Wissenschaftler, Schriftsteller, Melancholiker, Ästhet - Claude Lévi-Strauss (1908-2009) hat nicht nur Wissenschaftsgeschichte geschrieben, sondern auch unseren Blick auf uns selbst und auf die Welt verändert. In ihrer preisgekrönten Biographie durchmisst die Historikerin Emmanuelle Loyer das Leben und den intellektuellen Werdegang des weltberühmten Anthropologen.
Auf Basis bisher unveröffentlichter Quellen schildert Loyer fesselnd die Persönlichkeit und die Entwicklung von Lévi-Strauss: seine Kindheit im jüdisch assimilierten Elternhaus, seine vielversprechende Jugend- und Studienzeit sowie seine ersten politischen und intellektuellen Suchbewegungen. Es folgen die inzwischen legendäre Expedition ins Innerste Brasiliens, das Exil in Amerika, die Begründung des Strukturalismus. Nach dem Krieg und der Rückkehr nach Frankreich beginnt die Zeit des Schreibens, des Ruhms und der Ehrungen. Die Traurigen Tropen erscheinen und werden ein Welterfolg. Lévi-Strauss avanciert zu einemfranzösischen Nationalhelden. Doch in seinen vielfältigen öffentlichen und politischen Interventionen bewahrt er sich stets den »Blick aus der Ferne«. Loyers Biographie erzählt von einem Leben als intellektuellem Abenteuer - einem Abenteuer, das fortwirkt.
Auf Basis bisher unveröffentlichter Quellen schildert Loyer fesselnd die Persönlichkeit und die Entwicklung von Lévi-Strauss: seine Kindheit im jüdisch assimilierten Elternhaus, seine vielversprechende Jugend- und Studienzeit sowie seine ersten politischen und intellektuellen Suchbewegungen. Es folgen die inzwischen legendäre Expedition ins Innerste Brasiliens, das Exil in Amerika, die Begründung des Strukturalismus. Nach dem Krieg und der Rückkehr nach Frankreich beginnt die Zeit des Schreibens, des Ruhms und der Ehrungen. Die Traurigen Tropen erscheinen und werden ein Welterfolg. Lévi-Strauss avanciert zu einemfranzösischen Nationalhelden. Doch in seinen vielfältigen öffentlichen und politischen Interventionen bewahrt er sich stets den »Blick aus der Ferne«. Loyers Biographie erzählt von einem Leben als intellektuellem Abenteuer - einem Abenteuer, das fortwirkt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Heiratsfragen können sehr weit führen
Vom brasilianischen Urwald zu den Unsterblichen der Akademie: Emmanuelle Loyers großartige Biographie von Claude Lévi-Strauss.
Von Karl-Heinz Kohl
Claude Lévi-Strauss zählte schon zu seinen Lebzeiten zu den großen Autoren des vorigen Jahrhunderts. Als er 2009 im Alter von hundert Jahren starb, war es um ihn allerdings bereits merklich ruhiger geworden. Doch bahnt sich mittlerweile eine Renaissance an, die manchmal weniger dem Werk als der Person selbst gilt. Philosophen entdecken in ihm den kritischen Zeitdiagnostiker, der den distanzierten Blick des Ethnologen auf die eigene Gesellschaft richtet, Literaturwissenschaftler den Schriftsteller, dessen Nähe zum Surrealismus oft übersehen wurde.
Die großartige Biographie der französischen Historikerin Emmanuelle Loyer kommt daher zum richtigen Zeitpunkt. Die wichtigsten Etappen des langen Lebenswegs von Lévy-Strauss sind zwar aus seinen biographischen Selbstzeugnissen bereits bekannt: die knapp zwei Jahre, die er nach seinem Studium an einem französischen Provinzgymnasium Philosophie unterrichtete; seine Berufung auf eine Professur in São Paulo, die Expeditionen, die er von dort aus zu den Indianervölkern des Mato Grosso unternahm; die dramatische Flucht ins Exil und schließlich die Pariser Jahre, in denen er mit dem Strukturalismus ein neues Paradigma der Humanwissenschaften schuf. Doch gelingt es Emmanuelle Loyer durch die Auswertung zahlreicher bisher unbekannter Dokumente, auf viele dieser Episoden ein neues Licht zu werfen. Bisweilen demystifiziert sie die Selbststilisierungen, zu denen Lévi-Strauss manchmal neigte, weit öfter aber bewundert sie ihn für die Tatkraft, mit der er seine Ziele erreichte.
Die äußeren Umstände eines Forscherlebens hat Lévi-Strauss selbst einmal als "taubes Gestein" bezeichnet, das auf dem Weg zur Wahrheit nur hinderlich sei. Gerade diese Umstände aber werden für Emmanuelle Loyer zum eigentlichen Schlüssel für sein Werk. Dabei geht sie weit zurück, bis zur Herkunft seiner Vorfahren, die aus dem Elsass stammten und denen es nach der Erlangung der rechtlichen Gleichstellung der Juden gelang, sich schnell einen Platz in den höheren Etagen der französischen Gesellschaft zu sichern. Erstaunlich ist etwa die Karriere seines Urgroßvaters Isaac Strauss, der 1828 aus der Provinz nach Paris zog, dort zum gefeierten Komponisten aufstieg und sogar die Leitung der Oper übernahm. Die Liebe zur Musik sollte auch noch sein Urenkel teilen, der seine Abhandlung über die indianische Welt der Mythen zu den Klängen von Richard Wagners Opern zu verfassen pflegte.
Als er 1908 geboren wurde, hatte das Glück die Familie freilich schon wieder verlassen. Sein Großvater konnte zwar zunächst an der Börse reüssieren, verlor sein beträchtliches Vermögen aber wieder. Seinem Vater, einem wenig erfolgreichen Kunstmaler, bereitete es einige Mühe, seine Familie zu ernähren. Doch konnte er meist auf die finanzielle Unterstützung seiner weitverzweigten Verwandtschaft zurückgreifen, wobei ihm zugutekam, dass er seine patrilaterale Kusine zweiten Grades geheiratet hatte. Über diese und andere weltweit verbreitete Formen der Heiratsallianz schrieb Lévi-Strauss dann vierzig Jahre später sein erstes großes ethnologisches Werk. Die Bedeutung verwandtschaftlicher Beziehungen war ihm schon von früher Kindheit an geläufig.
