»Das Buch ist eine Wucht. Es ist sprachmächtig, bildgewaltig, energiegeladen.«
Jan Fleischhauer, Das Literarische Quartett, Juni 2020
Sechs Jahre braucht Benito Mussolini, um zum einflussreichsten Politiker im krisengeschüttelten Nachkriegsitalien zu werden. Sechs Jahre, um den Faschismus als Staatstheorie zu verankern und ein autoritäres Regime zu implementieren. Ein Roman wie ein Spiegel europäischer Geschichte - und ein Mahnmal gegen die Rückkehr des Faschismus in Europa.
Ausgezeichnet mit dem Premio Strega
»Seine Detailgenauigkeit, die das allmähliche Kippen der politischen Lage zum Vorschein bringt, macht ihn lesenswert und oft verblüffend aktuell.«
Jutta Person, Die Zeit, 20.02.2020
»Der Roman, auf den Italien seit Jahrzehnten gewartet hat. Ein Meisterwerk.« Roberto Saviano
Im Jahr 1919 gleicht Italien einem politischen Trümmerfeld. Der Erste Weltkrieg hat die italienische Regierung massiv geschwächt, sozialistische wie rechtsnationale Gruppen erleben einen noch nie dagewesenen Aufstieg und stellen politische Institutionen radikal in Frage, während frustrierte Kriegsheimkehrer durch die Straßen des Landes ziehen. Getrieben von ihrem Unmut lassen sich die ehemaligen Kämpfer bald von einem Mann einen, der sie zu gemeinsamen Aktionen gegen die politische Linke aufruft: Benito Mussolini, Gründer des Il Popolo d'Italia und ehemaliger Chef des linksextremen Flügels der sozialistischen Partei Italiens. Dem Fünfunddreißigjährigen gelingt es, sich in Zeiten politischer Unsicherheit Gehör zu verschaffen und unterschiedlichste Gruppierungen unter einem gemeinsamen Banner zu versammeln. Bis zum berühmten Marsch auf Rom 1922 und darüber hinaus wird Mussolini seine Macht in Italien rasant ausbauen und den Faschismus als Staatsideologie unwiderruflich festschreiben.
Stimmen zum Buch
»Scuratis 'M.' ist eine beispiellose Auseinandersetzung mit dem Erbe Mussolinis.«Variety
»Eine Lehrstunde des Antifaschismus.«
The New York Times
»Ein Buch, das es so in der literarische Kultur Italiens noch nie gegeben hat.«
La Repubblica
Jan Fleischhauer, Das Literarische Quartett, Juni 2020
Sechs Jahre braucht Benito Mussolini, um zum einflussreichsten Politiker im krisengeschüttelten Nachkriegsitalien zu werden. Sechs Jahre, um den Faschismus als Staatstheorie zu verankern und ein autoritäres Regime zu implementieren. Ein Roman wie ein Spiegel europäischer Geschichte - und ein Mahnmal gegen die Rückkehr des Faschismus in Europa.
Ausgezeichnet mit dem Premio Strega
»Seine Detailgenauigkeit, die das allmähliche Kippen der politischen Lage zum Vorschein bringt, macht ihn lesenswert und oft verblüffend aktuell.«
Jutta Person, Die Zeit, 20.02.2020
»Der Roman, auf den Italien seit Jahrzehnten gewartet hat. Ein Meisterwerk.« Roberto Saviano
Im Jahr 1919 gleicht Italien einem politischen Trümmerfeld. Der Erste Weltkrieg hat die italienische Regierung massiv geschwächt, sozialistische wie rechtsnationale Gruppen erleben einen noch nie dagewesenen Aufstieg und stellen politische Institutionen radikal in Frage, während frustrierte Kriegsheimkehrer durch die Straßen des Landes ziehen. Getrieben von ihrem Unmut lassen sich die ehemaligen Kämpfer bald von einem Mann einen, der sie zu gemeinsamen Aktionen gegen die politische Linke aufruft: Benito Mussolini, Gründer des Il Popolo d'Italia und ehemaliger Chef des linksextremen Flügels der sozialistischen Partei Italiens. Dem Fünfunddreißigjährigen gelingt es, sich in Zeiten politischer Unsicherheit Gehör zu verschaffen und unterschiedlichste Gruppierungen unter einem gemeinsamen Banner zu versammeln. Bis zum berühmten Marsch auf Rom 1922 und darüber hinaus wird Mussolini seine Macht in Italien rasant ausbauen und den Faschismus als Staatsideologie unwiderruflich festschreiben.
Stimmen zum Buch
»Scuratis 'M.' ist eine beispiellose Auseinandersetzung mit dem Erbe Mussolinis.«Variety
»Eine Lehrstunde des Antifaschismus.«
The New York Times
»Ein Buch, das es so in der literarische Kultur Italiens noch nie gegeben hat.«
La Repubblica
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.02.2020Die Käsefuß-Taktik
Macht, Eros, Männlichkeit: Antonio Scurati legt den ersten Band
seiner monumentalen Mussolini-Trilogie vor
VON MAIKE ALBATH
Was für ein Mannsbild. Morgens um sieben steht er auf dem Fechtboden. Ein paar Stunden später sieht man ihn durch die Villa Borghese galoppieren. Stattlicher Körperbau, markanter Unterkiefer, herrische Gesten, erotisch unersättlich. Er posiert gern mit freiem Oberkörper. Und sobald er die Stimme erhebt, kennt sein Charisma keine Grenzen. Benito Mussolini galt als notorischer Verführer. Er hat nicht nur seine Ehefrau Rachele, die jüdische Salonniere Margherita Sarfatti, seine minderjährige Sekretärin Bianca Ceccato und etliche weitere Gefährtinnen beglückt, sondern ein ganzes Land. Ihm erlagen schließlich sogar die Liberalen. Die Industriellen wickelte er um den Finger, die linke Opposition wurde mit Terror still gestellt. Nachdem seine Schergen im Juni 1924 den sozialistischen Abgeordneten Matteotti ermordet hatten und niemand es wagte, den Verfassungsartikel Nummer 47 anzuwenden, der eine Anklage des Ministerpräsidenten erlaubt hätte, war der Umbau Italiens zur Diktatur endgültig besiegelt. Mit seinem Aufstieg vom abgehalfterten Grundschullehrer zum Duce hat Mussolini nicht nur Historikern, sondern auch Romanciers viel zu bieten, scheint sich der Schriftsteller Antonio Scurati gedacht haben, der als Medientheoretiker über die Sprache der Gewalt geforscht hat.
