Bettina Gundermanns "Lysander" ist ein Roman von schonungsloser Klarheit und magischer Sprachgewalt. Er erzählt von Menschen, die ihren Platz im Leben verloren haben, von der fieberhaften Suche nach Erlösung - und vom verzweifelten Schweigen, das die Erinnerung im Zaum hält, aber zugleich jede menschliche Beziehung erstickt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.2005Schlafes Geschwister
Vom bösen Gott: Bettina Gundermann läßt alle Hoffnung fahren
Jeder Erzähler ist der uneingeschränkte Gott der von ihm erschaffenen Welt, und manchmal kann ein solcher Gott sehr grausam sein. Dann errichtet er eine Welt aus Schmerz, Haß und Häßlichkeit, in der die Freude, die Liebe und die Schönheit nur als verstärkender Kontrast dienen und alles seine unausweichliche Wendung vom Schlechten zum Schlimmsten nimmt. Der Zeus auf diesem Olymp der bösen Götter ist wahrscheinlich der Erzähler der Romane von Sibylle Berg. Unter den etwas weniger Blitzgewaltigen findet sich der Erzähler von Bettina Gundermanns neuem Roman.
Schon in ihrem Debütroman "lines" von 2001 ließ sie ihren Ich-Erzähler sagen: "Nenn mich doch Gott", obwohl dieser, koksend und saufend, noch stark menschliche Züge hatte. Wenn nun in "Lysander" der Erzähler regelmäßig erklärt, daß Gott gerade schläft, daß es ihn nicht mehr gibt oder daß die Schutzengel längst fortgegangen sind, dann ist das nur ein Taschenspielertrick, ein Ablenkungsmanöver, ist es doch der böse Gott selbst, der uns die Geschichte erzählt. Und diesmal ist der Gott ein nüchterner, was ihn kaum weniger schrecklich macht, im Gegenteil. "Gott liebt alle Kinder" steht im Speisesaal des Heims, in dem Lysander aufwächst, doch das muß eine grausame Liebe sein. Gundermanns zeitgenössisch aktualisierte Anti-Märchenwelt ist ein vom bösen Willen beseelter Erzählkosmos, diesseitiges Inferno und epische Moritat, und Kinder werden schon gleich gar nicht geschont.
Keine der drei Hauptfiguren hatte jemals auch nur eine Chance gehabt. Lysander wurde von seiner Mutter kurz nach der Geburt verbrannt. Er überlebt und bleibt für den Rest seines Lebens so schrecklich entstellt, daß ihn niemand ohne Ekel betrachten kann. Seine Mutter erhängt sich im Gefängnis, und Lysander wächst im Heim auf, von allen gehaßt und gemieden, bis er Riccardo trifft. Riccardo ist der erste, der normal mit Lysander umgeht, denn er ist, wie er selbst sagt, "den Anblick von Häßlichkeit gewohnt". Äußerlich von strahlender Schönheit, lauern in seinem Inneren ungute Abgründe. Riccardo mußte als Fünfjähriger dabei zusehen, wie Unbekannte seine Mutter mehrfach vergewaltigten, ihr die Zunge herausschnitten und die Augen ausstachen. Der Vater wandert ins Irrenhaus, und Riccardo wächst bei Pflegeeltern auf, bis er mit zwölf ein Gewehr nimmt und damit in einem Einkaufszentrum wahllos mehrere Menschen erschießt.
Vergleichsweise harmlos ist dagegen die Geschichte von Kira. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben, eine Schuld, von der sie sich ihr ganzes Leben lang nicht befreien kann. Riccardo trifft Kira, als sie schwer verletzt und blutend auf der Straße liegt. Sie wurde angefahren, der Fahrer hat nicht einmal angehalten, ein weiterer Beweis für Kiras Glauben, daß manche Menschen sie nicht sehen können, so wie ihr Vater. Riccardo ist mittlerweile aus dem Heim entlassen, ein Jahr nach Lysander, nun leben sie gemeinsam in einer Wohnung. Während Lysander diese schützende Hülle nie verläßt, treibt es Riccardo nach draußen, um die Leere mit Leben zu füllen, mit beruflichem Erfolg und mit Frauen. Dann rettet er Kira, und für eine Weile scheint es für die beiden Ruhe zu geben, doch da weiß der Leser längst, daß Glück in dieser Welt nicht von Dauer sein kann.
