Die grundlegende Untersuchung zu Luthers Antisemitismus, zur Judenfeindlichkeit in seinen Schriften, in seinem Weltbild, in seinen alltäglichen Meinungen und Ansichten ist das Ergebnis der jahrelangen Forschungen des Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann.
In diesem Buch zieht er die Summe aus seiner Arbeit an Luthers Werken und ihrer Rezeption über 5 Jahrhunderte hin. Es ist ein eindringliches und überzeugendes Plädoyer für eine entschlossene und vollständige Historisierung Luthers und seines Werks. Kaufmann warnt davor, heute und in Zukunft von Luthers Popularität profitieren zu wollen und naiv mit ihm umzugehen. Genau darin weiß er sich schließlich durch den großen Reformator selbst bestärkt, der als mächtiger Polemiker mit Worten vernichten, aber auch sich selbst relativieren konnte.
In diesem Buch zieht er die Summe aus seiner Arbeit an Luthers Werken und ihrer Rezeption über 5 Jahrhunderte hin. Es ist ein eindringliches und überzeugendes Plädoyer für eine entschlossene und vollständige Historisierung Luthers und seines Werks. Kaufmann warnt davor, heute und in Zukunft von Luthers Popularität profitieren zu wollen und naiv mit ihm umzugehen. Genau darin weiß er sich schließlich durch den großen Reformator selbst bestärkt, der als mächtiger Polemiker mit Worten vernichten, aber auch sich selbst relativieren konnte.
Ritualmorde keinesfalls ausgeschlossen
War Luther Antisemit? Zwei Bücher versuchen zu erklären, warum der Reformator so unversöhnlich über die Juden herzog
Im September des Jahres 1517 publizierte der Augustinermönch Martin Luther in Wittenberg 95 Thesen wider den päpstlich verfügten Ablasshandel - eines jener Ereignisse, die zur Reformation führen sollten. Die Evangelische Kirche in Deutschland wird des fünfhundertsten Jahrestages des Ereignisses in einem eigenen Lutherjahr gedenken, mit dessen Vorbereitung und Durchführung die ehemalige Vorsitzende der EKD, Margot Käßmann, betraut worden ist. Seit 2011 "Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Reformationsjubiläum 2017", hat sie keines leichten Amtes zu walten, ist doch unbestreitbar, dass dieser geniale Erneuerer des christlichen Glaubens nicht nur ein auf bürgerliche Klassenherrschaft setzender politischer Denker, sondern auch ein glühender Judenhasser war, den manche für einen Vorläufer der nationalsozialistischen Judenvernichtung halten.
Tatsächlich: In einer seiner letzten Schriften "Von den Jüden und ihren Lügen" aus dem Jahre 1546 schien Luther alles vorgeschlagen zu haben, was die Nationalsozialisten später exekutierten: Zwangsarbeit, Vertreibung, Verbrennung von Synagogen und Büchern - mit Ausnahme massenhafter, geplanter Ermordung. Es war diese Schrift, die einen wichtigen Funktionär der Deutschen Christen, den thüringischen Landesbischof Sasse, dazu brachte, am 10. November 1938, nach den Synagogenbränden, Luther lobend als den "größten Antisemiten seiner Zeit" zu feiern, sowie Julius Streicher in Nürnberg zu der Bemerkung provozierte, dass statt seiner Martin Luther auf der Anklagebank sitzen müsste.
Genauen und verlässlichen Aufschluss über die heikle Thematik bieten nun zwei Neuerscheinungen: Der Historiker und Linguist Dietz Bering, durch eine Arbeit über die politische Verwendung des Begriffs des "Intellektuellen" in Deutschland bekannt, legt eine Studie unter dem Titel "War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe" vor, während der Göttinger Reformationshistoriker Thomas Kaufmann, dem nicht nur eine großangelegte Geschichte der Reformation, sondern auch eine Studie zur Wahrnehmung der Türken in Spätmittelalter und Reformation zu verdanken ist, bereits sein zweites Buch zu Luthers Verhältnis zu Juden und Judentum geschrieben hat.