Oder war die Zeit ganz einfach reif? Schließlich geistert Mussolini wie ein Untoter durch die italienische Geschichte. Längst zitieren Silvio Berlusconi, Donald Trump und Matteo Salvini unverblümt aus seinen Reden, Wladimir Putin und selbst Björn Höcke operieren mit Anklängen an diesen Prototypen.
„M. Der Sohn des Jahrhunderts“ nennt Scurati, Jahrgang 1969, Dozent des Masterstudiengangs „Künste des Erzählens“ an der International University of Language and Media in Mailand, erprobter Autor und für sein Interesse an brisanten Stoffen bekannt, seinen Roman. In seiner Kolosshaftigkeit steht Scuratis Buch dem Protagonisten in nichts nach. Die 830 Seiten umfassen die Jahre 1919 bis 1924, die Schlussvolte gehört Mussolinis martialischem Auftritt in der Abgeordnetenkammer am 3. Januar 1925. Und dies ist erst der Anfang: Das Ganze ist als Trilogie angelegt, deren Zielpunkt das schauerliche Ende des Diktators als verstümmelter Leichnam auf dem Piazzale Loreto 1945 sein soll. Scurati geht chronologisch vor, gliedert den ersten Band in fünf Teile und nennt vor jedem Kapitel den Schauplatz, das Datum und den Hauptakteur der Episode. Die Kapitel sind eher kurz und als formaler Kontrapunkt zum panoramatischen Zugriff gedacht. Mussolini steht zwar im Zentrum, aber der Autor nimmt sein gesamtes Umfeld in den Blick: Weggenossen, Freundinnen, Gegner, Verwandte, insgesamt über siebzig Figuren. Der gefeierte Dichter Gabriele D’Annunzio kommt ebenso vor wie Mussolinis ältere Geliebte Margherita Sarfatti, die ihrem ungehobelten Gefährten Manieren beibrachte. Wie Belege sind den Kapiteln knappe Auszüge aus Dokumenten nachgestellt: Zitate aus Zeitungsartikeln, Parlamentsreden, Telegrammen, Geheimdienstberichten, Briefen.
Mussolini als Zentralgestirn, als Inbegriff des 20. Jahrhunderts, besitzt das nicht identifikatorisches Potenzial, droht womöglich eine Ikonisierung? Antonio Scurati bemüht sich um eine gegenläufige Bewegung und hat ein paar Sicherungen eingebaut: Er installiert einen auktorialen Erzähler und erteilt seinem Haupthelden nur auf den ersten vier Seiten das Wort. Zwar arbeitet er dann und wann mit inneren Monologen und lässt den Leser teilhaben an Mussolinis Wahrnehmungen, aber er verfällt gerade nicht auf den Fehler von Jonathan Littell, der sich in seinem Roman „Die Wohlgesinnten“ (2008) über die Ich-Perspektive des erfundenen SS-Mannes Max Aue in ein monströses Theater der Grausamkeiten hineinsteigerte. Scurati reichert seine Kapitel mitunter fiktional an, nutzt aber eine Fülle von O-Tönen und Zeitzeugenberichten und hat sich historisch vielfach abgesichert. Die Entstehung der faschistischen Bewegung wird gerade nicht nur aus Mussolinis Warte geschildert, sondern auf eine ganze Serie von Figuren verteilt, genau wie der Umbau zur Partei, die Gewaltattacken der Schlägertrupps, der Marsch auf Rom, die Aktionen der Sozialisten und die Winkelzüge der ewig lavierenden Regierung.
Ein wichtiger Erzählstrang gehört Gabriele D’Annunzio, eine Art Popstar der Jahrhundertwende, der mit der Rede vom „verstümmelten Sieg“ Italiens im Ersten Weltkrieg seine Getreuen mobilisierte, in einem Handstreich die Hafenstadt Fiume besetzte und Mussolini in seiner gesamten Selbstinszenierung zum Vorbild wurde. Ein Verdienst Scuratis ist, dass er den perfiden Mechanismus eines gesellschaftlichen Umbruchs vermittelt – Mussolini war zwar ein hochintelligenter Taktiker und begabter Journalist, der Stimmungen anfachte und zu kanalisieren wusste, aber es waren viele verschiedene Gruppen und Personen, die ihm zum Erfolg verhalfen. Die arbeitslosen, gewaltgewohnten Kriegsveteranen hatten ebenso ihren Anteil wie die verunsicherten bürgerlichen Schichten.
Durch die multiperspektivische Aufsplitterung vermittelt Scurati, in wie viele Richtungen sich die Geschehnisse hätten entwickeln können: Die sozialistische Partei fuhr 1919 einen haushohen Wahlsieg ein und stellte die meisten Parlamentarier, zerrieb sich dann aber in inneren Zwists. Die Stimmung auf den Straßen war aufgeladen. Es kam zu Streiks und Fabrikbesetzungen, sodass die Unternehmer eine bolschewistische Revolution fürchteten. Mussolini predigte die von D’Annunzio übernommene Ideologie der Tat und verachtete die Liberalen. Ausgerechnet sie verhalfen ihm schließlich zur Macht. Scurati illustriert den Stimmungsumschwung mit einer markanten Szene, wie nämlich Mussolini am 24. Oktober 1922 bei einem Auftritt im neapolitanischen Teatro San Carlo vor siebentausend Zuschauern sogar den Philosophen Benedetto Croce überzeugte. Der Anführer der Faschisten schien das kleinere Übel und ein Garant für die öffentliche Ordnung zu sein.
Was diese Aspekte angeht, hat Antonio Scuratis Koloss also durchaus seine Berechtigung und gewinnt in Verena von Koskulls fabelhafter Übersetzung auch im deutschen Kontext sogar noch an Brisanz. Sein Unterfangen sei aus dem Geist des Antifaschismus entstanden, beteuerte der Schriftsteller, der bereits eine Fernsehserie plant. Er habe den Italienern einen Spiegel vorhalten wollen, was ihm angesichts der Popularität eines Matteo Salvini notwendig schien. Kalkül wird auch im Spiel gewesen sein, zumal bei einem Medienwissenschaftler wie Scurati. In Italien war „M. Der Sohn des Jahrhunderts“, 2019 mit dem wichtigsten Literaturpreis Premio Strega ausgezeichnet, dann auch ein großer Erfolg und stand wochenlang auf der Bestsellerliste. Als didaktische Operation mag es seine Berechtigung haben, als Roman funktioniert das Unterfangen trotz der dokumentarischen Fleißarbeit nur bedingt. Denn obwohl die Geschehnisse derartig dramatisch sind, hapert es vor allem in der ersten Hälfte an einer narrativen Durchdringung – das Buch entfaltet schlichtweg keine Dynamik. Es ist zu kleinteilig. Gerade weil Scurati bewusst jedes Gemetzel detailgenau rapportiert, entwickeln die Schilderungen etwas Serielles. Die einzelnen Ereignisse verlieren an Schrecken und werten sich gegenseitig ab. Der Verfasser scheint um diese Gefahr zu wissen und schlägt deshalb vor allem zu Beginn der Kapitel einen behäbigen Tonfall an, der direkt aus dem 19. Jahrhundert herüber zu schallen scheint. Da hängt Nebel über der Poebene oder ein Telefonklingeln zerreißt das gleichmäßige Rattern der Druckwalzen oder der Likör ist dickflüssig und hat eine dunkle Farbe. Eine Beschränkung auf wenige Schlüsselfiguren, wie die schillernde Margherita Sarfatti, den furchtlosen Gegner Giacomo Matteotti oder den kaltblütigen Italo Balbo wäre in literarischer Hinsicht wirkungsvoller gewesen und hätte die Wahrnehmung Mussolinis aus der Halbdistanz erlaubt.
