelaufen haben. Der parlamentarisch beschlossene bundesweite gesetzliche Feiertag des 31. Oktober 2017 erfordert andere Antworten.
Lyndal Roper: "Der Mensch Martin Luther". Die Biographie.
Aus dem Englischen von Holger Fock und Sabine Müller. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 736 S., geb., 28,- [Euro].
Willi Winkler: "Luther". Ein deutscher Rebell.
Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2016. 640 S., geb., 29,95 [Euro].
Joachim Köhler: "Luther!". Biographie eines Befreiten.
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2016. 408 S., Abb., geb., 22,90 [Euro].
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Willi Winkler leuchtet Luthers widersprüchliche Persönlichkeit aus und entwickelt zugleich ein Panorama der politischen, wirtschaftlichen und kirchlichen Verflechtungen zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Der Tagesspiegel