Gekonnt fängt Loyer auch die politische Atmosphäre der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein, in der Lévi-Strauss sich für die Schriften von Karl Marx begeistert, einer sozialistischen Arbeiterpartei beitritt und zeitweise sogar Generalsekretär ihrer Studentenvereinigung wird. Es hätte ihm mithin auch eine politische Laufbahn offengestanden, doch nahm er stattdessen das Angebot an, sich einer Delegation jüngerer Wissenschaftlern anzuschließen, die 1935 von den französischen Kulturbehörden an die neu gegründete Universität von São Paulo geschickt wurde. Lévi-Strauss hält dort Vorlesungen in Ethnologie, obgleich er auf diesem Gebiet eigentlich Autodidakt war. Die langen Semesterferien nutzt er, um zusammen mit seiner Frau Dina Reisen in das Landesinnere zu unternehmen. Im Mato Grosso studiert er die dualen Organisationsformen der Bororo, denen er wichtige Anregungen für die Entwicklung seiner strukturalistischen Theorien verdankt. Gegen Ende seines Aufenthalts unternimmt er zusammen mit drei weiteren Wissenschaftlern eine halbjährige Expedition zu den bis dahin kaum kontaktierten Nambikwara. Doch sie endet in einem Desaster. Die sprachliche Kommunikation mit den Mitgliedern dieser Gruppe von nomadisierenden Jägern und Sammlern erweist sich als nahezu unmöglich. Zwischen den Expeditionsteilnehmern kommt es immer wieder zu Konflikten. Schließlich breitet sich eine schwere Augeninfektion aus, an der auch seine Frau erkrankt, die halberblindet nach São Paulo und von dort aus nach Paris zurückreist. Das Ende der Expedition bedeutet auch das Ende ihrer Ehe. Über ihre Beteiligung an seinen ethnographischen Forschungen hat er sich später ausgeschwiegen.
Die Jahre des amerikanischen Exils verschlagen ihn wiederum in ein ganz anderes soziales Milieu. In New York unterhält er enge Kontakte zu den amerikanischen Kollegen, die ihm ein Einreisevisum und eine Stelle an der New School for Social Research verschafft hatten. Die anderen französischen Exilanten bleiben dagegen unter sich und sehnen den Zeitpunkt herbei, zu dem sie wieder in ihr Vaterland zurückkehren können. Für Lévi-Strauss aber beginnen in New York die produktivsten Jahre.
In den ruhigen Räumen der Public Library beginnt er mit den Vorstudien zu seiner Abhandlung über die elementaren Verwandtschaftsstrukturen. Ein "großes Buch" sei im Entstehen begriffen, so schreibt er 1943 in einem Brief an seinen Mentor Paul Rivet, das den jungen französischen Ethnologen nach dem Krieg den Anschluss an die internationale Entwicklung des Faches ermöglichen werde. An Selbstvertrauen hat es Lévi-Strauss nie gemangelt. Von seiner eigenen Bedeutung war er schon zu einer Zeit überzeugt, zu der er noch nicht sehr viel mehr vorzulegen hatte als ein paar, allerdings originelle wissenschaftliche Aufsätze.
Seine hohen Erwartungen wurden jedoch enttäuscht, als er 1949 endgültig nach Frankreich zurückkehrte. Obgleich er mit der Einreichung seiner "Elementaren Strukturen" als Thèse d'Etat eigentlich alle formalen Voraussetzungen erfüllt hatte, blieb die Berufung auf eine Professur zunächst aus. Loyer zeigt, wie schwierig sich in den Nachkriegsjahren auch in der französischen Gesellschaft die Reintegration der Exilanten gestaltete. In den Universitäten herrschte zum Teil noch der Geist von Vichy. Ein unterschwelliger Antisemitismus kam hinzu.
Der Durchbruch gelang Lévi-Strauss erst, nachdem er 1955 seinen Reisebericht "Traurige Tropen" veröffentlicht hatte. Paradoxerweise war es gerade diese, keinem der üblichen Genres eindeutig zuordenbare und von der Literaturkritik begeistert gefeierte autobiographische Abhandlung, die ihm die lange ersehnte akademische Laufbahn eröffnete. Endlich erhielt er die Professur am Collège de France, um die er sich bereits zwei Mal vergeblich bemüht hatte.
1958 veröffentlicht er mit der Aufsatzsammlung "Strukturale Anthropologie" das eigentliche Manifest des Strukturalismus. In kurzen Abständen folgen "Das Ende des Totemismus" (1962), "Das wilde Denken" (1962) und der erste Band seiner "Mythologica" (1964). Sie zeigen die Fruchtbarkeit des von ihm entwickelten Ansatzes. Zu seiner Popularität trägt auch seine scharfe Abrechnung mit Jean-Paul Sartres Geschichtsphilosophie bei.
Er trifft damit den Nerv der Zeit. Die europäischen Kolonialmächte verloren damals ihre letzten Kolonien. Selbst Algerien musste Frankreich nach einem blutigen Krieg aufgeben. In einer Situation, in der sich die Dynamik des historischen Wandels gegen Europa zu wenden scheint, findet man Trost in der Vorstellung der unwandelbaren und sich überall gleichenden Strukturen des menschlichen Geistes. Der Strukturalismus wird zur großen intellektuellen Modeströmung der sechziger Jahre.
Als er 1973 in die Académie française aufgenommen wird, die er in seiner Antrittsrede spöttisch mit einem indianischen Männerbund vergleicht, hat er den Zenit seiner Popularität allerdings bereits überschritten. Lévi-Strauss empfindet dies eher als Erleichterung. Unbeirrt fährt er in den folgenden Jahren fort, zu forschen und zu publizieren. Längst zu einer nationalen Ikone geworden, kann er sich dem Medienrummel aber selbst in seinen letzten Lebensjahren nicht immer entziehen.