Riccardo und Lysander sind als Spiegelfiguren angelegt, wo der eine hinter einer äußerlich blendenden Fassade schwarzen Haß in sich trägt, verwehrt der abscheuerregende Anblick Lysanders den Blick auf die Musik, die in seinem Kopf spielt. Man muß ihn sich daher als eine Mischung aus dem Freddy Krüger der "Nightmare on Elm Street"-Filme und Elias Alder aus "Schlafes Bruder" vorstellen, ein mit Brandnarben bedecktes musikalisches Naturgenie, dessen Melodien, gesummt oder auf dem Klavier gespielt, jeden in seinem Innersten berühren, der sie zufällig zu hören bekommt. Auch Kira verliebt sich in diese Musik, als Riccardo sie mit nach Hause nimmt und sorgfältig darauf achtet, daß sie Lysander niemals zu Gesicht bekommt. Im Gegenzug verliebt sich Lysander in ihre Stimme, ihren Geruch, oder einfach nur die Vorstellung von ihr. Als Riccardo schließlich mit ihr wegzieht, verliert Lysander damit alles und konsequenterweise auch seine Musik und schrittweise alles Menschliche. Er flieht in den Wald und vertiert dort, ohne sterben zu können.
"Lysander" ist kein realistischer Roman, sondern die Konstruktion einer archetypischen Wirklichkeit, die sich am Negativen berauscht. Auch wenn die Verhaltensweisen der Figuren geradezu klinisch exakt den Symptomen von posttraumatischen Belastungsstörungen entsprechen, würde es zu kurz greifen, hier nur ein Ausfabulieren psychologischer Befunde zu sehen. Die Reaktionen mögen einer vorgegebenen psychologischen Mechanik folgen, doch der Sinn, der daraus konstruiert wird, ist ein unerbittliches Uhrwerk höherer Ordnung.
Man muß Bettina Gundermann lassen, daß sie auch die Sprache findet, die zu alldem paßt. Sie ist, gerade in ihrer Schlichtheit, von archaischer Gewalt, ohne die gewollt wirkenden Archaismen eines Robert Schneider. Ganz frei von Manierismen ist sie allerdings auch nicht, wie man schon den ersten Sätzen entnehmen kann: "Lysander wurde im Dreck geboren. Die ersten zwei Wochen hielt er seine Augen geschlossen. Er mochte nicht das Licht."
Bis in die letzte Formulierung ist Gundermanns Sprache darauf ausgerichtet, Absolutheit zu erzeugen, in diesem Fall absolute Ausweglosigkeit. Sie reproduziert den manischen Gestus ihrer sich zunehmend in die eigenen Wahnvorstellungen hineinsteigernden Protagonisten, indem sie Wörter, Sätze und Bilder wiederholt, immer wieder und in immer schnellerem Rhythmus, bis auch die Erzählerstimme Teil des um sich selbst kreisenden Wahnsinns geworden ist. Selbst der Schöpfer entkommt seiner Schöpfung nicht, und man legt das Buch schließlich mit gehöriger Achtung vor dem metaphysischen Zerstörungswillen der Autorin aus der Hand, allerdings nicht ohne Zweifel am Sinn des ganzen Unterfangens.
Denn auch wenn man zu verstehen glaubt, was die Autorin wollte, und auch, wie sie das ausdrücken wollte, hat man es nur bedingt mitgefühlt. Sie bedient sich ausgiebig aus der Büchse der Pandora, teilt Leid, Schmerz, Krankheit und Tod mit vollen Händen aus, nur das, was ganz zuunterst lag, das Schrecklichste, das hat sie vergessen: die Hoffnung. Erst die Hoffnung auf Besserung aber macht den Schrecken wirklich schrecklich, doch auch wenn es in "Lysander" nominell Hoffnung gibt, ist sie doch schon immer so vorhersehbar zum Scheitern verurteilt, daß sie ihre Wirkung nie wirklich entfalten kann. In die Perspektive eines grausamen Gottes gezwungen, kann man kaum anders, als die leidenden Menschen in ihrem Jammertal mit einer gewissen olympischen Teilnahmslosigkeit zu betrachten.
SEBASTIAN DOMSCH.
Bettina Gundermann: "Lysander". Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2005. 152 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom bösen Gott: Bettina Gundermann läßt alle Hoffnung fahren
Jeder Erzähler ist der uneingeschränkte Gott der von ihm erschaffenen Welt, und manchmal kann ein solcher Gott sehr grausam sein. Dann errichtet er eine Welt aus Schmerz, Haß und Häßlichkeit, in der die Freude, die Liebe und die Schönheit nur als verstärkender Kontrast dienen und alles seine unausweichliche Wendung vom Schlechten zum Schlimmsten nimmt. Der Zeus auf diesem Olymp der bösen Götter ist wahrscheinlich der Erzähler der Romane von Sibylle Berg. Unter den etwas weniger Blitzgewaltigen findet sich der Erzähler von Bettina Gundermanns neuem Roman.
