Die hier versammelten Studien beschäftigen sich mit historischen und systematischen Themen der praktischen Philosophie der Neuzeit und Gegenwart. Sie handeln unter anderem von der Hobbes-Rezeption bei Kant, Hegel und Carl Schmitt, von Hegels Kritik der Moralphilosophie, von Kelsens Aristoteles-Kritik, von Kants Geschlechtertheorie und Gemeinschaftsphilosophie, von Problemen der Strafbegründung, dem intrikaten Verhältnis von Macht und Moral und von Nietzsches und Foucaults Beitrag zu einer Philosophie der Lebenskunst.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungWer noch immer nicht weiß, was ein Restrisiko ist, sollte hier nachschlagen
Was ist zu tun, wenn Zweifel aufkommen, ob das, was zumeist getan wird, weiterhin getan werden kann? Wolfgang Kersting diskutiert Grenzfragen zwischen Macht und Moral
In der Vorrede zu seinen "Grundlinien der Philosophie des Rechts" wendet sich Hegel mit scharfen Worten gegen den "Atheismus der sittlichen Welt", der die immanente Vernünftigkeit des geistigen Universums leugnet. Man sollte meinen, kritisiert Hegel, "als ob noch kein Staat und Staatsverfassung in der Welt gewesen noch gegenwärtig vorhanden sei, sondern als ob man jetzt - und dies Jetzt dauert immer fort - ganz von vorne anzufangen und die sittliche Welt nur auf ein solches jetziges Ausdenken und Ergründen und Begründen gewartet habe". Aus der Haltung einer moralischen Besserwisserei spricht für Hegel ein grundlegendes Missverständnis von Rolle und Aufgabe der praktischen Philosophie.
Deren Experten verfügen zwar über ein subtileres Begriffsarsenal und ein raffinierteres methodisches Instrumentarium als die Laien, aber sie können kraft ihres Berufs nicht etwa eine tiefere Einsicht in die Gebote des sittlich Guten für sich beanspruchen. Hegels häufig als freiheitsfeindlich gescholtene Überzeugung von der Vorgängigkeit der kollektiven Sittlichkeit gegenüber der individuellen Moralität beschreibt deshalb nicht nur einen sozialisationstheoretischen Sachverhalt, sie ist vielmehr auch Ausdruck einer dezidiert antielitären Haltung. In Fragen der Sittlichkeit ist jedermann Experte, der eine normale Erziehung durchlaufen hat und über genügend Lebenserfahrung verfügt.
Eine ihre eigenen Begründungsressourcen kritisch reflektierende praktische Philosophie hat sich aus diesem Grund weniger als eine konstruktivistische denn als eine hermeneutische Disziplin zu verstehen. Sie hat die Verankerung ihrer inhaltlichen Grundüberzeugungen in einer ihren explikatorischen Anstrengungen vorgelagerten Sittlichkeit offen auszuweisen, statt sie im Namen eines abstrakten Universalismus, wie Hegel ihn in der Konzeption Kants repräsentiert sieht, stillschweigend unter den Tisch zu kehren. Wer mit einer gegenwärtig weitverbreiteten Auffassung Hegel vorrangig als Anerkennungstheoretiker deutet, neigt dazu, diesen Unterschied zu bagatellisieren. Hegel erscheint in einer solchen Lesart als ein Autor, der, wenngleich er einen abweichenden Begründungsweg beschreitet, im Ergebnis ungefähr das Gleiche sagt wie Kant.
Es ist ausgerechnet der bislang eher als Kant- denn als Hegel-Exeget hervorgetretene Kieler Philosoph Wolfgang Kersting, der dieser verharmlosenden Interpretation widerspricht und die Radikalität von Hegels Bruch mit seinem kritizistischen Vorgänger herausarbeitet. In Hegels Kant-Kritik steht für Kersting nichts Geringeres als das Theorieunternehmen Moralphilosophie überhaupt auf dem Prüfstand.
"Hegels Sittlichkeitskonzeption", so Kersting, "ist zugleich ein Rekontextualisierungsprogramm und ein Demythologisierungsprogramm. Sie korrigiert den sittlichen Eskapismus des Kantischen Vernunftsubjekts und bindet die ins Fahl-Noumenale sich zurückziehende Moralvernunft zurück an die gesellschaftliche, institutionenverwurzelte Moralkultur. Sie zeigt, dass das Faktum der reinen Vernunft seinerseits im Faktum der Sittlichkeit eine notwendige Voraussetzung besitzt, dass moralische Vernunft nur Wirksamkeit entfalten kann, wenn die sittliche Wirklichkeit als Wirklichkeit von Vernunft und Freiheit verstanden wird."
