Was ist Macht? Ist sie etwas, das man von jemandem übernimmt, um es für eine gewisse Zeit zu besitzen und dann an wieder andere weiterzugeben - wie einen Kühlschrank, einen Gebrauchtwagen oder ein Eigenheim? Diese dinghafte Konzeption von Macht trifft nur unter bestimmten Bedingungen und dann auch nur partiell zu. Sie kann daher keine Grundlage einer allgemeinen Machtheorie sein. Ähnliches gilt für die Vorstellung, in Hierarchien liege die größte Macht an der Spitze, oder für jene, daß jedem Machtgewinn ein Machtverlust anderer entspreche. Niklas Luhmann hat bekanntlich eine allgemeiner ansetzende Theorie der Macht entworfen, die den Kreis dieser einfachen Machtbegriffe mit soziologischen Denkmitteln durchbricht und zeigt, wie sehr Machtlagen von Gesellschaftsstrukturen und insbesondere von Differenzierungsformen abhängen und sich mit ihnen ändern. »Macht im System« entstand in den späten 1960er Jahren und wird nun erstmals aus dem Nachlaß des großen Soziologen publiziert. Ähnlich wie die Studie »Liebe. Eine Übung« zeugt der Text von der Bedeutung seines Themas im Frühwerk Luhmanns, der hier - anders als in späteren Fassungen seiner Machttheorie - eher systemtheoretisch als kommunikationstheoretisch argumentiert. »Macht im System« ist somit auch ein aufschlußreiches Dokument der Systemtheorie im Werden.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Mit der Systemtheorie, die das Leben in verschiedene soziale Systeme gliedert, welche ihre jeweils eigenen funktionalen Codes ausbilden, hat Niklas Luhmann die soziologische Debatte der Siebziger und Achtziger Jahre entscheidend geprägt, weiß Ijoma Mangold. Die jetzt erschienene Schrift "Macht im System" aus dem Nachlass des Soziologen stamme aus den Sechziger Jahren, als Luhmann im Begriff war, seine einflussreiche Theorie herauszuarbeiten, so der Rezensent. In "Macht im System" rechne Luhmann zunächst mit der klassischen Machttheorie von Hobbes bis Max Weber ab und entwickele dann ein differenzierteres Machtmodell, das die komplexen Strukturen moderner Gesellschaften besser beschreibe. Der Rezensent verfolgt Luhmann mit Interesse beim Aufbau seiner "Theorie-Architektur" und hebt vor allem den radikalen "Avantgarde-Gestus, der kein Gestern gelten lässt" hervor.
© Perlentaucher Medien GmbH
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