Schon in ihrem Debütroman "lines" von 2001 ließ sie ihren Ich-Erzähler sagen: "Nenn mich doch Gott", obwohl dieser, koksend und saufend, noch stark menschliche Züge hatte. Wenn nun in "Lysander" der Erzähler regelmäßig erklärt, daß Gott gerade schläft, daß es ihn nicht mehr gibt oder daß die Schutzengel längst fortgegangen sind, dann ist das nur ein Taschenspielertrick, ein Ablenkungsmanöver, ist es doch der böse Gott selbst, der uns die Geschichte erzählt. Und diesmal ist der Gott ein nüchterner, was ihn kaum weniger schrecklich macht, im Gegenteil. "Gott liebt alle Kinder" steht im Speisesaal des Heims, in dem Lysander aufwächst, doch das muß eine grausame Liebe sein. Gundermanns zeitgenössisch aktualisierte Anti-Märchenwelt ist ein vom bösen Willen beseelter Erzählkosmos, diesseitiges Inferno und epische Moritat, und Kinder werden schon gleich gar nicht geschont.
Keine der drei Hauptfiguren hatte jemals auch nur eine Chance gehabt. Lysander wurde von seiner Mutter kurz nach der Geburt verbrannt. Er überlebt und bleibt für den Rest seines Lebens so schrecklich entstellt, daß ihn niemand ohne Ekel betrachten kann. Seine Mutter erhängt sich im Gefängnis, und Lysander wächst im Heim auf, von allen gehaßt und gemieden, bis er Riccardo trifft. Riccardo ist der erste, der normal mit Lysander umgeht, denn er ist, wie er selbst sagt, "den Anblick von Häßlichkeit gewohnt". Äußerlich von strahlender Schönheit, lauern in seinem Inneren ungute Abgründe. Riccardo mußte als Fünfjähriger dabei zusehen, wie Unbekannte seine Mutter mehrfach vergewaltigten, ihr die Zunge herausschnitten und die Augen ausstachen. Der Vater wandert ins Irrenhaus, und Riccardo wächst bei Pflegeeltern auf, bis er mit zwölf ein Gewehr nimmt und damit in einem Einkaufszentrum wahllos mehrere Menschen erschießt.
Vergleichsweise harmlos ist dagegen die Geschichte von Kira. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben, eine Schuld, von der sie sich ihr ganzes Leben lang nicht befreien kann. Riccardo trifft Kira, als sie schwer verletzt und blutend auf der Straße liegt. Sie wurde angefahren, der Fahrer hat nicht einmal angehalten, ein weiterer Beweis für Kiras Glauben, daß manche Menschen sie nicht sehen können, so wie ihr Vater. Riccardo ist mittlerweile aus dem Heim entlassen, ein Jahr nach Lysander, nun leben sie gemeinsam in einer Wohnung. Während Lysander diese schützende Hülle nie verläßt, treibt es Riccardo nach draußen, um die Leere mit Leben zu füllen, mit beruflichem Erfolg und mit Frauen. Dann rettet er Kira, und für eine Weile scheint es für die beiden Ruhe zu geben, doch da weiß der Leser längst, daß Glück in dieser Welt nicht von Dauer sein kann.
Riccardo und Lysander sind als Spiegelfiguren angelegt, wo der eine hinter einer äußerlich blendenden Fassade schwarzen Haß in sich trägt, verwehrt der abscheuerregende Anblick Lysanders den Blick auf die Musik, die in seinem Kopf spielt. Man muß ihn sich daher als eine Mischung aus dem Freddy Krüger der "Nightmare on Elm Street"-Filme und Elias Alder aus "Schlafes Bruder" vorstellen, ein mit Brandnarben bedecktes musikalisches Naturgenie, dessen Melodien, gesummt oder auf dem Klavier gespielt, jeden in seinem Innersten berühren, der sie zufällig zu hören bekommt. Auch Kira verliebt sich in diese Musik, als Riccardo sie mit nach Hause nimmt und sorgfältig darauf achtet, daß sie Lysander niemals zu Gesicht bekommt. Im Gegenzug verliebt sich Lysander in ihre Stimme, ihren Geruch, oder einfach nur die Vorstellung von ihr. Als Riccardo schließlich mit ihr wegzieht, verliert Lysander damit alles und konsequenterweise auch seine Musik und schrittweise alles Menschliche. Er flieht in den Wald und vertiert dort, ohne sterben zu können.