Stattdessen kriecht Scurati dem Diktator dann doch immer wieder in die Unterhose, berichtet von Spermatropfen, dichtet ihm Gelüste auf junge Chinesinnen an und beschreibt, wie sich in seinem Zimmer im Hotel Londra in Rom kurz vor seinem endgütltigen Triumph ein unerträglicher Schweißgeruch verbreitet. Der Diktator litt unter Käsefüßen. Aber mit dieser Käsefuß-Taktik kommt Antonio Scurati der Abgründigkeit seines Protagonisten eben doch nicht nahe. Der Schriftsteller Carlo Emilio Gadda, in frühen Jahren selbst ein Anhänger Mussolinis, hatte in seinem gegen Ende des Krieges geschriebenen grotesken Essay „Eros und Priapos“, der 1967 stark bearbeitet erschien und erst 2016 in einer unzensierter Fassung neu herauskam, den Charakter des syphilitischen Zwangsvirilen und seine Wirkung auf die Italiener sehr viel besser erfasst und den Faschismus als eine „Ära des Schwanzes“ apostrophiert. Aber Scurati will mehr, er will das gesamte Zeitalter erklären. Allein durch den enormen Umfang seines Werks und der noch folgenden Bände kokettiert Antonio Scurati dann doch mit dem Faszinosum Mussolinis. Das Monumentale birgt eben immer auch Gefahren.
Antonio Scurati: M. Sohn des Jahrhunderts. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Klett Cotta, Stuttgart 2020, 830 Seiten, 32 Euro.
In seiner Kolosshaftigkeit steht
Scuratis Buch dem
Protagonisten in nichts nach
Schon 1967 nannte Carlo
Emilio Gadda den Faschismus
die „Ära des Schwanzes“
Beim Führer: Italienische Faschisten an Mussolinis Grab.
Foto: afp
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Macht, Eros, Männlichkeit: Antonio Scurati legt den ersten Band
seiner monumentalen Mussolini-Trilogie vor
VON MAIKE ALBATH
Was für ein Mannsbild. Morgens um sieben steht er auf dem Fechtboden. Ein paar Stunden später sieht man ihn durch die Villa Borghese galoppieren. Stattlicher Körperbau, markanter Unterkiefer, herrische Gesten, erotisch unersättlich. Er posiert gern mit freiem Oberkörper. Und sobald er die Stimme erhebt, kennt sein Charisma keine Grenzen. Benito Mussolini galt als notorischer Verführer. Er hat nicht nur seine Ehefrau Rachele, die jüdische Salonniere Margherita Sarfatti, seine minderjährige Sekretärin Bianca Ceccato und etliche weitere Gefährtinnen beglückt, sondern ein ganzes Land. Ihm erlagen schließlich sogar die Liberalen. Die Industriellen wickelte er um den Finger, die linke Opposition wurde mit Terror still gestellt. Nachdem seine Schergen im Juni 1924 den sozialistischen Abgeordneten Matteotti ermordet hatten und niemand es wagte, den Verfassungsartikel Nummer 47 anzuwenden, der eine Anklage des Ministerpräsidenten erlaubt hätte, war der Umbau Italiens zur Diktatur endgültig besiegelt. Mit seinem Aufstieg vom abgehalfterten Grundschullehrer zum Duce hat Mussolini nicht nur Historikern, sondern auch Romanciers viel zu bieten, scheint sich der Schriftsteller Antonio Scurati gedacht haben, der als Medientheoretiker über die Sprache der Gewalt geforscht hat.
Oder war die Zeit ganz einfach reif? Schließlich geistert Mussolini wie ein Untoter durch die italienische Geschichte. Längst zitieren Silvio Berlusconi, Donald Trump und Matteo Salvini unverblümt aus seinen Reden, Wladimir Putin und selbst Björn Höcke operieren mit Anklängen an diesen Prototypen.
„M. Der Sohn des Jahrhunderts“ nennt Scurati, Jahrgang 1969, Dozent des Masterstudiengangs „Künste des Erzählens“ an der International University of Language and Media in Mailand, erprobter Autor und für sein Interesse an brisanten Stoffen bekannt, seinen Roman. In seiner Kolosshaftigkeit steht Scuratis Buch dem Protagonisten in nichts nach. Die 830 Seiten umfassen die Jahre 1919 bis 1924, die Schlussvolte gehört Mussolinis martialischem Auftritt in der Abgeordnetenkammer am 3. Januar 1925. Und dies ist erst der Anfang: Das Ganze ist als Trilogie angelegt, deren Zielpunkt das schauerliche Ende des Diktators als verstümmelter Leichnam auf dem Piazzale Loreto 1945 sein soll. Scurati geht chronologisch vor, gliedert den ersten Band in fünf Teile und nennt vor jedem Kapitel den Schauplatz, das Datum und den Hauptakteur der Episode. Die Kapitel sind eher kurz und als formaler Kontrapunkt zum panoramatischen Zugriff gedacht. Mussolini steht zwar im Zentrum, aber der Autor nimmt sein gesamtes Umfeld in den Blick: Weggenossen, Freundinnen, Gegner, Verwandte, insgesamt über siebzig Figuren. Der gefeierte Dichter Gabriele D’Annunzio kommt ebenso vor wie Mussolinis ältere Geliebte Margherita Sarfatti, die ihrem ungehobelten Gefährten Manieren beibrachte. Wie Belege sind den Kapiteln knappe Auszüge aus Dokumenten nachgestellt: Zitate aus Zeitungsartikeln, Parlamentsreden, Telegrammen, Geheimdienstberichten, Briefen.