In seinen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen erscheint er nun wie der alte Weise vom Berg. Dabei schreckt er auch vor Provokationen nicht zurück, wenn er zum Beispiel die Beschneidung verteidigt und zugleich den neuen Ehe- und Partnerschaftsformen das Wort redet. Der radikale Kulturpessimismus seiner jungen Jahre weicht in den Äußerungen des Hochbetagten einer optimistischeren Zukunftsvision. Auf die gegenwärtige Periode der globalen Einebnung aller Unterschiede könne bald eine der neuen Vielfalt folgen. Denn wirklich linear sei die Geschichte noch nie verlaufen.
So umfangreich Emmanuelle Loyers Biographie auch ist - sie liest sich fesselnd bis zur letzten Seite. In der bewegten Lebensgeschichte des Hundertjährigen mit all ihren Höhen und Tiefen spiegelt sich die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Der versöhnliche Ausgang zeigt, dass es nicht nur aus Katastrophen bestand.
Emmanuelle Loyer: "Lévi-Strauss". Eine Biographie.
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
1092 S., Abb., geb., 58,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom brasilianischen Urwald zu den Unsterblichen der Akademie: Emmanuelle Loyers großartige Biographie von Claude Lévi-Strauss.
Von Karl-Heinz Kohl
Claude Lévi-Strauss zählte schon zu seinen Lebzeiten zu den großen Autoren des vorigen Jahrhunderts. Als er 2009 im Alter von hundert Jahren starb, war es um ihn allerdings bereits merklich ruhiger geworden. Doch bahnt sich mittlerweile eine Renaissance an, die manchmal weniger dem Werk als der Person selbst gilt. Philosophen entdecken in ihm den kritischen Zeitdiagnostiker, der den distanzierten Blick des Ethnologen auf die eigene Gesellschaft richtet, Literaturwissenschaftler den Schriftsteller, dessen Nähe zum Surrealismus oft übersehen wurde.
Die großartige Biographie der französischen Historikerin Emmanuelle Loyer kommt daher zum richtigen Zeitpunkt. Die wichtigsten Etappen des langen Lebenswegs von Lévy-Strauss sind zwar aus seinen biographischen Selbstzeugnissen bereits bekannt: die knapp zwei Jahre, die er nach seinem Studium an einem französischen Provinzgymnasium Philosophie unterrichtete; seine Berufung auf eine Professur in São Paulo, die Expeditionen, die er von dort aus zu den Indianervölkern des Mato Grosso unternahm; die dramatische Flucht ins Exil und schließlich die Pariser Jahre, in denen er mit dem Strukturalismus ein neues Paradigma der Humanwissenschaften schuf. Doch gelingt es Emmanuelle Loyer durch die Auswertung zahlreicher bisher unbekannter Dokumente, auf viele dieser Episoden ein neues Licht zu werfen. Bisweilen demystifiziert sie die Selbststilisierungen, zu denen Lévi-Strauss manchmal neigte, weit öfter aber bewundert sie ihn für die Tatkraft, mit der er seine Ziele erreichte.
Die äußeren Umstände eines Forscherlebens hat Lévi-Strauss selbst einmal als "taubes Gestein" bezeichnet, das auf dem Weg zur Wahrheit nur hinderlich sei. Gerade diese Umstände aber werden für Emmanuelle Loyer zum eigentlichen Schlüssel für sein Werk. Dabei geht sie weit zurück, bis zur Herkunft seiner Vorfahren, die aus dem Elsass stammten und denen es nach der Erlangung der rechtlichen Gleichstellung der Juden gelang, sich schnell einen Platz in den höheren Etagen der französischen Gesellschaft zu sichern. Erstaunlich ist etwa die Karriere seines Urgroßvaters Isaac Strauss, der 1828 aus der Provinz nach Paris zog, dort zum gefeierten Komponisten aufstieg und sogar die Leitung der Oper übernahm. Die Liebe zur Musik sollte auch noch sein Urenkel teilen, der seine Abhandlung über die indianische Welt der Mythen zu den Klängen von Richard Wagners Opern zu verfassen pflegte.
Als er 1908 geboren wurde, hatte das Glück die Familie freilich schon wieder verlassen. Sein Großvater konnte zwar zunächst an der Börse reüssieren, verlor sein beträchtliches Vermögen aber wieder. Seinem Vater, einem wenig erfolgreichen Kunstmaler, bereitete es einige Mühe, seine Familie zu ernähren. Doch konnte er meist auf die finanzielle Unterstützung seiner weitverzweigten Verwandtschaft zurückgreifen, wobei ihm zugutekam, dass er seine patrilaterale Kusine zweiten Grades geheiratet hatte. Über diese und andere weltweit verbreitete Formen der Heiratsallianz schrieb Lévi-Strauss dann vierzig Jahre später sein erstes großes ethnologisches Werk. Die Bedeutung verwandtschaftlicher Beziehungen war ihm schon von früher Kindheit an geläufig.
Gekonnt fängt Loyer auch die politische Atmosphäre der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein, in der Lévi-Strauss sich für die Schriften von Karl Marx begeistert, einer sozialistischen Arbeiterpartei beitritt und zeitweise sogar Generalsekretär ihrer Studentenvereinigung wird. Es hätte ihm mithin auch eine politische Laufbahn offengestanden, doch nahm er stattdessen das Angebot an, sich einer Delegation jüngerer Wissenschaftlern anzuschließen, die 1935 von den französischen Kulturbehörden an die neu gegründete Universität von São Paulo geschickt wurde. Lévi-Strauss hält dort Vorlesungen in Ethnologie, obgleich er auf diesem Gebiet eigentlich Autodidakt war. Die langen Semesterferien nutzt er, um zusammen mit seiner Frau Dina Reisen in das Landesinnere zu unternehmen. Im Mato Grosso studiert er die dualen Organisationsformen der Bororo, denen er wichtige Anregungen für die Entwicklung seiner strukturalistischen Theorien verdankt. Gegen Ende seines Aufenthalts unternimmt er zusammen mit drei weiteren Wissenschaftlern eine halbjährige Expedition zu den bis dahin kaum kontaktierten Nambikwara. Doch sie endet in einem Desaster. Die sprachliche Kommunikation mit den Mitgliedern dieser Gruppe von nomadisierenden Jägern und Sammlern erweist sich als nahezu unmöglich. Zwischen den Expeditionsteilnehmern kommt es immer wieder zu Konflikten. Schließlich breitet sich eine schwere Augeninfektion aus, an der auch seine Frau erkrankt, die halberblindet nach São Paulo und von dort aus nach Paris zurückreist. Das Ende der Expedition bedeutet auch das Ende ihrer Ehe. Über ihre Beteiligung an seinen ethnographischen Forschungen hat er sich später ausgeschwiegen.
