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Produktdetails
  • Verlag: Mohr Siebeck
  • ISBN-13: 9783161507724
  • ISBN-10: 316150772X
  • Artikelnr.: 33583926
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.01.2012

Freundlichkeit mit dem
Ziel der Bekehrung
Thomas Kaufmann zeigt, wie sehr der judenfreundliche
junge Luther mit dem judenfeindlichen alten verwachsen ist
Wer sich vor gut einhundert Jahren ein Bild von Martin Luther machen wollte, hatte es noch einfach. Er brauchte sich nur die handelsüblichen Luther-Denkmäler anzusehen, die überall in den protestantischen Landesteilen herumstanden: mächtige Mannsbilder, aus einem Stein gehauen oder einem Guss gefertigt, Monumente nationalprotestantischer Selbstgewissheit. Da standen sie und konnten nicht anders. Wollte aber ein Künstler heute ein Lutherbild entwerfen, so müsste er dem Reformator einen Januskopf auf die Schultern setzen. Ebenso wie der römische Gott des Übergangs in der Antike mit zwei Gesichtern dargestellt wurde, von denen das eine nach vorn und das andere nach hinten schaut, müsste deutlich werden, dass Luther nicht nur ein Gesicht besaß. Denn es lässt sich nicht mehr verbergen, dass er ein „Bürger zweier Welten“ (Dietrich Rössler) war, der dem Mittelalter verhaftet blieb und gleichzeitig der Neuzeit entgegensah. Das eine, eindeutige, runde Luther-Porträt ist nicht mehr möglich.
Was für Historiker ein Gewinn an Differenzierung sein mag, ist für diejenigen Protestanten ein Problem, die eine Leitfigur brauchen, um sich selbst zu verstehen und zu orientieren. Denn wie kann ihnen ein Lutherbild bei der Suche nach der eigenen religiösen Identität behilflich sein, wenn es ambivalent ist und bleiben muss? Und wie soll man sich „Lutheraner“ nennen, wenn es den einen Luther nicht gibt und nie gegeben hat? Das kirchliche Luthertum behilft sich zumeist damit, die bleibende Bedeutung des Reformators zu proklamieren, unter der Hand jedoch alles, was sich nicht mehr so recht vermitteln lässt, auszublenden oder ins Anekdotische zu verniedlichen, wie zum Beispiel die Teufelsfixierung. Eine andere Strategie haben aufgeklärte Protestanten entwickelt: Sie unterscheiden ausdrücklich die zwei Luther-Gesichter und versuchen sie voneinander zu lösen, um das eine in die Gegenwart zu retten und das andere ins kirchenhistorische Archiv abzuschieben. Das scheint ehrlicher zu sein, ist aber auf andere Weise naiv, wenn nicht ideologisch. Denn die beiden Gesichtshälften eines Januskopfes bilden trotz ihres Gegensatzes eine körperliche Einheit und lassen sich nicht operativ trennen. Das unterscheidet sie von siamesischen Zwillingen.
Dass es unmöglich ist, den guten, jungen und freiheitsliebenden Reformator säuberlich vom bösen, alten und repressiven Restaurator zu sondern, zeigt der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann nun an einem besonders verstörenden Beispiel. Seine Studie über das Verhältnis Luthers zu den Juden besticht nicht nur durch souveränen Umgang mit der uferlosen Sekundärliteratur, präzise Quellendeutung und sichere Verortung im geschichtlichen Kontext, sondern darüber hinaus durch die argumentative Stringenz, mit der Kaufmann darlegt, wie sehr der judenfreundliche junge Luther mit dem judenfeindlichen alten Luther verwachsen ist.
Für Luther war die Frage nach dem Verhältnis zum Judentum ein Leitmotiv seiner theologischen Existenz. Bestimmend waren für ihn die Grundevidenzen seiner reformatorischen Entdeckungen. Dazu gehörte eine streng an Christus ausgerichtete Lektüre der Bibel. „Heilig“ war die Schrift nur insofern, als sie „Christum treibet“. Dass sie dies aber in allen ihren Teilen tut, war seine Grundüberzeugung. Auch das Alte Testament konnte er nur als Christus-Zeugnis verstehen. Eine jüdische Auslegung, die nichts vom christlichen Messias wissen wollte, war für ihn eine Denkunmöglichkeit. Dies erscheint aus heutiger Sicht nicht bloß als theologische Willkür – denn die historische Kritik hat gelehrt, dass die Autoren der hebräischen Bibel nirgends auf Jesus von Nazareth hinweisen wollten –, sondern darüber hinaus als Ursache einer grundsätzlichen Unfähigkeit, mit Juden in einen Dialog einzutreten. Dass es für Luther kein auch nur relatives Eigenrecht der jüdischen Religion geben konnte, hat also weniger mit zeitbedingten Ressentiments zu tun als mit dem Herzstück seiner Theologie.
Luthers Annexion des Alten Testaments musste aber nicht gleich zu handfester Judenfeindschaft führen. Seine Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ von 1523 eröffnete einen für seine Zeit erstaunlichen Neuansatz, das Verhältnis zur jüdischen Minderheit anders zu gestalten. Luther wandte sich gegen die mittelalterliche Gräuelpropaganda über Ritualmorde und Brunnenvergiftungen und die dadurch legitimierten Diskriminierungen. Man solle die Juden nicht mehr wie Hunde, sondern wie Menschen behandeln. Ihre Benachteiligung und Ghettoisierung sollte aufgehoben werden. Alltägliche Kontakte zur christlichen Mehrheit seien zu fördern. Das Ziel dieser neuen Freundlichkeit war jedoch die Bekehrung der Juden. Sie sollten zudem nicht nur formal getauft, sondern richtige Christen werden. Darin zeigte sich eine dunkle Kehrseite des Aufrufs zur Duldsamkeit. Beflügelt von den ersten euphorisierenden Erfahrungen seiner Reformation erhöhte Luther die religiösen Ansprüche gegenüber den Juden erheblich.