Mussolini als Zentralgestirn, als Inbegriff des 20. Jahrhunderts, besitzt das nicht identifikatorisches Potenzial, droht womöglich eine Ikonisierung? Antonio Scurati bemüht sich um eine gegenläufige Bewegung und hat ein paar Sicherungen eingebaut: Er installiert einen auktorialen Erzähler und erteilt seinem Haupthelden nur auf den ersten vier Seiten das Wort. Zwar arbeitet er dann und wann mit inneren Monologen und lässt den Leser teilhaben an Mussolinis Wahrnehmungen, aber er verfällt gerade nicht auf den Fehler von Jonathan Littell, der sich in seinem Roman „Die Wohlgesinnten“ (2008) über die Ich-Perspektive des erfundenen SS-Mannes Max Aue in ein monströses Theater der Grausamkeiten hineinsteigerte. Scurati reichert seine Kapitel mitunter fiktional an, nutzt aber eine Fülle von O-Tönen und Zeitzeugenberichten und hat sich historisch vielfach abgesichert. Die Entstehung der faschistischen Bewegung wird gerade nicht nur aus Mussolinis Warte geschildert, sondern auf eine ganze Serie von Figuren verteilt, genau wie der Umbau zur Partei, die Gewaltattacken der Schlägertrupps, der Marsch auf Rom, die Aktionen der Sozialisten und die Winkelzüge der ewig lavierenden Regierung.
Ein wichtiger Erzählstrang gehört Gabriele D’Annunzio, eine Art Popstar der Jahrhundertwende, der mit der Rede vom „verstümmelten Sieg“ Italiens im Ersten Weltkrieg seine Getreuen mobilisierte, in einem Handstreich die Hafenstadt Fiume besetzte und Mussolini in seiner gesamten Selbstinszenierung zum Vorbild wurde. Ein Verdienst Scuratis ist, dass er den perfiden Mechanismus eines gesellschaftlichen Umbruchs vermittelt – Mussolini war zwar ein hochintelligenter Taktiker und begabter Journalist, der Stimmungen anfachte und zu kanalisieren wusste, aber es waren viele verschiedene Gruppen und Personen, die ihm zum Erfolg verhalfen. Die arbeitslosen, gewaltgewohnten Kriegsveteranen hatten ebenso ihren Anteil wie die verunsicherten bürgerlichen Schichten.
Durch die multiperspektivische Aufsplitterung vermittelt Scurati, in wie viele Richtungen sich die Geschehnisse hätten entwickeln können: Die sozialistische Partei fuhr 1919 einen haushohen Wahlsieg ein und stellte die meisten Parlamentarier, zerrieb sich dann aber in inneren Zwists. Die Stimmung auf den Straßen war aufgeladen. Es kam zu Streiks und Fabrikbesetzungen, sodass die Unternehmer eine bolschewistische Revolution fürchteten. Mussolini predigte die von D’Annunzio übernommene Ideologie der Tat und verachtete die Liberalen. Ausgerechnet sie verhalfen ihm schließlich zur Macht. Scurati illustriert den Stimmungsumschwung mit einer markanten Szene, wie nämlich Mussolini am 24. Oktober 1922 bei einem Auftritt im neapolitanischen Teatro San Carlo vor siebentausend Zuschauern sogar den Philosophen Benedetto Croce überzeugte. Der Anführer der Faschisten schien das kleinere Übel und ein Garant für die öffentliche Ordnung zu sein.
Was diese Aspekte angeht, hat Antonio Scuratis Koloss also durchaus seine Berechtigung und gewinnt in Verena von Koskulls fabelhafter Übersetzung auch im deutschen Kontext sogar noch an Brisanz. Sein Unterfangen sei aus dem Geist des Antifaschismus entstanden, beteuerte der Schriftsteller, der bereits eine Fernsehserie plant. Er habe den Italienern einen Spiegel vorhalten wollen, was ihm angesichts der Popularität eines Matteo Salvini notwendig schien. Kalkül wird auch im Spiel gewesen sein, zumal bei einem Medienwissenschaftler wie Scurati. In Italien war „M. Der Sohn des Jahrhunderts“, 2019 mit dem wichtigsten Literaturpreis Premio Strega ausgezeichnet, dann auch ein großer Erfolg und stand wochenlang auf der Bestsellerliste. Als didaktische Operation mag es seine Berechtigung haben, als Roman funktioniert das Unterfangen trotz der dokumentarischen Fleißarbeit nur bedingt. Denn obwohl die Geschehnisse derartig dramatisch sind, hapert es vor allem in der ersten Hälfte an einer narrativen Durchdringung – das Buch entfaltet schlichtweg keine Dynamik. Es ist zu kleinteilig. Gerade weil Scurati bewusst jedes Gemetzel detailgenau rapportiert, entwickeln die Schilderungen etwas Serielles. Die einzelnen Ereignisse verlieren an Schrecken und werten sich gegenseitig ab. Der Verfasser scheint um diese Gefahr zu wissen und schlägt deshalb vor allem zu Beginn der Kapitel einen behäbigen Tonfall an, der direkt aus dem 19. Jahrhundert herüber zu schallen scheint. Da hängt Nebel über der Poebene oder ein Telefonklingeln zerreißt das gleichmäßige Rattern der Druckwalzen oder der Likör ist dickflüssig und hat eine dunkle Farbe. Eine Beschränkung auf wenige Schlüsselfiguren, wie die schillernde Margherita Sarfatti, den furchtlosen Gegner Giacomo Matteotti oder den kaltblütigen Italo Balbo wäre in literarischer Hinsicht wirkungsvoller gewesen und hätte die Wahrnehmung Mussolinis aus der Halbdistanz erlaubt.
Stattdessen kriecht Scurati dem Diktator dann doch immer wieder in die Unterhose, berichtet von Spermatropfen, dichtet ihm Gelüste auf junge Chinesinnen an und beschreibt, wie sich in seinem Zimmer im Hotel Londra in Rom kurz vor seinem endgütltigen Triumph ein unerträglicher Schweißgeruch verbreitet. Der Diktator litt unter Käsefüßen. Aber mit dieser Käsefuß-Taktik kommt Antonio Scurati der Abgründigkeit seines Protagonisten eben doch nicht nahe. Der Schriftsteller Carlo Emilio Gadda, in frühen Jahren selbst ein Anhänger Mussolinis, hatte in seinem gegen Ende des Krieges geschriebenen grotesken Essay „Eros und Priapos“, der 1967 stark bearbeitet erschien und erst 2016 in einer unzensierter Fassung neu herauskam, den Charakter des syphilitischen Zwangsvirilen und seine Wirkung auf die Italiener sehr viel besser erfasst und den Faschismus als eine „Ära des Schwanzes“ apostrophiert. Aber Scurati will mehr, er will das gesamte Zeitalter erklären. Allein durch den enormen Umfang seines Werks und der noch folgenden Bände kokettiert Antonio Scurati dann doch mit dem Faszinosum Mussolinis. Das Monumentale birgt eben immer auch Gefahren.
