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Hier scheppert der DJ-Rollkoffer unerbittlich über Berliner Kopfsteinpflaster, schweißnasse Schaumstoffmatratzen treiben in ranzigen, beatdurchwummerten Kellern am Leser vorbei; eine von Erektionen umstellte Fitnessradtour im Kreuzberger Zimmer hilft das Speed abzubauen. Die Wände des Darkrooms kleben, Galeristen gieren nach frischem Fleisch und Plastikschwänzen. M. liefert sich aus und reißt die Macht an sich, sie fickt die Kunstszene, während sie für ihre nächste Ausstellung Gelnageldesignerinnen und Massagestühle auftreibt. M. ist das Protokoll einer Ermächtigung des eigenen Körpers, des…mehr

Produktbeschreibung
Hier scheppert der DJ-Rollkoffer unerbittlich über Berliner Kopfsteinpflaster, schweißnasse Schaumstoffmatratzen treiben in ranzigen, beatdurchwummerten Kellern am Leser vorbei; eine von Erektionen umstellte Fitnessradtour im Kreuzberger Zimmer hilft das Speed abzubauen. Die Wände des Darkrooms kleben, Galeristen gieren nach frischem Fleisch und Plastikschwänzen. M. liefert sich aus und reißt die Macht an sich, sie fickt die Kunstszene, während sie für ihre nächste Ausstellung Gelnageldesignerinnen und Massagestühle auftreibt. M. ist das Protokoll einer Ermächtigung des eigenen Körpers, des eigenen Begehrens, und kalter Bericht über dasAusbeutungsgefüge im Kunstbetrieb - in einer Sprache, die schonungslos die Entwicklung der Erzählerin von einer zynischen Beobachterin zur strippenziehenden Regisseurin vollzieht.
Autorenporträt
Anna Gien, geboren 1991 in München, ist freie Autorin und arbeitet in unabhängigen künstlerischen Projekten. Studium der Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin und Florenz. Ihr Interesse gilt der Körperpolitik, feministischer Theorie, Sexarbeit und den Zusammenhängen von Kunst, Kapital und Popkultur. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Marlene Stark, geboren 1985 in Ellwangen, arbeitet meist kollaborativ und interdisziplinär mit Malerei, Installation Sound, Musik und Text. Sie ist zudem DJ und produziert Musik. Studium für Malerei in Karlsruhe, Berlin und Bogotá. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Für Birthe Mühlhoff wird im Roman von Marlene Stark und Anna Gien entschieden zu viel rumgefickt, ob in den Arsch oder sonst wohin. Politisch, etwa im Sinne einer Kritik am Kunstbetrieb (die Erzählerin ist Künstlerin mit lukrativem Nebenjob), kann sie das nicht finden, die Metaphern sind abgelutscht, meint sie. Der im Buch reichlich zur Schau gestellten coolen Offenheit diesbezüglich gewinnt sie wenig mehr als lustige Unterhaltung ab, die jedoch schnell fad wird, denkt sie länger darüber nach. Oft hat sie das Gefühl, die Autorinnen haben einen Schlüsselroman verfasst, nur dass dem Leser der Schlüssel fehlt. Gehässige Milieubeschreibungen allein machen für Mühlhoff noch keinen gutes Buch.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2019

Hier kommt das Stroboproletariat
Musik, Drogen, Sexparty: Anna Gien und Marlene Stark erzählen in "M" von Berliner Kellerbars und stöbern im Fundus der Club-Literatur

Um 1820 entwarf der inzwischen in Vergessenheit geratene Frühsozialist Charles Fourier die architektonische Grundlage für seinen Traum von der idealen Kommune. Ein Gebäude, so groß wie Versailles, mit Platz für die kollektiven Studien seiner Bewohner, für gemeinsam eingenommene Mahlzeiten oder spontane erotische Vergnügungen. Er holte damit zum Schlag gegen die Ehe als unhinterfragten Nukleus der kleinstbürgerlichen Gesellschaftsformation aus - zumindest auf dem Blatt. Realisieren konnte Fourier das "Phalansterium" zeitlebens nicht. Doch hatte er mit seinem utopischen Grundriss des planmäßigen guten Lebens eine generationenübergreifende Ikone kommunenzugewandter Sehnsüchte geschaffen.