Beide Bücher lassen, was die klare, quellengesättigte Darstellung von Luthers Antisemitismus angeht, nichts zu wünschen übrig. Beide Autoren stimmen darin überein, dass es keinen unhistorischen Fehlgriff darstellt, Martin Luther als einen die Juden als Volksgruppe und nicht nur als Glaubensgemeinschaft verunglimpfenden und - ja - hassenden Judenfeind anzusehen, als einen "Antisemiten" - Jahrhunderte bevor Judenfeinde sich selbst so bezeichneten. Lange Zeit gingen vor allem theologische Überlegungen davon aus, dass es Luthers Antijudaismus gewesen sei, der ihn vor allem am Ende seines Lebens mehr aus persönlichen denn aus systematischen Motiven heraus zu seinen Ausfällen getrieben habe. Aber sowohl Berings als auch Kaufmanns Studie weisen nach, dass sich Luthers Haltung zu den Juden in theologischer Hinsicht von seinen frühen bis zu seinen späten Schriften und Predigten gar nicht verändert hat. Tatsächlich war er trotz seines frühen Zugeständnisses, "dass unser Herr Jesus ein geborener Jude war", bis zu seinen späten antisemitischen Ausfällen zwar von der bleibenden Erwählung der Juden überzeugt - obwohl er stets darauf beharrte, dass die Juden mit ihrer hartnäckigen Ablehnung der Messianität Jesu und der Trinitätslehre ein religionspolitisches Ärgernis waren. Zu erklären ist also, warum er in seiner früheren Schrift den Juden gleichsam entgegenkam, während er sie zwanzig Jahre später drangsalieren, berauben und vertreiben lassen wollte.
Als identisches Motiv erweist sich in beiden Fällen der Wunsch, die Juden mögen sich zum Christentum bekennen. Doch während Luther in seiner Frühphase - in Abgrenzung von Anstrengungen katholischer Prediger - der Überzeugung war, dass dieses Ziel durch Anerkennung und freundliches Entgegenkommen erreichbar sei, kam er später zu dem Schluss, dass die Hartnäckigkeit der Juden, ihre angebliche Praxis, in den Synagogen den christlichen Glauben zu verunglimpfen, sowie der Verdacht, sie könnten Proselyten machen, nur durch Vertreibung zu bekämpfen sei. Dieser Sinneswandel ging so weit, dass der späte Luther Annahmen, die er 1523 noch zurückgewiesen hatte - nämlich dass Juden Hostienfrevel und Ritualmorde begingen -, wieder für möglich hielt. Als Kontext dieser Überzeugungen mag der vor allem die Juden als Wucherer ansehende frühneuzeitliche Judenhass gelten; bei allen Versuchen, Luthers Gesinnungswandel psychologisch zu erklären, bleibt gleichwohl festzustellen, dass er selbst nur geringe Erfahrungen mit Juden hatte - sieht man von einigen sporadischen Gesprächen und Korrespondenzen ab.
An der Lösung des Rätsels freilich scheiden sich die Geister. Während Thomas Kaufmann, der bereits 2011 ein quellengesättigtes, wissenschaftliches Werk zu Luthers "Judenschriften" vorgelegt hat, mit seiner neuen und in keiner Hinsicht mit dem älteren Buch identischen Schrift "Luthers Juden" eine im besten Sinn narrative, historische Darstellung vorlegt, ist Dietz Bering um eine starke, humanwissenschaftliche Erklärung bemüht. Bering bietet, spekulativ genug, eine Art metabiologischer Erklärung auf: Biologische Einzelwesen oder Arten, die sich einander als zu nahe empfinden, seien um "Kontrastbetonung" bemüht; eine Annahme, für die nicht nur Verhaltensforschung, Wahrnehmungsphysiologie und Linguistik, sondern auch Sigmund Freuds Psychoanalyse bürgen sollen. Freilich krankt diese Erklärung daran, dass hier "Juden" und "Deutsche" in essentialistischer Weise zu zwei unterschiedlichen "Arten" erklärt werden, und daran, dass solche "Kontrastbetonung" - soll sie denn eine plausible Annahme sein - auf beide Partner in einer solchen Konstellation zutreffen müsste.
Dass aber die Juden - seien es jene, die man als assimilationswillig bezeichnet, seien es jene, die als Reaktion auf den Antisemitismus zu Nationaljuden, zu Zionisten wurden - diesen Kontrast gerade nicht betonten, spricht gegen Berings Argument. Das ist dem Autor auch durchaus bewusst, weshalb er diese Überlegung auch immer wieder einschränkt. Als historisch plausibler Kern bleibt vielleicht, dass Gegner und Feinde Luthers, zumal aus dem katholischen Lager, ihn selbst judaisierender Tendenzen beschuldigten. Starke Ähnlichkeiten zwischen Judentum und reformatorischem Christentum sieht Bering nicht nur in beider literalen Kultur, sondern auch in einer theologischen "Nahstellung": "Beide", so Bering, "müssen als Sünder leben und dauernd Buße tun."