Antonio Scurati: M. Sohn des Jahrhunderts. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Klett Cotta, Stuttgart 2020, 830 Seiten, 32 Euro.
In seiner Kolosshaftigkeit steht
Scuratis Buch dem
Protagonisten in nichts nach
Schon 1967 nannte Carlo
Emilio Gadda den Faschismus
die „Ära des Schwanzes“
Beim Führer: Italienische Faschisten an Mussolinis Grab.
Foto: afp
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2020Das Bündnis der Schwätzer und der Schläger
Wie konnte der Faschismus an die Herrschaft kommen? Antonio Scuratis Roman "M"
Wenn sich aus diesem Buch, das auf 830 Seiten unglaublich viel zu erzählen hat, von fast unüberschaubar vielen Personen mit widersprüchlichen Motiven, Zielen und Empfindungen, wobei am widersprüchlichsten die Hauptfigur ist, Benito Mussolini, der sogenannte Führer der Faschisten, wenn sich aus diesem Buch trotzdem ein Fazit ziehen ließe, vielleicht sogar ein Ratschlag für die Leser von heute, dann wäre es womöglich dieser hier: Seid brav und fleißig, Leute, und habt keine Angst, für langweilig oder spießig zu gelten! Glaubt den Künstlern bloß nicht jedes Wort, und haltet Distanz zu allem, was der Bohème ähnlich sieht! Und mit Journalisten, die einen Hang zu großen Worten, starken Sätzen und ultimativen Forderungen haben, solltet ihr am besten nichts zu tun haben wollen.
Denn so, mit Künstlern, Bohemiens und Leuten, die nicht regelmäßig arbeiten wollten, hat das ja alles angefangen: mit Filippo Tommaso Marinetti, dem verrückten Futuristen, der sich vor die faschistischen Versammlungen stellte und Reden hielt, deren Zusammenhang die Hörer nicht recht verstanden. Nur dass hier von Größe und Krieg, von Männlichkeit und Zerstörung offensichtlich die Rede war. Mit Gabriele D'Annunzio, dem hochfahrenden Dichter, der kühn genug war, mit ein paar Männern das schöne Fiume zu erobern, jene italienischsprachige Hafenstadt, die aber nach dem Ersten Weltkrieg nicht den Italienern zugesprochen worden war. Und der dort eine Dichterdiktatur errichtete und das Volk feiern ließ, bis die Wirtschaft und die Moral der Stadt völlig aufgezehrt waren. Mit Margherita Sarfatti, der reichen Venezianerin, die nicht nur die Künste förderte, sondern auch einen derben Lehrer vom Land, dem sie beibrachte, ein Fischmesser zu gebrauchen, Fechten zu lernen und überhaupt sich selbst eine wiedererkennbare Form zu geben: jenen Benito Mussolini also, der, wenn das Buch beginnt, der Chefredakteur einer Zeitung namens "Il popolo d'Italia" ist und fast täglich sehr große Worte findet. Und der aber sonst nicht viel zustande bringt mit seiner Bewegung, in der sich die Enttäuschten und Zukurzgekommenen zusammenschließen, die Veteranen des Weltkriegs, die für Italien gekämpft hatten. Und gesiegt, wie sie jedenfalls selbst glauben. Und die es nicht fassen können, dass der Sieg sich wie eine Niederlage anfühlt. Kompromisse, nach innen wie nach außen. Wo sie doch Fiume wollen und die dalmatinische Küste dazu und reiche Kolonien. Und ein Italien, das Großmacht sein müsste und der Stolz eines jeden Italieners.
"M - Der Sohn des Jahrhunderts" heißt dieses Buch, das sein Autor, der Schriftsteller und Literaturdozent Antonio Scurati, einen Roman nennt, obwohl eigentlich alles, was er an manifesten Handlungen nacherzählt, jede Person, die darin vorkommt, verbürgt und dokumentiert ist. Fiktional daran ist, dass Scurati sich die Freiheit nimmt, sich gewissermaßen hineinzudenken und hineinzufühlen in die Köpfe seiner wichtigsten Figuren und aus deren Sicht die Dinge zu beschreiben. Was schon deshalb meistens stimmig wirkt und legitim ist, weil es hier um Menschen geht, deren ganze öffentliche Existenz ohne die Projektionen und Gefühle ihres Publikums nicht denkbar wäre. Insofern tut Scurati mit Mussolini, was auch dessen Zeitgenossen mit ihm taten: Er konstruiert und imaginiert sich einen Duce, nur eben aus der Sicht des 21. Jahrhundert, in der Hoffnung, dass er dabei etwas anderes, etwas Neues sieht.
Und fiktional ist das Buch, weil Scurati sich manchmal beim Schreiben nicht bremsen kann; und dann malt er seine dokumentarischen Szenen und die dazugehörigen Stimmungen endlos aus, in pastellenen Farben, was den Bildern nicht bekommt. Dann steigen Nebel auf über der Poebene, oder die Luft im Zimmer riecht nach Wollust. Es sind die schwächsten Momente in diesem Buch. Man kann sie aber überblättern.
Denn ums Wetter geht es nur insofern, als die typisch deutsche Annahme, dass unter dem hellen Himmel Italiens die Barbarei geringere Entfaltungsmöglichkeiten habe, von der Erzählung leider dementiert wird. Und um Sex nur insofern, als die erotische Unersättlichkeit Mussolinis zur Kenntnis genommen wird. Zur Verführung als politischer Strategie, zu Mussolinis Körperbildern und den Männlichkeitsbeschwörungen fällt Scurati nicht allzu viel ein. Mussolini zeigt gern seinen nackten Oberkörper, am liebsten hoch zu Pferd; und macht dabei anscheinend eine bessere Figur als Wladimir Putin, der nicht nur das von Mussolini gelernt hat.
Worum es im Text Scuratis geht, ist die Macht - und die Frage, wie es einem aufgeblasenen Journalisten und den Bohemiens um ihn herum gelingen konnte, in nur drei Jahren an die Herrschaft in Italien zu kommen. Und diese Herrschaft auch zu behalten.