Das Standardargument gegen sittlichkeitsbasierte Konzeptionen praktischer Philosophie besteht in dem Verweis auf das Faktum des Pluralismus, das nur noch formal-universalistische Moralprinzipien zulasse. Wie Kersting zeigt, stellt dieses Argument eine Melange aus drei höchst problematischen Einzelthesen dar. Dabei handelt es sich erstens um die Behauptung, dass Sittlichkeitskonzeptionen nur auf die wertintegrierten und hochkohärenten Kulturen der Vergangenheit passten, zweitens um die Annahme, dass die Moralphilosophie es unter den Bedingungen der Moderne hauptsächlich mit der Lösung von Konflikten zu tun habe, und drittens um die Auffassung, dass eine solche Lösung nur auf der Basis eines einzigen obersten Moralprinzips erfolgen dürfe.
Kersting widerlegt diese Ansicht in allen drei Punkten. Das moderne Individuum bezeugt in seinem Streben nach authentischem Selbstsein nicht weniger die Macht und Wirklichkeit des Allgemeinen als die Griechen der Polissittlichkeit. "Als wenn Unkonventionalität nicht selbst zur gesellschaftlichen Konvention werden könnte! Als wenn Individualismus die Erfindung eines Individuums wäre!" Zudem stolpern auch moderne Subjekte nicht von einem moralischen Härtefall zum nächsten. "Unser Leben ist keine Aneinanderreihung moralischer Konfliktsituationen", sondern es beruht wie eh und je in erster Linie auf Alltagstugenden wie Treue, Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit.
Freilich besitzen ethische Selbstverständlichkeiten einen unscharfen Rand. Insbesondere die wachsende technische Verfügungsmacht des Menschen führt zu einem Wachstum dieser "Ratlosigkeitszonen". Entgegen dem deplazierten Szientismus des heute vorherrschenden Typs der Moralphilosophie ist aber "kein Wissensgewinn von der Art der Kantischen Maximenprüfung geeignet, um in diesen Randgebieten Klarheit zu bringen". Es ist für Kersting "allein Aufgabe der Urteilskraft, in ungewöhnlichen Situationen, in denen die Routinen des lebensweltlichen Alltags nicht mehr überzeugen, in denen Zweifel aufkommen, ob das, was zunächst und zumeist getan wird, weiterhin getan werden kann, den Weg zu weisen". Die einschlägigen Wertungsgesichtspunkte und Problemdimensionen bedürfen einer sorgsamen Abwägung, und auf deren Grundlage muss eine Entscheidung darüber getroffen und lebenspraktisch durchgehalten werden, wie das Restrisiko zu bewerten ist.
Unter den kundigen Händen Kerstings erweist sich eine von Hegel inspirierte praktische Philosophie dem egalitär-individualistischen Selbstverständnis der Moderne nicht nur ebenso gut, sondern sogar besser gewachsen als ihre kantianische Kontrahentin. Während "deren Ideal der algorithmischen Allzuständigkeit noch eines der letzten modernisierungsresistenten Refugien der omnipotenten Vernunft der metaphysischen Tradition darstellt", weist Kersting nach, dass die Frage, wie der Einzelne sich in der moralischen Welt situieren, was für ein Leben er führen will und wie die konfligierenden Handlungsoptionen sich darin einfügen, eine Antwort von unabweisbarer Individualität erfordert.
Die Karten der moralphilosophischen Diskussion sind damit neu gemischt. Ob die Kantianer und ihre diskursethischen Nachfolger das Spiel annehmen werden?
MICHAEL PAWLIK
Wolfgang Kersting: "Macht und Moral". Studien zur praktischen Philosophie der Neuzeit.
mentis Verlag, Paderborn 2010. 324 S., br., 39,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was ist zu tun, wenn Zweifel aufkommen, ob das, was zumeist getan wird, weiterhin getan werden kann? Wolfgang Kersting diskutiert Grenzfragen zwischen Macht und Moral
In der Vorrede zu seinen "Grundlinien der Philosophie des Rechts" wendet sich Hegel mit scharfen Worten gegen den "Atheismus der sittlichen Welt", der die immanente Vernünftigkeit des geistigen Universums leugnet. Man sollte meinen, kritisiert Hegel, "als ob noch kein Staat und Staatsverfassung in der Welt gewesen noch gegenwärtig vorhanden sei, sondern als ob man jetzt - und dies Jetzt dauert immer fort - ganz von vorne anzufangen und die sittliche Welt nur auf ein solches jetziges Ausdenken und Ergründen und Begründen gewartet habe". Aus der Haltung einer moralischen Besserwisserei spricht für Hegel ein grundlegendes Missverständnis von Rolle und Aufgabe der praktischen Philosophie.