Freilich ist mit Blick auf das real existierende, rabbinische Judentum auch der Reformationszeit einzuwenden, dass diese Aussage schlicht falsch ist: Im rabbinischen Judentum gibt es zwar einzelne Bußtage, deren höchster der Versöhnungstag ist, aber keineswegs ein auf dauerndem schlechtem Gewissen aufbauendes Schuldbewusstsein. In dieser Hinsicht hatte Luther mit dem auch das Judentum angreifenden Vorwurf der "Werkgerechtigkeit", also einer Einstellung, die durch ein gottgefälliges Leben Gnade erreichen wollte, eher recht.
Thomas Kaufmanns den spätmittelalterlichen Kontext und Luthers persönliche Lebensgeschichte quellennah verschränkende Darstellung kommt der Lösung des Rätsels näher. Von Schmerz und Krankheit gequält, von Familientragödien wie dem Tode seiner Tochter Lenchen erschüttert, sei Luther mit seiner Schrift "Von den Jüden und ihren Lügen" einer Pflicht nachgekommen, die er sich selbst gegenüber empfand: "Der andere Weg", so Thomas Kaufmann, "war gescheitert, einen nennenswerten Zustrom von Konvertiten aus dem Judentum hatte die reformatorische Kirche nicht erreicht. Für Luther gab es keinen Grund mehr, die ,definitiven Wahrheiten' über die Juden aufzuschieben. Die Zeit drängte, die Kräfte ließen nach. Der durch den Tod der Tochter ,Abgestorbene' ,nekrotisierte' sich weiter, indem er seine letzte Schlacht gegen die Juden, die ärgsten Feinde seines Herrn, führte."
Wenn diese Deutung schlüssig ist, lässt sich sogar Berings "Kontrastbetonung" noch ein Sinn abgewinnen: Luther, dessen religiöses Genie sich - wie schon der Psychoanalytiker Erik Erikson in seinem erstmals 1958 publizierten Buch über den jungen Mann Luther gezeigt hat - nicht zuletzt aus Angst speiste, sah in den Juden Objekte der Strafe Gottes. Identifizierte er sich in seiner Existenzangst mit ihnen? In einem Brief aus der Zeit der Abfassung der Judenschrift schrieb Luther: "Ich bin zwar kein Jüde, aber ich dencke mit ernst nicht gern an solchen grausamen zorn Gottes uber dis volck, denn ich erschrecke, das mirs durch leib und leben gehet ..."
MICHA BRUMLIK.
Dietz Bering: "War Luther Antisemit?" Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe. Berlin University Press, Berlin 2014. 340 S., geb., 29,90 [Euro].
Thomas Kaufmann: "Luthers Juden". Reclam Verlag, Stuttgart 2014. 203 S., geb., 22,95 [Euro].
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War Luther Antisemit? Zwei Bücher versuchen zu erklären, warum der Reformator so unversöhnlich über die Juden herzog
Im September des Jahres 1517 publizierte der Augustinermönch Martin Luther in Wittenberg 95 Thesen wider den päpstlich verfügten Ablasshandel - eines jener Ereignisse, die zur Reformation führen sollten. Die Evangelische Kirche in Deutschland wird des fünfhundertsten Jahrestages des Ereignisses in einem eigenen Lutherjahr gedenken, mit dessen Vorbereitung und Durchführung die ehemalige Vorsitzende der EKD, Margot Käßmann, betraut worden ist. Seit 2011 "Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Reformationsjubiläum 2017", hat sie keines leichten Amtes zu walten, ist doch unbestreitbar, dass dieser geniale Erneuerer des christlichen Glaubens nicht nur ein auf bürgerliche Klassenherrschaft setzender politischer Denker, sondern auch ein glühender Judenhasser war, den manche für einen Vorläufer der nationalsozialistischen Judenvernichtung halten.
Tatsächlich: In einer seiner letzten Schriften "Von den Jüden und ihren Lügen" aus dem Jahre 1546 schien Luther alles vorgeschlagen zu haben, was die Nationalsozialisten später exekutierten: Zwangsarbeit, Vertreibung, Verbrennung von Synagogen und Büchern - mit Ausnahme massenhafter, geplanter Ermordung. Es war diese Schrift, die einen wichtigen Funktionär der Deutschen Christen, den thüringischen Landesbischof Sasse, dazu brachte, am 10. November 1938, nach den Synagogenbränden, Luther lobend als den "größten Antisemiten seiner Zeit" zu feiern, sowie Julius Streicher in Nürnberg zu der Bemerkung provozierte, dass statt seiner Martin Luther auf der Anklagebank sitzen müsste.