Die Jahre des amerikanischen Exils verschlagen ihn wiederum in ein ganz anderes soziales Milieu. In New York unterhält er enge Kontakte zu den amerikanischen Kollegen, die ihm ein Einreisevisum und eine Stelle an der New School for Social Research verschafft hatten. Die anderen französischen Exilanten bleiben dagegen unter sich und sehnen den Zeitpunkt herbei, zu dem sie wieder in ihr Vaterland zurückkehren können. Für Lévi-Strauss aber beginnen in New York die produktivsten Jahre.
In den ruhigen Räumen der Public Library beginnt er mit den Vorstudien zu seiner Abhandlung über die elementaren Verwandtschaftsstrukturen. Ein "großes Buch" sei im Entstehen begriffen, so schreibt er 1943 in einem Brief an seinen Mentor Paul Rivet, das den jungen französischen Ethnologen nach dem Krieg den Anschluss an die internationale Entwicklung des Faches ermöglichen werde. An Selbstvertrauen hat es Lévi-Strauss nie gemangelt. Von seiner eigenen Bedeutung war er schon zu einer Zeit überzeugt, zu der er noch nicht sehr viel mehr vorzulegen hatte als ein paar, allerdings originelle wissenschaftliche Aufsätze.
Seine hohen Erwartungen wurden jedoch enttäuscht, als er 1949 endgültig nach Frankreich zurückkehrte. Obgleich er mit der Einreichung seiner "Elementaren Strukturen" als Thèse d'Etat eigentlich alle formalen Voraussetzungen erfüllt hatte, blieb die Berufung auf eine Professur zunächst aus. Loyer zeigt, wie schwierig sich in den Nachkriegsjahren auch in der französischen Gesellschaft die Reintegration der Exilanten gestaltete. In den Universitäten herrschte zum Teil noch der Geist von Vichy. Ein unterschwelliger Antisemitismus kam hinzu.
Der Durchbruch gelang Lévi-Strauss erst, nachdem er 1955 seinen Reisebericht "Traurige Tropen" veröffentlicht hatte. Paradoxerweise war es gerade diese, keinem der üblichen Genres eindeutig zuordenbare und von der Literaturkritik begeistert gefeierte autobiographische Abhandlung, die ihm die lange ersehnte akademische Laufbahn eröffnete. Endlich erhielt er die Professur am Collège de France, um die er sich bereits zwei Mal vergeblich bemüht hatte.
1958 veröffentlicht er mit der Aufsatzsammlung "Strukturale Anthropologie" das eigentliche Manifest des Strukturalismus. In kurzen Abständen folgen "Das Ende des Totemismus" (1962), "Das wilde Denken" (1962) und der erste Band seiner "Mythologica" (1964). Sie zeigen die Fruchtbarkeit des von ihm entwickelten Ansatzes. Zu seiner Popularität trägt auch seine scharfe Abrechnung mit Jean-Paul Sartres Geschichtsphilosophie bei.
Er trifft damit den Nerv der Zeit. Die europäischen Kolonialmächte verloren damals ihre letzten Kolonien. Selbst Algerien musste Frankreich nach einem blutigen Krieg aufgeben. In einer Situation, in der sich die Dynamik des historischen Wandels gegen Europa zu wenden scheint, findet man Trost in der Vorstellung der unwandelbaren und sich überall gleichenden Strukturen des menschlichen Geistes. Der Strukturalismus wird zur großen intellektuellen Modeströmung der sechziger Jahre.
Als er 1973 in die Académie française aufgenommen wird, die er in seiner Antrittsrede spöttisch mit einem indianischen Männerbund vergleicht, hat er den Zenit seiner Popularität allerdings bereits überschritten. Lévi-Strauss empfindet dies eher als Erleichterung. Unbeirrt fährt er in den folgenden Jahren fort, zu forschen und zu publizieren. Längst zu einer nationalen Ikone geworden, kann er sich dem Medienrummel aber selbst in seinen letzten Lebensjahren nicht immer entziehen.
In seinen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen erscheint er nun wie der alte Weise vom Berg. Dabei schreckt er auch vor Provokationen nicht zurück, wenn er zum Beispiel die Beschneidung verteidigt und zugleich den neuen Ehe- und Partnerschaftsformen das Wort redet. Der radikale Kulturpessimismus seiner jungen Jahre weicht in den Äußerungen des Hochbetagten einer optimistischeren Zukunftsvision. Auf die gegenwärtige Periode der globalen Einebnung aller Unterschiede könne bald eine der neuen Vielfalt folgen. Denn wirklich linear sei die Geschichte noch nie verlaufen.
So umfangreich Emmanuelle Loyers Biographie auch ist - sie liest sich fesselnd bis zur letzten Seite. In der bewegten Lebensgeschichte des Hundertjährigen mit all ihren Höhen und Tiefen spiegelt sich die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Der versöhnliche Ausgang zeigt, dass es nicht nur aus Katastrophen bestand.
Emmanuelle Loyer: "Lévi-Strauss". Eine Biographie.