"Lysander" ist kein realistischer Roman, sondern die Konstruktion einer archetypischen Wirklichkeit, die sich am Negativen berauscht. Auch wenn die Verhaltensweisen der Figuren geradezu klinisch exakt den Symptomen von posttraumatischen Belastungsstörungen entsprechen, würde es zu kurz greifen, hier nur ein Ausfabulieren psychologischer Befunde zu sehen. Die Reaktionen mögen einer vorgegebenen psychologischen Mechanik folgen, doch der Sinn, der daraus konstruiert wird, ist ein unerbittliches Uhrwerk höherer Ordnung.
Man muß Bettina Gundermann lassen, daß sie auch die Sprache findet, die zu alldem paßt. Sie ist, gerade in ihrer Schlichtheit, von archaischer Gewalt, ohne die gewollt wirkenden Archaismen eines Robert Schneider. Ganz frei von Manierismen ist sie allerdings auch nicht, wie man schon den ersten Sätzen entnehmen kann: "Lysander wurde im Dreck geboren. Die ersten zwei Wochen hielt er seine Augen geschlossen. Er mochte nicht das Licht."
Bis in die letzte Formulierung ist Gundermanns Sprache darauf ausgerichtet, Absolutheit zu erzeugen, in diesem Fall absolute Ausweglosigkeit. Sie reproduziert den manischen Gestus ihrer sich zunehmend in die eigenen Wahnvorstellungen hineinsteigernden Protagonisten, indem sie Wörter, Sätze und Bilder wiederholt, immer wieder und in immer schnellerem Rhythmus, bis auch die Erzählerstimme Teil des um sich selbst kreisenden Wahnsinns geworden ist. Selbst der Schöpfer entkommt seiner Schöpfung nicht, und man legt das Buch schließlich mit gehöriger Achtung vor dem metaphysischen Zerstörungswillen der Autorin aus der Hand, allerdings nicht ohne Zweifel am Sinn des ganzen Unterfangens.
Denn auch wenn man zu verstehen glaubt, was die Autorin wollte, und auch, wie sie das ausdrücken wollte, hat man es nur bedingt mitgefühlt. Sie bedient sich ausgiebig aus der Büchse der Pandora, teilt Leid, Schmerz, Krankheit und Tod mit vollen Händen aus, nur das, was ganz zuunterst lag, das Schrecklichste, das hat sie vergessen: die Hoffnung. Erst die Hoffnung auf Besserung aber macht den Schrecken wirklich schrecklich, doch auch wenn es in "Lysander" nominell Hoffnung gibt, ist sie doch schon immer so vorhersehbar zum Scheitern verurteilt, daß sie ihre Wirkung nie wirklich entfalten kann. In die Perspektive eines grausamen Gottes gezwungen, kann man kaum anders, als die leidenden Menschen in ihrem Jammertal mit einer gewissen olympischen Teilnahmslosigkeit zu betrachten.
SEBASTIAN DOMSCH.
Bettina Gundermann: "Lysander". Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2005. 152 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wirklich begeistert ist Meike Fessmann von diesem grausamen "Märchen", das Bettina Gundermann in ihrem zweiten Roman erzählt, nicht, aber die Rezensentin kann sich einer gewissen Faszination trotzdem nicht erwehren. Deutlich ist für sie das "Vergnügen" Gundermanns an schaurigen und brutalen Details, mit denen sie die Existenz ihres Protagonisten Lysander, einem misshandelten, entstellten Menschen, umreißt. Am Schicksal der Hauptfigur wird die "Urangst vor dem Verlassenwerden" durchdekliniert und die "Vergeblichkeit" allen Hoffens auf eine glückliche Wendung im Leben Lysanders vorgeführt, erklärt die Rezensentin. Allerdings macht dies beim Lesen nicht immer Freude, zudem spürt man an der "inszenierten Grausamkeit" mitunter allzu sehr das "Kunstgewerbe", kritisiert Fessmann. Dennoch nimmt die Rezensentin an diesem Roman eine "Kraft" wahr, deren "Herkunft man sich" zwar "nicht erklären kann", die aber dennoch Eindruck macht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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