Umso größer mussten seine Enttäuschung, sein Unverständnis und seine Verbitterung sein, als seine frühen Hoffnungen sich nicht erfüllten. Von seinen theologischen Grundüberzeugungen her konnte er nicht begreifen, warum die Juden an ihrem Glauben festhielten. Hier musste eine schuldhafte Verstocktheit wirksam sein. Darum vollzog er zwanzig Jahre später eine wütende Kurskorrektur. Vor allem in der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ von 1543 rief er zu einem Endkampf gegen die Juden auf. Polemisch bis ins Extrem aufgerüstet klagte er die Juden an, unbelehrbar zu sein und Christus zu lästern. Er stellte sie als eine Gefahr für die christliche Gesellschaft dar und plädierte für ein massives Diskriminierungsprogramm bis hin zur Austreibung aus protestantischen Städten und Territorien. Bei diesem literarischen Exzess spielten verschiedene Faktoren zusammen: eine charakterliche Verhärtung gegen Lebensende, psychosomatische Belastungen, parareligiöse Zwangsvorstellungen, wohl auch ein schädlicher Einfluss seiner Ehefrau, die Rezeption eines frühneuzeitspezifischen Antisemitismus und die Befangenheit in einer vormodernen Gesellschaftsvorstellung, wonach ein Miteinander unterschiedlicher Religionen auf einem Staatsgebiet undenkbar war. Doch auch wenn man all dies abzieht, bleibt eine prinzipielle Judenfeindschaft. Vergleicht man seine Aussagen von 1523 und von 1543, muss man unterhalb der gegensätzlichen politischen Forderungen eine theologische Kontinuität feststellen, nämlich die Überzeugung, dass ein Judentum legitimerweise nicht mehr sein darf, wenn man dem reformatorischen Verständnis der biblischen Botschaft von Jesus Christus folgt. Die Judenfreundlichkeit des jungen Luthers trug also schon den Keim seiner späteren Judenfeindschaft in sich.
Eindrücklicher kann man kaum zeigen, dass es ein einheitliches Lutherbild und eine ungebrochene Lutherverehrung nicht mehr geben kann. Doch die blanke Empörung über seine judenfeindlichen Ausfälle bleibt vorkritisch und naiv, so lange sie noch davon ausgeht, dass eine direkte Bezugnahme auf Luther überhaupt möglich ist. Ihr gegenüber vertieft Kaufmann das Problem durch seine betont nüchterne Behandlung des Themas. Seine konsequente Historisierung des Reformators führt zu einer viel tieferen Befremdung. Sie stößt Luther endgültig vom Sockel einer normativen Leitfigur und zeigt ihn als eine geschichtliche Gestalt mit zwei Gesichtern, die als ganze immer auch fremd bleibt. Das heißt jedoch nicht, dass man heute als Protestant nicht mehr mit Grundimpulsen seiner reformatorischen Einsichten weiterarbeiten könnte. Doch nach dem Ende der konservativen und der liberalen Identitätspolitik muss man jetzt auf eigene Rechnung dasjenige auswählen, übersetzen und umformen, was man von seiner Lehre für wertvoll erachtet. Man sollte sich also wieder an die Maxime des Apostel Paulus halten, alles zu prüfen und das Gute zu behalten. Dies wäre das Ergebnis eigenständigen Nachdenkens und die Entscheidung eines mündigen Gewissens – was man auf andere Weise wiederum „gut lutherisch“ nennen könnte. Ganz glatt wird es bei solch einer neuen und nur partiellen Aneignung des lutherischen Erbes nicht abgehen. Es bleiben prinzipielle Ambivalenzen. Diese bewusst auszuhalten, wäre nicht die geringste Aufgabe einer aufgeklärten Theologie.
JOHANN HINRICH CLAUSSEN
THOMAS KAUFMANN: Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung. Mohr Siebeck, Tübingen 2011, 231 Seiten, 29 Euro .
Es ist unmöglich, den
„guten Reformator“ vom
„bösen Restaurator“ zu sondern
Ein einheitliches Lutherbild kann
es nicht mehr geben. Alles ist
zu prüfen, das Gute zu behalten.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Dem Januskopf Luther die Stirn bieten möchte Johann Hinrich Claussen. Der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann mit seiner Luther-Studie hilft ihm dabei. Claussen begreift sich als aufgeklärten Lutheraner, was allerdings nicht weniger bedeutet, als wenig angenehme Kontinuitäten zwischen dem jungen und dem alten Luther aufzudecken und das Gute und Wertvolle an Luthers Wirken dennoch zu bewahren und weiterzuentwickeln. Kaufmann zeigt dem Rezensenten mittels präziser Quellenbearbeitung, historischer Kontextualisierung und argumentativer Stringenz, wie der restauratorische Judenhasser bereits im freiheitsliebenden Reformator angelegt ist. Die bruchlose Lutherverehrung hat er damit für Claussen endgültig unmöglich gemacht.

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