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
1092 S., Abb., geb., 58,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.11.2017Ein Jahrhundertleben
Emmanuelle Loyer hat die überfällige Biografie des großen Ethnologen und Strukturalisten Claude Lévi-Strauss geschrieben
Er hat nicht nur eine ganze Kette von Wissenschaftsrichtungen in entscheidendem Maße inspiriert und mitgeprägt, auch seine reale Lebenszeit umspannte selbst ein ganzes Jahrhundert. Wie kann man einem solchen Menschen durch eine Biografie gerecht werden? Gewiss, an begleitenden Darstellungen und Auseinandersetzungen, Büchern und Abhandlungen zu Lévi-Strauss hat es seit den frühen Sechzigerjahren bis heute niemals gemangelt – unter den Größen seines Faches ist keinem Einzigen eine derartig beredsame Aufmerksamkeit zuteil geworden: Franz Boas nicht, Malinowski nicht, Evans-Pritchard nicht und Margaret Mead nicht; aber eine Publikation, welche das Werk, seine Entwicklung und Wirkung mit der Person, die es schuf – ihrem persönlichen Werdegang und intellektuellen Umfeld – zu einem einheitlichen Bild zusammenfügt, ist bislang ausgeblieben. Selbst das 2013 veröffentlichte, gewichtige Werk aus der Feder von Maurice Godelier leistet dies nicht, da es sich ausschließlich auf eine Neu-Auslegung der verwandtschaftsbezogenen und mythologischen Arbeiten seines ehemaligen Chefs konzentriert. Der fehlende, große Wurf ist Emmanuelle Loyer, einer Historikerin für politische, künstlerische und intellektuelle Strömungen im Frankreich des 20. Jahrhunderts, mit ihrem 1000-seitigen Opus zu Lévi-Strauss nun gelungen.
Das Meisterstück verdankt sich dem Zusammentreffen mehrerer Umstände. Verfasst zu einem Zeitpunkt, da Werk und Person von Lévi-Strauss allmählich aus dem Gesichtsfeld rücken, war es Frau Loyer, selbst eine Nachgeborene und nicht direkt vom Fach, gegeben, ihren Gegenstand auf zwei Ebenen zu betrachten – auf einer der geschichtlichen Distanz; und einer der gedanklichen Nähe. Letztere erklärt die Lebendigkeit ihrer Schilderungen und erstere die Ruhe kulturgeschichtlicher Betrachtung. Für die historische Perspektive konnte die Biografin auf eine beträchtliche Anzahl von Archiven zugreifen, in São Paulo, in New York und vor allem in Paris, darunter der Nachlass Lévi-Strauss’ in der Bibliothèque nationale und die Archive des Laboratoire d’anthropologie sociale und des Collège de France, von denen einzelne Abteilungen erst jetzt in vollem Umfang zugänglich wurden. Für die Nähe sorgten zahlreiche Gespräche, die Loyer in den vergangenen Jahren mit Personen aus dem unmittelbaren Umkreis des Ethnologen führte: mit Monique Lévi-Strauss, Lebensgefährtin über ein halbes Jahrhundert hinweg, mit den Söhnen sowie ehemaligen Mitarbeitern und Kollegen.
Für neue Einblicke in seinen privaten und beruflichen Werdegang sorgen auch die zahlreichen Briefwechsel, die von Lévi-Strauss seit seiner Jugend bis ins hohe Alter geführt wurden. Dazu zählen die (jüngst im französischen Original als „Chers tous deux“ veröffentlichten) Briefe an seine Eltern (1931–1942), die liebevolle Berichte über seine Militärzeit, sein Lehramt in der Provinz, seine erste Ehe und seine New Yorker Erkundungen enthalten; dazu zählen die intellektuellen Briefwechsel, mit Vorgängern und Ratgebern wie Mauss, Bouglé oder Rivet; mit Amerikanisten wie Nimuendajú, Métraux oder Soustelle; mit Mitstreitern um neue Wege in der Wissenschaft wie Jakobson, Benveniste, Vernant, Braudel, Dumézil, Leiris oder Merleau-Ponty; oder solche mit jüngeren Forschern wie Sebag, Clastres, Bourdieu, Godelier oder Chiva. Besonders die berufsbezogenen Schriftstücke werfen für den Außenstehenden ein völlig neues Licht auf die internationale Landschaft der akademischen Welt: spürbare Sympathien, Höflichkeiten, Anregungen, Warnungen und offene Feindseligkeiten wechseln in bunter Farbenpracht einander ab. Diese Briefe, mitunter in ausführlicher Länge zitiert, lassen die Umrisse einer teils löchrigen, teils offenen Gelehrtenrepublik entstehen, wie sie in der Moderne sich vielleicht nur in Paris in solcher Dichte hat herausbilden können.
Die Biografie ist, von einzelnen Vor- und Rückblenden abgesehen, chronologisch aufgebaut. Sie setzt bei den Vorfahren ein, elsässischen Juden, unter denen mehrere als Rabbiner tätig waren. In väterlicher Linie ist eine künstlerische Orientierung ausgeprägt: Urgroßvater war der erfolgreiche Komponist und Dirigent Isaak Strauss (1806-1868); und Claudes Vater (1881-1953) war Porträtmaler, dessen Begabung in den ethnografischen Zeichnungen des Sohnes einen Nachhall finden sollte. Kindheit und Jugend verbrachte Lévi-Strauss als behütetes Einzelkind im Pariser 16. Arrondissement, ehe er sich als glühender sozialistischer Aktivist und Redner in der Provinz betätigte. Seine radikale politische Phase verebbte mit seiner Berufung an die neu gegründete Universität São Paulo. Dort lehrte er Soziologie und bildete sich auf mehreren Exkursionen ins Hinterland autodidaktisch zum Ethnologen aus. Die Etappen (zwischen 1935 und 1938) sind in Lévi-Strauss’ eigenen Schriften und Interviews oftmals nacherzählt worden; bei Loyer nimmt die Bekehrung zum berufenen Ethnologen eine Textspanne von mehr als hundert Seiten ein – mit vielen bis dato unbekannten Details, in denen auch die erste Gattin Dina Dreyfus an Kontur gewinnt.
Für die Darstellung der New Yorker Zeit (1941-1947) ist die Biografin durch ihr vorheriges Buch über französische Künstler im New Yorker Exil während der Kriegsjahre bestens vorbereitet. Sie schildert das Klima, in dem sich Gelehrte, Galeristen und Avantgardisten mischten, Freundschaften eingingen und neue geistige Amalgame schufen. Lévi-Strauss traf dort auf Leute wie Max Ernst, Breton, Duchamp, Yves Tanguy, Matta, Aimé Césaire und Georges Wildenstein, teils im Umfeld der Zeitschriften Gazette des Beaux Arts und VVV, teils als französischer Kultur-Attaché. Meist saß er jedoch in der New York Public Library und schrieb an seinem ersten großen Wurf, den „Structures élémentaires de la parenté“, sein Gründungsbuch des Strukturalismus. In diese Zeit (von 1942 an) fällt seine wohl wichtigste Begegnung, die eine Freundschaft fürs Leben blieb: die mit Roman Jakobson, der ihn beharrlich zur Niederschrift der „Structures“ befeuerte und zur darin erstmals entwickelten Sehweise.