Genauen und verlässlichen Aufschluss über die heikle Thematik bieten nun zwei Neuerscheinungen: Der Historiker und Linguist Dietz Bering, durch eine Arbeit über die politische Verwendung des Begriffs des "Intellektuellen" in Deutschland bekannt, legt eine Studie unter dem Titel "War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe" vor, während der Göttinger Reformationshistoriker Thomas Kaufmann, dem nicht nur eine großangelegte Geschichte der Reformation, sondern auch eine Studie zur Wahrnehmung der Türken in Spätmittelalter und Reformation zu verdanken ist, bereits sein zweites Buch zu Luthers Verhältnis zu Juden und Judentum geschrieben hat.
Beide Bücher lassen, was die klare, quellengesättigte Darstellung von Luthers Antisemitismus angeht, nichts zu wünschen übrig. Beide Autoren stimmen darin überein, dass es keinen unhistorischen Fehlgriff darstellt, Martin Luther als einen die Juden als Volksgruppe und nicht nur als Glaubensgemeinschaft verunglimpfenden und - ja - hassenden Judenfeind anzusehen, als einen "Antisemiten" - Jahrhunderte bevor Judenfeinde sich selbst so bezeichneten. Lange Zeit gingen vor allem theologische Überlegungen davon aus, dass es Luthers Antijudaismus gewesen sei, der ihn vor allem am Ende seines Lebens mehr aus persönlichen denn aus systematischen Motiven heraus zu seinen Ausfällen getrieben habe. Aber sowohl Berings als auch Kaufmanns Studie weisen nach, dass sich Luthers Haltung zu den Juden in theologischer Hinsicht von seinen frühen bis zu seinen späten Schriften und Predigten gar nicht verändert hat. Tatsächlich war er trotz seines frühen Zugeständnisses, "dass unser Herr Jesus ein geborener Jude war", bis zu seinen späten antisemitischen Ausfällen zwar von der bleibenden Erwählung der Juden überzeugt - obwohl er stets darauf beharrte, dass die Juden mit ihrer hartnäckigen Ablehnung der Messianität Jesu und der Trinitätslehre ein religionspolitisches Ärgernis waren. Zu erklären ist also, warum er in seiner früheren Schrift den Juden gleichsam entgegenkam, während er sie zwanzig Jahre später drangsalieren, berauben und vertreiben lassen wollte.
Als identisches Motiv erweist sich in beiden Fällen der Wunsch, die Juden mögen sich zum Christentum bekennen. Doch während Luther in seiner Frühphase - in Abgrenzung von Anstrengungen katholischer Prediger - der Überzeugung war, dass dieses Ziel durch Anerkennung und freundliches Entgegenkommen erreichbar sei, kam er später zu dem Schluss, dass die Hartnäckigkeit der Juden, ihre angebliche Praxis, in den Synagogen den christlichen Glauben zu verunglimpfen, sowie der Verdacht, sie könnten Proselyten machen, nur durch Vertreibung zu bekämpfen sei. Dieser Sinneswandel ging so weit, dass der späte Luther Annahmen, die er 1523 noch zurückgewiesen hatte - nämlich dass Juden Hostienfrevel und Ritualmorde begingen -, wieder für möglich hielt. Als Kontext dieser Überzeugungen mag der vor allem die Juden als Wucherer ansehende frühneuzeitliche Judenhass gelten; bei allen Versuchen, Luthers Gesinnungswandel psychologisch zu erklären, bleibt gleichwohl festzustellen, dass er selbst nur geringe Erfahrungen mit Juden hatte - sieht man von einigen sporadischen Gesprächen und Korrespondenzen ab.