Worum es beim Lesen dieses Textes geht, ist die Frage, ob das alles ungeheuer weit entfernt sei und interessant vor allem deshalb, weil es sich von heutigen Konflikten so drastisch unterscheidet. Oder ob man, ganz im Gegenteil, nach Mustern, Ähnlichkeiten, Parallelen suchen soll, nach Lehren, die wir heute, als Zeitgenossen proto- oder quasifaschistischer Tendenzen, aus den Konflikten von vor hundert Jahren ziehen können.
Wenn alles anfängt im Jahr 1919, ist die Wut zwar echt, der Zorn all derer, die im Krieg gekämpft und gesiegt und doch damit für ihr Leben nichts gewonnen haben. Aber stärker scheint, aus der Sicht des deutschen Lesers jedenfalls, eine umfassende Italianità zu wirken, ein Hang zum halbwegs guten Leben, eine Verweigerung teutonischer Hartnäckigkeit, eine Lust am Drama, in dem selbst das allseits gepredigte Pathos der Tat kaum Folgen hat, wenn man davon absieht, dass das Pathos die wichtigste unter den Waffen ist, mit denen D'Annunzio Fiume erobert.
Dann gewinnen die Sozialisten die Wahlen in den Provinzen Norditaliens und fangen, trotz großer innerer Zerrissenheit, damit an, die Herrschaft der großen Landbesitzer zu brechen. Es kommt, in Bologna und der ganzen Emilia-Romagna zu ersten Zusammenstößen mit den Faschisten aus der Provinz, die weniger Schwätzer und Spinner, sondern vor allem Schläger sind. Und bei Scurati liest es sich so, als wären die Faschisten selbst nicht darauf gefasst gewesen, dass Gewalt und Terror so nachhaltige Wirkungen haben. Es sind die zähesten Passagen in Scuratis Buch, in denen er beschreibt, wie sich "Squadre" bilden, was man wohl am besten mit Schwadronen übersetzt; wie diese Schwadronen die Anführer der Sozialisten jagen, die Gewerkschafter bedrohen, wie sie Männer zusammenschlagen, viele töten, wie sie Häuser anstecken und die Redaktionen sozialistischer Zeitungen verwüsten - was von der Polizei geduldet und von den Eliten mit Wohlwollen beobachtet wird. Und in Mailand sitzt Mussolini in seiner Redaktion und schreibt einen Leitartikel nach dem anderen, worin er die Gewalt rechtfertigt, ästhetisch und moralisch begründet und in den größeren geschichtlichen Zusammenhang stellt. Es ist, als hätten sich die Boheme und das Gesindel verbündet, die einen stiften Sinn, die anderen erobern das Terrain. Und das Volk, das doch gerade erst die Sozialisten gewählt hat, läuft über: nicht unbedingt wegen der Leitartikel Mussolinis oder seiner großen Posen. Sondern weil die Leute lieber zu denen, die prügeln, als zu denen, die verprügelt werden, gehören wollen.
In seinem Essay "Der ewige Faschismus" (im Jahr 1995 verfasst und soeben wiederveröffentlicht im Hanser-Verlag) schreibt Umberto Eco, dass Mussolini keine Philosophie gehabt habe, nur eine Rhetorik. Man könnte auch sagen: keinen Inhalt, nur eine Form. "Kann man sich eine totalitäre Bewegung vorstellen, die es fertigbringt, Monarchie und Revolution zu vereinigen, Königliche Armee und Mussolinis Privatmiliz, Garantie der kirchlichen Privilegien und eine gewaltverherrlichende Staatserziehung, totale Kontrolle und freien Markt?" Da es den Faschismus gab und gibt, muss man ihn sich nicht vorstellen: Eco liefert hier aber einigermaßen knapp, was man bei Scurati ausführlich geschildert bekommt: die Begründung, warum man den Faschismus nicht widerlegen kann. Gegen diese Staatsästhetik, gegen den politischen Superkitsch wirken keine Argumente. Und gegen Mörder und Schläger erst recht nicht. Der sozialistische Abgeordnete Giacomo Matteotti, der es trotzdem immer wieder mit Fakten, Argumenten, Tatsachen versucht, in seinen Büchern und in seinen Reden vor dem Parlament, und der deshalb schließlich ermordet wird, ist der einzige Held in Scuratis Buch.
Wenn man den Faschismus aber nicht widerlegen kann, dann muss man ihn bekämpfen. Im Oktober 1922 brachen die faschistischen Schläger und Desperados auf, zum sogenannten Marsch auf Rom. Sie hatten ein paar Gewehre und Pistolen, sie hatten Knüppel, Äxte, Messer. Furchterregend wirkten sie auf unbewaffnete Zivilisten. Aber selbst die Anführer der Faschisten wussten, dass die Schwadronen sich aufgelöst hätten und davongelaufen wären, wenn die Armee sich ihnen entgegengestellt hätte. Der König, der die Macht dazu gehabt hätte, verweigerte aber die Ausrufung des Ausnahmezustands. Und so wurde Benito Mussolini zum Ministerpräsidenten ernannt, und es jubelten ihm auch die Liberalen und die Konservativen zu, auch manche Sozialisten, die Wirtschaftsführer ohnehin und die Kirchenleute auch. Der große liberale Philosoph Benedetto Croce begrüßte Mussolinis Ernennung, der berühmte Schriftsteller Luigi Pirandello huldigte dem Duce, D'Annunzio hielt sich selbst für den besseren Führer, war aber zu alt und zu schwach geworden, seinen Anspruch durchzusetzen, und so zeigte auch er sich insgesamt einverstanden mit der Herrschaft des Mannes, den er nur als seinen Epigonen sah.
Und der Grund, weshalb dieser Coup gelingen konnte, verweist dann doch sehr direkt in die Gegenwart. Die Faschisten waren im Parlament in der Minderheit, sie hatten keine bedeutende Wahl gewonnen, sie hatten eigentlich nichts als ein paar Waffen. Und die lautstarke Behauptung, dass sie das wahre Italien, ja geradezu das Römertum in seinem ganzen Stolz und seiner Größe verkörperten. Wir sind das Volk, sagten die Faschisten - und dass der Satz wahr wurde, obwohl er anfangs eine Lüge und eine Hochstapelei war, die der Rhetoriker Mussolini nur sehr gut artikulieren konnte, dass der Satz wahr wurde, lag daran, dass immer mehr Nichtfaschisten bereit waren, ihn zu glauben. Was dann doch weniger ein Sieg der Gewalt als einer der Rhetorik war: dass Monarchie und Klerus, konservatives und liberales Establishment dem großkotzigen Journalisten nicht widersprachen, als der erklärte, er kenne, artikuliere und verkörpere den wahren Willen des Volks.
Eine Behauptung, der man, sobald sie ausgesprochen wird, auch heute immer und überall widersprechen muss.