Die lange Zeit des Akademiker- und Gelehrtenlebens seit der Rückkehr nach Frankreich unterteilt die Biografin in mehrere Phasen: die Jahre vergeblicher Anläufe, eine angemessene Anstellung im Gefüge der Pariser Institutionen zu finden, deren entladender Kulminationspunkt die bewegte Niederschrift der unklassifizierbaren „Traurigen Tropen“ ist; die Zeit allmählicher Konsolidierung als Dozent an der École pratique des hautes études und jener bahnbrechenden Aufsätze, die in der „Strukturalen Anthropologie“ gebündelt wurden; die Epoche der Gründung und Ausgestaltung des Laboratoire d’anthropologie sociale – dieser Denkfabrik von Einzelgängern –, in deren Anfangszeit die beiden Werke zu den Klassifikationssystemen erschienen: „Das Ende des Totemismus“ und „Das wilde Denken“; in die Dekade der vier Bände der „Mythologica“, die eine neue komparative Mythenforschung zu den Ursprungsgeschichten beider Amerikas begründeten; und ein sehr langes Finale, in dem Lévi-Strauss in den Kreis der Unsterblichen der Académie française aufgenommen wurde, als Autor Weltruhm erlangte und zu Lebzeiten in der Bibliothèque de la Pléiade den Platz großer Schriftsteller fand.
Die in dieser späten Phase entstandenen Werke der kleinen Mythologica: „Der Weg der Masken“, „Die eifersüchtige Töpferin“ und „Die Luchsgeschichte“ werden mit der gleichen Sorgfalt behandelt, was Inhalt, Entstehung und Wirkung angeht, wie alle Werke zuvor. Neben dieser Sorgfalt ist die sprachliche Eleganz hervorzuheben, mit der Frau Loyer die unterschiedlichsten Quellen zu ihrer eigenen Erzählung macht. Diese Wendigkeit wurde in die deutsche Übersetzung von Eva Moldenhauer sicher transponiert. Im Ausblick reflektiert die Biografin die Frage, wie Lévi-Strauss heute von jüngeren Denkern aufgenommen wird. Ihr Resümee, allen postmodernen Besserwissern zum Trotz: Er lebt!
Die der Biografie beigefügten Fotografien sind weitgehend in die deutsche Ausgabe übernommen worden – darunter ein wunderbares, mittlerweile berühmtes Frontispiz des Porträtierten mit einer Dohle von der mit der Familie befreundeten Anita Albus auf der Schulter. Umso befremdlicher ist es, dass etliche Abbildungen fehlen, darunter ein Bild des Frachters Capitaine Paul Lemerle, auf dem der Ethnologe 1941 von Marseille nach Martinique nebst anderen Exilanten wie Anna Seghers, Victor Serge und André Breton den Konzentrationslagern in Europa entkommen war. Novitäten unter den Bildern sind insbesondere die privaten Fotos: die der Ahnen, der Eltern, der Ehefrauen, Söhne und Kindeskinder, der Kollegen und Mitarbeiter am Collège de France; die seiner wechselnden Wohnstätten in den Cevennes, in Paris, in New York und seines Landhauses in Lignerolles/Burgund; oder der Schreibmaschine, auf der die „Traurigen Tropen“ getippt wurden mitsamt der ersten Seite des Manuskripts; oder seiner Leica aus den Dreißigerjahren, mit der die später berühmten Fotos südamerikanischer Indianer in den „Traurigen Tropen“ und in dem Bildband „Saudades do Brasil“ (1994) aufgenommen wurden.
Man hat Lévi-Strauss als kühl und distanziert geschildert, als einen jeder verschwenderischen Geselligkeit Flüchtigen. Die Biografie Loyers bestätigt diesen Eindruck, aber sie zeigt auch eine andere Seite: Lévi-Strauss als warmherzigen und hilfsbereiten Zuhörer, als jemanden, der auf aufrichtige Fragen stets Rat und Antwort gab und seine Schüler nachdrücklich an die Geldquellen empfahl. Als ich Anfang 1970 erstmals bei ihm wegen eines Treffens anrief, überließ er mir den Zeitpunkt für das Gespräch. Nachdem er mir in seinem Büro am Collège de France die Schönheit einer geschnitzten Holzkeule der Tsimshian zum Töten springender Lachse gezeigt hatte, unterhielten wir uns über mein geplantes Forschungsprojekt und schon bald ging ein betörendes Gutachten an die DFG, die es finanzieren sollte. Unausweichlich aber war bei dem ersten Besuch ein Rundgang im Allerheiligsten seines Labors: durch die langen Reihen der Human Relations Area Files, das damals umfassendste Archiv ethnografischer Kenntnisse. Heute steht dieser Dinosaurier anthropologischen Wissens am neuen Ort im Lesesaal, einsehbar vom erhöhten und verglasten Studiolo des verstorbenen Meisters – eine Raumskulptur zur Erinnerung an eine einstmals tausendfältige Welt.