Eine Abbildung der perspektivischen Ansicht des Phalansteriums findet sich im Roman "M" des Autorinnenduos Anna Gien und Marlene Stark. Dabei geht es in "M" gar nicht um Utopie. Protagonistin des Romans ist die titelgebende M aus Süddeutschland, die nach Berlin kam, um Künstlerin zu werden, und inzwischen in Neuköllner Kellerbars und für die lokale Künstlerszene elektronische Musik aus den Achtzigern und von heute auflegt. In diesen Bars, in denen die Getränke noch nicht zu teuer und die nicht vom Mainstream entdeckt, gar von Touristen besucht sind, fühlt sich M sicher, nur hier kann sie "sich jeglicher Leistungslogik entziehen". Berliner Eskapismus mit hochkultiviertem Musikgeschmack, auf der Grenze stehend zwischen Narzissmus und intuitiver, wenngleich naiver Systemkritik. Das ist ein Spannungsverhältnis, das sich wie ein roter Faden durch ein ganzes Genre an Club-Literatur zieht, angefangen von Rainald Goetz' "Rave" bis hin zu Airens "Strobo - Technoprosa aus dem Berghain" und natürlich Helene Hegemanns "Axolotl Roadkill".

Die Lieblingsbar der Protagonistin wird beschrieben als ein Loch, in das eine wacklige Aluminiumtreppe führt. Auf der Mitte der Tanzfläche liegt eine schäbige Matratze, "ein herrlich abgeschrammter Körper, an dem die Hautfetzen der Vornacht wie Lametta hängen". M liebt die Momente, wenn die Körper während eines guten Sets in der Bewegung zu einer Einheit verschmelzen: "Was hier passiert ist Alchemie. Die Musik, der Raum, die Bewegung, die Körper, alles wächst zusammen, irgendwo im Dazwischen von analog und digital." Das Streben nach Authentizität als Selbstvergewisserung einer Subkultur, auch die Aufhebung von Vereinzelung und Zusammenführung aller zu einem sich im elektronischen Takt bewegenden Gesamtkörper gehören zum motivischen Fundus der Club-Literatur. Eine neue Sprache dafür findet der Roman aber nicht.

Das Auf- und Abtauchen Ms in die Musik oder in fremde Körper ist stakkatohaft minimalistisch formuliert. M beobachtet sich im Präsens, in selbstanalytischer Passivität widerfahren ihr die Begegnungen, ohne dass sie je verwundert wäre. Die Sätze sind kurz und befindlichkeitsorientiert, ständig ist jemand müde und gleichzeitig aufgekratzt oder hängt kotzend über der Toilette. Der Slogancharakter der Formulierungen nimmt Anleihen bei den Titeln der Elektrosongs, die M auflegt. Spielt sie "Debiler Drang" der Dark Wave Band Black Spider Clan, bekommt sie "Lust auf Dummheiten" und spürt "latente Gier". Diese moralisierende, nachlässige Sprache klingt mitunter, als würde nicht die party- und szeneerfahrene Mittdreißigerin M sprechen, sondern ihre 20 Jahre ältere Tante, die sich von Süddeutschland aus für einen Kurztrip nach Berlin begeben hat.