CLAUDIUS SEIDL
Antonio Scurati: "M - Der Sohn des Jahrhunderts. Klett-Cotta, 830 Seiten, 32 Euro.
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Wie konnte der Faschismus an die Herrschaft kommen? Antonio Scuratis Roman "M"
Wenn sich aus diesem Buch, das auf 830 Seiten unglaublich viel zu erzählen hat, von fast unüberschaubar vielen Personen mit widersprüchlichen Motiven, Zielen und Empfindungen, wobei am widersprüchlichsten die Hauptfigur ist, Benito Mussolini, der sogenannte Führer der Faschisten, wenn sich aus diesem Buch trotzdem ein Fazit ziehen ließe, vielleicht sogar ein Ratschlag für die Leser von heute, dann wäre es womöglich dieser hier: Seid brav und fleißig, Leute, und habt keine Angst, für langweilig oder spießig zu gelten! Glaubt den Künstlern bloß nicht jedes Wort, und haltet Distanz zu allem, was der Bohème ähnlich sieht! Und mit Journalisten, die einen Hang zu großen Worten, starken Sätzen und ultimativen Forderungen haben, solltet ihr am besten nichts zu tun haben wollen.
Denn so, mit Künstlern, Bohemiens und Leuten, die nicht regelmäßig arbeiten wollten, hat das ja alles angefangen: mit Filippo Tommaso Marinetti, dem verrückten Futuristen, der sich vor die faschistischen Versammlungen stellte und Reden hielt, deren Zusammenhang die Hörer nicht recht verstanden. Nur dass hier von Größe und Krieg, von Männlichkeit und Zerstörung offensichtlich die Rede war. Mit Gabriele D'Annunzio, dem hochfahrenden Dichter, der kühn genug war, mit ein paar Männern das schöne Fiume zu erobern, jene italienischsprachige Hafenstadt, die aber nach dem Ersten Weltkrieg nicht den Italienern zugesprochen worden war. Und der dort eine Dichterdiktatur errichtete und das Volk feiern ließ, bis die Wirtschaft und die Moral der Stadt völlig aufgezehrt waren. Mit Margherita Sarfatti, der reichen Venezianerin, die nicht nur die Künste förderte, sondern auch einen derben Lehrer vom Land, dem sie beibrachte, ein Fischmesser zu gebrauchen, Fechten zu lernen und überhaupt sich selbst eine wiedererkennbare Form zu geben: jenen Benito Mussolini also, der, wenn das Buch beginnt, der Chefredakteur einer Zeitung namens "Il popolo d'Italia" ist und fast täglich sehr große Worte findet. Und der aber sonst nicht viel zustande bringt mit seiner Bewegung, in der sich die Enttäuschten und Zukurzgekommenen zusammenschließen, die Veteranen des Weltkriegs, die für Italien gekämpft hatten. Und gesiegt, wie sie jedenfalls selbst glauben. Und die es nicht fassen können, dass der Sieg sich wie eine Niederlage anfühlt. Kompromisse, nach innen wie nach außen. Wo sie doch Fiume wollen und die dalmatinische Küste dazu und reiche Kolonien. Und ein Italien, das Großmacht sein müsste und der Stolz eines jeden Italieners.
"M - Der Sohn des Jahrhunderts" heißt dieses Buch, das sein Autor, der Schriftsteller und Literaturdozent Antonio Scurati, einen Roman nennt, obwohl eigentlich alles, was er an manifesten Handlungen nacherzählt, jede Person, die darin vorkommt, verbürgt und dokumentiert ist. Fiktional daran ist, dass Scurati sich die Freiheit nimmt, sich gewissermaßen hineinzudenken und hineinzufühlen in die Köpfe seiner wichtigsten Figuren und aus deren Sicht die Dinge zu beschreiben. Was schon deshalb meistens stimmig wirkt und legitim ist, weil es hier um Menschen geht, deren ganze öffentliche Existenz ohne die Projektionen und Gefühle ihres Publikums nicht denkbar wäre. Insofern tut Scurati mit Mussolini, was auch dessen Zeitgenossen mit ihm taten: Er konstruiert und imaginiert sich einen Duce, nur eben aus der Sicht des 21. Jahrhundert, in der Hoffnung, dass er dabei etwas anderes, etwas Neues sieht.
Und fiktional ist das Buch, weil Scurati sich manchmal beim Schreiben nicht bremsen kann; und dann malt er seine dokumentarischen Szenen und die dazugehörigen Stimmungen endlos aus, in pastellenen Farben, was den Bildern nicht bekommt. Dann steigen Nebel auf über der Poebene, oder die Luft im Zimmer riecht nach Wollust. Es sind die schwächsten Momente in diesem Buch. Man kann sie aber überblättern.
Denn ums Wetter geht es nur insofern, als die typisch deutsche Annahme, dass unter dem hellen Himmel Italiens die Barbarei geringere Entfaltungsmöglichkeiten habe, von der Erzählung leider dementiert wird. Und um Sex nur insofern, als die erotische Unersättlichkeit Mussolinis zur Kenntnis genommen wird. Zur Verführung als politischer Strategie, zu Mussolinis Körperbildern und den Männlichkeitsbeschwörungen fällt Scurati nicht allzu viel ein. Mussolini zeigt gern seinen nackten Oberkörper, am liebsten hoch zu Pferd; und macht dabei anscheinend eine bessere Figur als Wladimir Putin, der nicht nur das von Mussolini gelernt hat.
Worum es im Text Scuratis geht, ist die Macht - und die Frage, wie es einem aufgeblasenen Journalisten und den Bohemiens um ihn herum gelingen konnte, in nur drei Jahren an die Herrschaft in Italien zu kommen. Und diese Herrschaft auch zu behalten.
Worum es beim Lesen dieses Textes geht, ist die Frage, ob das alles ungeheuer weit entfernt sei und interessant vor allem deshalb, weil es sich von heutigen Konflikten so drastisch unterscheidet. Oder ob man, ganz im Gegenteil, nach Mustern, Ähnlichkeiten, Parallelen suchen soll, nach Lehren, die wir heute, als Zeitgenossen proto- oder quasifaschistischer Tendenzen, aus den Konflikten von vor hundert Jahren ziehen können.
Wenn alles anfängt im Jahr 1919, ist die Wut zwar echt, der Zorn all derer, die im Krieg gekämpft und gesiegt und doch damit für ihr Leben nichts gewonnen haben. Aber stärker scheint, aus der Sicht des deutschen Lesers jedenfalls, eine umfassende Italianità zu wirken, ein Hang zum halbwegs guten Leben, eine Verweigerung teutonischer Hartnäckigkeit, eine Lust am Drama, in dem selbst das allseits gepredigte Pathos der Tat kaum Folgen hat, wenn man davon absieht, dass das Pathos die wichtigste unter den Waffen ist, mit denen D'Annunzio Fiume erobert.