MICHAEL OPPITZ
Manche Archivabteilungen
wurden erst für die Recherchen
der Autorin zugänglich gemacht
Zurück in Paris bemühte sich
Lévi-Strauss zunächst vergeblich
um eine angemessene Stelle
Emmanuelle Loyer:
Lévi-Strauss - Eine Biographie. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 1088 Seiten, 59 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Emmanuelle Loyer hat die überfällige Biografie des großen Ethnologen und Strukturalisten Claude Lévi-Strauss geschrieben
Er hat nicht nur eine ganze Kette von Wissenschaftsrichtungen in entscheidendem Maße inspiriert und mitgeprägt, auch seine reale Lebenszeit umspannte selbst ein ganzes Jahrhundert. Wie kann man einem solchen Menschen durch eine Biografie gerecht werden? Gewiss, an begleitenden Darstellungen und Auseinandersetzungen, Büchern und Abhandlungen zu Lévi-Strauss hat es seit den frühen Sechzigerjahren bis heute niemals gemangelt – unter den Größen seines Faches ist keinem Einzigen eine derartig beredsame Aufmerksamkeit zuteil geworden: Franz Boas nicht, Malinowski nicht, Evans-Pritchard nicht und Margaret Mead nicht; aber eine Publikation, welche das Werk, seine Entwicklung und Wirkung mit der Person, die es schuf – ihrem persönlichen Werdegang und intellektuellen Umfeld – zu einem einheitlichen Bild zusammenfügt, ist bislang ausgeblieben. Selbst das 2013 veröffentlichte, gewichtige Werk aus der Feder von Maurice Godelier leistet dies nicht, da es sich ausschließlich auf eine Neu-Auslegung der verwandtschaftsbezogenen und mythologischen Arbeiten seines ehemaligen Chefs konzentriert. Der fehlende, große Wurf ist Emmanuelle Loyer, einer Historikerin für politische, künstlerische und intellektuelle Strömungen im Frankreich des 20. Jahrhunderts, mit ihrem 1000-seitigen Opus zu Lévi-Strauss nun gelungen.
Das Meisterstück verdankt sich dem Zusammentreffen mehrerer Umstände. Verfasst zu einem Zeitpunkt, da Werk und Person von Lévi-Strauss allmählich aus dem Gesichtsfeld rücken, war es Frau Loyer, selbst eine Nachgeborene und nicht direkt vom Fach, gegeben, ihren Gegenstand auf zwei Ebenen zu betrachten – auf einer der geschichtlichen Distanz; und einer der gedanklichen Nähe. Letztere erklärt die Lebendigkeit ihrer Schilderungen und erstere die Ruhe kulturgeschichtlicher Betrachtung. Für die historische Perspektive konnte die Biografin auf eine beträchtliche Anzahl von Archiven zugreifen, in São Paulo, in New York und vor allem in Paris, darunter der Nachlass Lévi-Strauss’ in der Bibliothèque nationale und die Archive des Laboratoire d’anthropologie sociale und des Collège de France, von denen einzelne Abteilungen erst jetzt in vollem Umfang zugänglich wurden. Für die Nähe sorgten zahlreiche Gespräche, die Loyer in den vergangenen Jahren mit Personen aus dem unmittelbaren Umkreis des Ethnologen führte: mit Monique Lévi-Strauss, Lebensgefährtin über ein halbes Jahrhundert hinweg, mit den Söhnen sowie ehemaligen Mitarbeitern und Kollegen.
Für neue Einblicke in seinen privaten und beruflichen Werdegang sorgen auch die zahlreichen Briefwechsel, die von Lévi-Strauss seit seiner Jugend bis ins hohe Alter geführt wurden. Dazu zählen die (jüngst im französischen Original als „Chers tous deux“ veröffentlichten) Briefe an seine Eltern (1931–1942), die liebevolle Berichte über seine Militärzeit, sein Lehramt in der Provinz, seine erste Ehe und seine New Yorker Erkundungen enthalten; dazu zählen die intellektuellen Briefwechsel, mit Vorgängern und Ratgebern wie Mauss, Bouglé oder Rivet; mit Amerikanisten wie Nimuendajú, Métraux oder Soustelle; mit Mitstreitern um neue Wege in der Wissenschaft wie Jakobson, Benveniste, Vernant, Braudel, Dumézil, Leiris oder Merleau-Ponty; oder solche mit jüngeren Forschern wie Sebag, Clastres, Bourdieu, Godelier oder Chiva. Besonders die berufsbezogenen Schriftstücke werfen für den Außenstehenden ein völlig neues Licht auf die internationale Landschaft der akademischen Welt: spürbare Sympathien, Höflichkeiten, Anregungen, Warnungen und offene Feindseligkeiten wechseln in bunter Farbenpracht einander ab. Diese Briefe, mitunter in ausführlicher Länge zitiert, lassen die Umrisse einer teils löchrigen, teils offenen Gelehrtenrepublik entstehen, wie sie in der Moderne sich vielleicht nur in Paris in solcher Dichte hat herausbilden können.
Die Biografie ist, von einzelnen Vor- und Rückblenden abgesehen, chronologisch aufgebaut. Sie setzt bei den Vorfahren ein, elsässischen Juden, unter denen mehrere als Rabbiner tätig waren. In väterlicher Linie ist eine künstlerische Orientierung ausgeprägt: Urgroßvater war der erfolgreiche Komponist und Dirigent Isaak Strauss (1806-1868); und Claudes Vater (1881-1953) war Porträtmaler, dessen Begabung in den ethnografischen Zeichnungen des Sohnes einen Nachhall finden sollte. Kindheit und Jugend verbrachte Lévi-Strauss als behütetes Einzelkind im Pariser 16. Arrondissement, ehe er sich als glühender sozialistischer Aktivist und Redner in der Provinz betätigte. Seine radikale politische Phase verebbte mit seiner Berufung an die neu gegründete Universität São Paulo. Dort lehrte er Soziologie und bildete sich auf mehreren Exkursionen ins Hinterland autodidaktisch zum Ethnologen aus. Die Etappen (zwischen 1935 und 1938) sind in Lévi-Strauss’ eigenen Schriften und Interviews oftmals nacherzählt worden; bei Loyer nimmt die Bekehrung zum berufenen Ethnologen eine Textspanne von mehr als hundert Seiten ein – mit vielen bis dato unbekannten Details, in denen auch die erste Gattin Dina Dreyfus an Kontur gewinnt.
Für die Darstellung der New Yorker Zeit (1941-1947) ist die Biografin durch ihr vorheriges Buch über französische Künstler im New Yorker Exil während der Kriegsjahre bestens vorbereitet. Sie schildert das Klima, in dem sich Gelehrte, Galeristen und Avantgardisten mischten, Freundschaften eingingen und neue geistige Amalgame schufen. Lévi-Strauss traf dort auf Leute wie Max Ernst, Breton, Duchamp, Yves Tanguy, Matta, Aimé Césaire und Georges Wildenstein, teils im Umfeld der Zeitschriften Gazette des Beaux Arts und VVV, teils als französischer Kultur-Attaché. Meist saß er jedoch in der New York Public Library und schrieb an seinem ersten großen Wurf, den „Structures élémentaires de la parenté“, sein Gründungsbuch des Strukturalismus. In diese Zeit (von 1942 an) fällt seine wohl wichtigste Begegnung, die eine Freundschaft fürs Leben blieb: die mit Roman Jakobson, der ihn beharrlich zur Niederschrift der „Structures“ befeuerte und zur darin erstmals entwickelten Sehweise.