An der Lösung des Rätsels freilich scheiden sich die Geister. Während Thomas Kaufmann, der bereits 2011 ein quellengesättigtes, wissenschaftliches Werk zu Luthers "Judenschriften" vorgelegt hat, mit seiner neuen und in keiner Hinsicht mit dem älteren Buch identischen Schrift "Luthers Juden" eine im besten Sinn narrative, historische Darstellung vorlegt, ist Dietz Bering um eine starke, humanwissenschaftliche Erklärung bemüht. Bering bietet, spekulativ genug, eine Art metabiologischer Erklärung auf: Biologische Einzelwesen oder Arten, die sich einander als zu nahe empfinden, seien um "Kontrastbetonung" bemüht; eine Annahme, für die nicht nur Verhaltensforschung, Wahrnehmungsphysiologie und Linguistik, sondern auch Sigmund Freuds Psychoanalyse bürgen sollen. Freilich krankt diese Erklärung daran, dass hier "Juden" und "Deutsche" in essentialistischer Weise zu zwei unterschiedlichen "Arten" erklärt werden, und daran, dass solche "Kontrastbetonung" - soll sie denn eine plausible Annahme sein - auf beide Partner in einer solchen Konstellation zutreffen müsste.
Dass aber die Juden - seien es jene, die man als assimilationswillig bezeichnet, seien es jene, die als Reaktion auf den Antisemitismus zu Nationaljuden, zu Zionisten wurden - diesen Kontrast gerade nicht betonten, spricht gegen Berings Argument. Das ist dem Autor auch durchaus bewusst, weshalb er diese Überlegung auch immer wieder einschränkt. Als historisch plausibler Kern bleibt vielleicht, dass Gegner und Feinde Luthers, zumal aus dem katholischen Lager, ihn selbst judaisierender Tendenzen beschuldigten. Starke Ähnlichkeiten zwischen Judentum und reformatorischem Christentum sieht Bering nicht nur in beider literalen Kultur, sondern auch in einer theologischen "Nahstellung": "Beide", so Bering, "müssen als Sünder leben und dauernd Buße tun."
Freilich ist mit Blick auf das real existierende, rabbinische Judentum auch der Reformationszeit einzuwenden, dass diese Aussage schlicht falsch ist: Im rabbinischen Judentum gibt es zwar einzelne Bußtage, deren höchster der Versöhnungstag ist, aber keineswegs ein auf dauerndem schlechtem Gewissen aufbauendes Schuldbewusstsein. In dieser Hinsicht hatte Luther mit dem auch das Judentum angreifenden Vorwurf der "Werkgerechtigkeit", also einer Einstellung, die durch ein gottgefälliges Leben Gnade erreichen wollte, eher recht.
Thomas Kaufmanns den spätmittelalterlichen Kontext und Luthers persönliche Lebensgeschichte quellennah verschränkende Darstellung kommt der Lösung des Rätsels näher. Von Schmerz und Krankheit gequält, von Familientragödien wie dem Tode seiner Tochter Lenchen erschüttert, sei Luther mit seiner Schrift "Von den Jüden und ihren Lügen" einer Pflicht nachgekommen, die er sich selbst gegenüber empfand: "Der andere Weg", so Thomas Kaufmann, "war gescheitert, einen nennenswerten Zustrom von Konvertiten aus dem Judentum hatte die reformatorische Kirche nicht erreicht. Für Luther gab es keinen Grund mehr, die ,definitiven Wahrheiten' über die Juden aufzuschieben. Die Zeit drängte, die Kräfte ließen nach. Der durch den Tod der Tochter ,Abgestorbene' ,nekrotisierte' sich weiter, indem er seine letzte Schlacht gegen die Juden, die ärgsten Feinde seines Herrn, führte."
Wenn diese Deutung schlüssig ist, lässt sich sogar Berings "Kontrastbetonung" noch ein Sinn abgewinnen: Luther, dessen religiöses Genie sich - wie schon der Psychoanalytiker Erik Erikson in seinem erstmals 1958 publizierten Buch über den jungen Mann Luther gezeigt hat - nicht zuletzt aus Angst speiste, sah in den Juden Objekte der Strafe Gottes. Identifizierte er sich in seiner Existenzangst mit ihnen? In einem Brief aus der Zeit der Abfassung der Judenschrift schrieb Luther: "Ich bin zwar kein Jüde, aber ich dencke mit ernst nicht gern an solchen grausamen zorn Gottes uber dis volck, denn ich erschrecke, das mirs durch leib und leben gehet ..."
MICHA BRUMLIK.
Dietz Bering: "War Luther Antisemit?" Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe. Berlin University Press, Berlin 2014. 340 S., geb., 29,90 [Euro].
Thomas Kaufmann: "Luthers Juden". Reclam Verlag, Stuttgart 2014. 203 S., geb., 22,95 [Euro].
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