Dann gewinnen die Sozialisten die Wahlen in den Provinzen Norditaliens und fangen, trotz großer innerer Zerrissenheit, damit an, die Herrschaft der großen Landbesitzer zu brechen. Es kommt, in Bologna und der ganzen Emilia-Romagna zu ersten Zusammenstößen mit den Faschisten aus der Provinz, die weniger Schwätzer und Spinner, sondern vor allem Schläger sind. Und bei Scurati liest es sich so, als wären die Faschisten selbst nicht darauf gefasst gewesen, dass Gewalt und Terror so nachhaltige Wirkungen haben. Es sind die zähesten Passagen in Scuratis Buch, in denen er beschreibt, wie sich "Squadre" bilden, was man wohl am besten mit Schwadronen übersetzt; wie diese Schwadronen die Anführer der Sozialisten jagen, die Gewerkschafter bedrohen, wie sie Männer zusammenschlagen, viele töten, wie sie Häuser anstecken und die Redaktionen sozialistischer Zeitungen verwüsten - was von der Polizei geduldet und von den Eliten mit Wohlwollen beobachtet wird. Und in Mailand sitzt Mussolini in seiner Redaktion und schreibt einen Leitartikel nach dem anderen, worin er die Gewalt rechtfertigt, ästhetisch und moralisch begründet und in den größeren geschichtlichen Zusammenhang stellt. Es ist, als hätten sich die Boheme und das Gesindel verbündet, die einen stiften Sinn, die anderen erobern das Terrain. Und das Volk, das doch gerade erst die Sozialisten gewählt hat, läuft über: nicht unbedingt wegen der Leitartikel Mussolinis oder seiner großen Posen. Sondern weil die Leute lieber zu denen, die prügeln, als zu denen, die verprügelt werden, gehören wollen.
In seinem Essay "Der ewige Faschismus" (im Jahr 1995 verfasst und soeben wiederveröffentlicht im Hanser-Verlag) schreibt Umberto Eco, dass Mussolini keine Philosophie gehabt habe, nur eine Rhetorik. Man könnte auch sagen: keinen Inhalt, nur eine Form. "Kann man sich eine totalitäre Bewegung vorstellen, die es fertigbringt, Monarchie und Revolution zu vereinigen, Königliche Armee und Mussolinis Privatmiliz, Garantie der kirchlichen Privilegien und eine gewaltverherrlichende Staatserziehung, totale Kontrolle und freien Markt?" Da es den Faschismus gab und gibt, muss man ihn sich nicht vorstellen: Eco liefert hier aber einigermaßen knapp, was man bei Scurati ausführlich geschildert bekommt: die Begründung, warum man den Faschismus nicht widerlegen kann. Gegen diese Staatsästhetik, gegen den politischen Superkitsch wirken keine Argumente. Und gegen Mörder und Schläger erst recht nicht. Der sozialistische Abgeordnete Giacomo Matteotti, der es trotzdem immer wieder mit Fakten, Argumenten, Tatsachen versucht, in seinen Büchern und in seinen Reden vor dem Parlament, und der deshalb schließlich ermordet wird, ist der einzige Held in Scuratis Buch.
Wenn man den Faschismus aber nicht widerlegen kann, dann muss man ihn bekämpfen. Im Oktober 1922 brachen die faschistischen Schläger und Desperados auf, zum sogenannten Marsch auf Rom. Sie hatten ein paar Gewehre und Pistolen, sie hatten Knüppel, Äxte, Messer. Furchterregend wirkten sie auf unbewaffnete Zivilisten. Aber selbst die Anführer der Faschisten wussten, dass die Schwadronen sich aufgelöst hätten und davongelaufen wären, wenn die Armee sich ihnen entgegengestellt hätte. Der König, der die Macht dazu gehabt hätte, verweigerte aber die Ausrufung des Ausnahmezustands. Und so wurde Benito Mussolini zum Ministerpräsidenten ernannt, und es jubelten ihm auch die Liberalen und die Konservativen zu, auch manche Sozialisten, die Wirtschaftsführer ohnehin und die Kirchenleute auch. Der große liberale Philosoph Benedetto Croce begrüßte Mussolinis Ernennung, der berühmte Schriftsteller Luigi Pirandello huldigte dem Duce, D'Annunzio hielt sich selbst für den besseren Führer, war aber zu alt und zu schwach geworden, seinen Anspruch durchzusetzen, und so zeigte auch er sich insgesamt einverstanden mit der Herrschaft des Mannes, den er nur als seinen Epigonen sah.
Und der Grund, weshalb dieser Coup gelingen konnte, verweist dann doch sehr direkt in die Gegenwart. Die Faschisten waren im Parlament in der Minderheit, sie hatten keine bedeutende Wahl gewonnen, sie hatten eigentlich nichts als ein paar Waffen. Und die lautstarke Behauptung, dass sie das wahre Italien, ja geradezu das Römertum in seinem ganzen Stolz und seiner Größe verkörperten. Wir sind das Volk, sagten die Faschisten - und dass der Satz wahr wurde, obwohl er anfangs eine Lüge und eine Hochstapelei war, die der Rhetoriker Mussolini nur sehr gut artikulieren konnte, dass der Satz wahr wurde, lag daran, dass immer mehr Nichtfaschisten bereit waren, ihn zu glauben. Was dann doch weniger ein Sieg der Gewalt als einer der Rhetorik war: dass Monarchie und Klerus, konservatives und liberales Establishment dem großkotzigen Journalisten nicht widersprachen, als der erklärte, er kenne, artikuliere und verkörpere den wahren Willen des Volks.
Eine Behauptung, der man, sobald sie ausgesprochen wird, auch heute immer und überall widersprechen muss.
CLAUDIUS SEIDL
Antonio Scurati: "M - Der Sohn des Jahrhunderts. Klett-Cotta, 830 Seiten, 32 Euro.
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»M. Der Sohn des Jahrhunderts verbindet er aufbrausende Fiktion mit nüchternem Archivmaterial. Das ist streitbar sowohl in den politischen Ausdeutungen als auch den stilistischen Mitteln, macht aber gerade deshalb aus Geschichte die leidenschaftliche Diskussion, die sie immer sein sollte.« Hannah Pilarczyk, Der Spiegel, 16. Dezember 2020 Hannah Pilarczyk SPIEGEL 20201216