Die lange Zeit des Akademiker- und Gelehrtenlebens seit der Rückkehr nach Frankreich unterteilt die Biografin in mehrere Phasen: die Jahre vergeblicher Anläufe, eine angemessene Anstellung im Gefüge der Pariser Institutionen zu finden, deren entladender Kulminationspunkt die bewegte Niederschrift der unklassifizierbaren „Traurigen Tropen“ ist; die Zeit allmählicher Konsolidierung als Dozent an der École pratique des hautes études und jener bahnbrechenden Aufsätze, die in der „Strukturalen Anthropologie“ gebündelt wurden; die Epoche der Gründung und Ausgestaltung des Laboratoire d’anthropologie sociale – dieser Denkfabrik von Einzelgängern –, in deren Anfangszeit die beiden Werke zu den Klassifikationssystemen erschienen: „Das Ende des Totemismus“ und „Das wilde Denken“; in die Dekade der vier Bände der „Mythologica“, die eine neue komparative Mythenforschung zu den Ursprungsgeschichten beider Amerikas begründeten; und ein sehr langes Finale, in dem Lévi-Strauss in den Kreis der Unsterblichen der Académie française aufgenommen wurde, als Autor Weltruhm erlangte und zu Lebzeiten in der Bibliothèque de la Pléiade den Platz großer Schriftsteller fand.
Die in dieser späten Phase entstandenen Werke der kleinen Mythologica: „Der Weg der Masken“, „Die eifersüchtige Töpferin“ und „Die Luchsgeschichte“ werden mit der gleichen Sorgfalt behandelt, was Inhalt, Entstehung und Wirkung angeht, wie alle Werke zuvor. Neben dieser Sorgfalt ist die sprachliche Eleganz hervorzuheben, mit der Frau Loyer die unterschiedlichsten Quellen zu ihrer eigenen Erzählung macht. Diese Wendigkeit wurde in die deutsche Übersetzung von Eva Moldenhauer sicher transponiert. Im Ausblick reflektiert die Biografin die Frage, wie Lévi-Strauss heute von jüngeren Denkern aufgenommen wird. Ihr Resümee, allen postmodernen Besserwissern zum Trotz: Er lebt!
Die der Biografie beigefügten Fotografien sind weitgehend in die deutsche Ausgabe übernommen worden – darunter ein wunderbares, mittlerweile berühmtes Frontispiz des Porträtierten mit einer Dohle von der mit der Familie befreundeten Anita Albus auf der Schulter. Umso befremdlicher ist es, dass etliche Abbildungen fehlen, darunter ein Bild des Frachters Capitaine Paul Lemerle, auf dem der Ethnologe 1941 von Marseille nach Martinique nebst anderen Exilanten wie Anna Seghers, Victor Serge und André Breton den Konzentrationslagern in Europa entkommen war. Novitäten unter den Bildern sind insbesondere die privaten Fotos: die der Ahnen, der Eltern, der Ehefrauen, Söhne und Kindeskinder, der Kollegen und Mitarbeiter am Collège de France; die seiner wechselnden Wohnstätten in den Cevennes, in Paris, in New York und seines Landhauses in Lignerolles/Burgund; oder der Schreibmaschine, auf der die „Traurigen Tropen“ getippt wurden mitsamt der ersten Seite des Manuskripts; oder seiner Leica aus den Dreißigerjahren, mit der die später berühmten Fotos südamerikanischer Indianer in den „Traurigen Tropen“ und in dem Bildband „Saudades do Brasil“ (1994) aufgenommen wurden.
Man hat Lévi-Strauss als kühl und distanziert geschildert, als einen jeder verschwenderischen Geselligkeit Flüchtigen. Die Biografie Loyers bestätigt diesen Eindruck, aber sie zeigt auch eine andere Seite: Lévi-Strauss als warmherzigen und hilfsbereiten Zuhörer, als jemanden, der auf aufrichtige Fragen stets Rat und Antwort gab und seine Schüler nachdrücklich an die Geldquellen empfahl. Als ich Anfang 1970 erstmals bei ihm wegen eines Treffens anrief, überließ er mir den Zeitpunkt für das Gespräch. Nachdem er mir in seinem Büro am Collège de France die Schönheit einer geschnitzten Holzkeule der Tsimshian zum Töten springender Lachse gezeigt hatte, unterhielten wir uns über mein geplantes Forschungsprojekt und schon bald ging ein betörendes Gutachten an die DFG, die es finanzieren sollte. Unausweichlich aber war bei dem ersten Besuch ein Rundgang im Allerheiligsten seines Labors: durch die langen Reihen der Human Relations Area Files, das damals umfassendste Archiv ethnografischer Kenntnisse. Heute steht dieser Dinosaurier anthropologischen Wissens am neuen Ort im Lesesaal, einsehbar vom erhöhten und verglasten Studiolo des verstorbenen Meisters – eine Raumskulptur zur Erinnerung an eine einstmals tausendfältige Welt.
MICHAEL OPPITZ
Manche Archivabteilungen
wurden erst für die Recherchen
der Autorin zugänglich gemacht
Zurück in Paris bemühte sich
Lévi-Strauss zunächst vergeblich
um eine angemessene Stelle
Emmanuelle Loyer:
Lévi-Strauss - Eine Biographie. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 1088 Seiten, 59 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»'In unserem kopflosen und gebeutelten 21. Jahrhundert, das mit technologischen Revolutionen kämpft, die es nicht beherrscht' sei Lévi-Strauss von 'neuer Aktualität', erklärt die Autorin einführend. Auf den folgenden gut 1.000 Seiten belegt sie dies eindrucksvoll.« Jens Uthoff taz. die tageszeitung 20180424