Das Thema des Romans, Daseinsformen einer kunstszenennahen, prekären Elektrobohème, hätte es nahegelegt, eine eigene sprachliche Vermittlung von Spontaneität, Autonomie und Hedonismus zu finden. Ohne Frage ist auch der mit Techno befeuerte Kurzzeitausstieg aus der Gesellschaft eine Möglichkeit, anders sehen, anders hören, anders leben zu lernen. Nur möchte man meinen, dass dazu eine generationentypische Erfahrung und Sprache kommen müssen. Wie feiert eine mit linker politischer Theorie und metropolitischem Selbstbewusstsein satt ausgestattete Generation in diesen Nächten? Wie feiert "das Stroboproletariat", zu dem M sich zählt, wenn längst zur allgemeinen Weisheit geworden ist, dass exzessiv durchtanzte Wochenenden auf Drogen eher systemerhaltenden als systemstürzenden Charakter haben und auch in der Mehrheitsgesellschaft Rausch und Intensität als Lebensprinzip der ehelichen Gemütlichkeit den Rang abgelaufen haben? M jedenfalls scheint übergangslos an die Entgrenzungserfahrungen aus dem mythischen Arsenal der achtziger Jahre anzuschließen, wenn sie einem Fremden spontan Oralverkehr auf der Toilette anbietet. Seine Absage nimmt sie indifferent auf: "Der Korb ist mir egal, solange er mich ein bisschen gespürt hat." Oralverkehr bei Erstkontakt, damit schockt man in Zeiten boomender sozialer Plattformen für unverbindlichen Sex keinen mehr.

Ohnehin ist Ms Geschlechterbild, mit Ausnahme des Blicks auf sich selbst, höchst binär organisiert. Die Männer, die ihr in die Arme laufen, wollen alle mit einem Umschnall-Penis penetriert werden. M weiß das manchmal, noch bevor die Männer es selbst wissen. Sie hat Freude an der Unterwerfung und fühlt sich "wie das Werkzeug einer höheren Macht". Schlägt M hier symbolisch gegen eine in dem "erotisierten Zoo" der Kunst- und Medienwelt allzu dominante Männlichkeit zurück? Wiederholt sie rollenverkehrt des Nachts, was ihr tagsüber als unterdrückerisches und frauenfeindliches Prinzip der Kunstszene erscheint, die Zwangssexualisierung und permanente Verfügbarkeit besonders der weiblichen Künstlerinnen auf einem Markt, auf dem gute Kontakte überlebensnotwendig sind? Auch hier bleibt die Sicht der Protagonistin die einzige Auskunftsquelle, keine zweite Perspektive verschafft dem Leser Linderung von Ms selbstbezogenem Rigorismus. Ihr geht es nicht um Gesellschaftskritik, sondern um Selbstsezierung. "Die Leere" des Mannes, heißt es einmal etwas manieriert, sei nur das "Negativ" ihres eigenen Mangels.

So bleibt der Eindruck einer kalten und desillusionierten Zeitdiagnose. Ms Blicke auf ihre Gegenüber sind abschätzig, sie empfindet Lust, wenn Unterdrückung und Macht ins Spiel kommen. Im vor knapp 20 Jahren veröffentlichten und euphorisch rezipierten "Kontrasexuellen Manifest" des Philosophen Paul B. Preciado wurde der Dildo als durch und durch utopisches Werkzeug gefeiert, die Geschlechterordnung mit ihren Hierarchien und Dichotomien zu egalisieren und die Sexualität vom Haben und Nicht-Haben zu befreien. M hat weniger im Sinn als solche politisch aufgeladenen Transgressionen. Letztlich entpuppt sich sogar das Phalansterium des Sozialisten Fourier bei ihr nur als Emblem für die Gründung einer Sexgruppe, deren Mitglieder von M nach Potenz, Gefügigkeit oder Attraktivität ausgewählt werden, und bei deren Treffen sie im Hintergrund stehend eifrig darum bemüht ist, alle Fäden in der Hand zu behalten. In diesem Berlin von heute, so scheint es in "M", haben größere Erzählungen einer Gemeinschaft ohne Konkurrenz und Besitz keinen Platz.

MIRYAM SCHELLBACH

Anna Gien, Marlene Stark: "M". Roman.

Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019. 248 S., geb., 20,- [Euro].

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