Deren Experten verfügen zwar über ein subtileres Begriffsarsenal und ein raffinierteres methodisches Instrumentarium als die Laien, aber sie können kraft ihres Berufs nicht etwa eine tiefere Einsicht in die Gebote des sittlich Guten für sich beanspruchen. Hegels häufig als freiheitsfeindlich gescholtene Überzeugung von der Vorgängigkeit der kollektiven Sittlichkeit gegenüber der individuellen Moralität beschreibt deshalb nicht nur einen sozialisationstheoretischen Sachverhalt, sie ist vielmehr auch Ausdruck einer dezidiert antielitären Haltung. In Fragen der Sittlichkeit ist jedermann Experte, der eine normale Erziehung durchlaufen hat und über genügend Lebenserfahrung verfügt.
Eine ihre eigenen Begründungsressourcen kritisch reflektierende praktische Philosophie hat sich aus diesem Grund weniger als eine konstruktivistische denn als eine hermeneutische Disziplin zu verstehen. Sie hat die Verankerung ihrer inhaltlichen Grundüberzeugungen in einer ihren explikatorischen Anstrengungen vorgelagerten Sittlichkeit offen auszuweisen, statt sie im Namen eines abstrakten Universalismus, wie Hegel ihn in der Konzeption Kants repräsentiert sieht, stillschweigend unter den Tisch zu kehren. Wer mit einer gegenwärtig weitverbreiteten Auffassung Hegel vorrangig als Anerkennungstheoretiker deutet, neigt dazu, diesen Unterschied zu bagatellisieren. Hegel erscheint in einer solchen Lesart als ein Autor, der, wenngleich er einen abweichenden Begründungsweg beschreitet, im Ergebnis ungefähr das Gleiche sagt wie Kant.
Es ist ausgerechnet der bislang eher als Kant- denn als Hegel-Exeget hervorgetretene Kieler Philosoph Wolfgang Kersting, der dieser verharmlosenden Interpretation widerspricht und die Radikalität von Hegels Bruch mit seinem kritizistischen Vorgänger herausarbeitet. In Hegels Kant-Kritik steht für Kersting nichts Geringeres als das Theorieunternehmen Moralphilosophie überhaupt auf dem Prüfstand.
"Hegels Sittlichkeitskonzeption", so Kersting, "ist zugleich ein Rekontextualisierungsprogramm und ein Demythologisierungsprogramm. Sie korrigiert den sittlichen Eskapismus des Kantischen Vernunftsubjekts und bindet die ins Fahl-Noumenale sich zurückziehende Moralvernunft zurück an die gesellschaftliche, institutionenverwurzelte Moralkultur. Sie zeigt, dass das Faktum der reinen Vernunft seinerseits im Faktum der Sittlichkeit eine notwendige Voraussetzung besitzt, dass moralische Vernunft nur Wirksamkeit entfalten kann, wenn die sittliche Wirklichkeit als Wirklichkeit von Vernunft und Freiheit verstanden wird."
Das Standardargument gegen sittlichkeitsbasierte Konzeptionen praktischer Philosophie besteht in dem Verweis auf das Faktum des Pluralismus, das nur noch formal-universalistische Moralprinzipien zulasse. Wie Kersting zeigt, stellt dieses Argument eine Melange aus drei höchst problematischen Einzelthesen dar. Dabei handelt es sich erstens um die Behauptung, dass Sittlichkeitskonzeptionen nur auf die wertintegrierten und hochkohärenten Kulturen der Vergangenheit passten, zweitens um die Annahme, dass die Moralphilosophie es unter den Bedingungen der Moderne hauptsächlich mit der Lösung von Konflikten zu tun habe, und drittens um die Auffassung, dass eine solche Lösung nur auf der Basis eines einzigen obersten Moralprinzips erfolgen dürfe.
Kersting widerlegt diese Ansicht in allen drei Punkten. Das moderne Individuum bezeugt in seinem Streben nach authentischem Selbstsein nicht weniger die Macht und Wirklichkeit des Allgemeinen als die Griechen der Polissittlichkeit. "Als wenn Unkonventionalität nicht selbst zur gesellschaftlichen Konvention werden könnte! Als wenn Individualismus die Erfindung eines Individuums wäre!" Zudem stolpern auch moderne Subjekte nicht von einem moralischen Härtefall zum nächsten. "Unser Leben ist keine Aneinanderreihung moralischer Konfliktsituationen", sondern es beruht wie eh und je in erster Linie auf Alltagstugenden wie Treue, Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit.
Freilich besitzen ethische Selbstverständlichkeiten einen unscharfen Rand. Insbesondere die wachsende technische Verfügungsmacht des Menschen führt zu einem Wachstum dieser "Ratlosigkeitszonen". Entgegen dem deplazierten Szientismus des heute vorherrschenden Typs der Moralphilosophie ist aber "kein Wissensgewinn von der Art der Kantischen Maximenprüfung geeignet, um in diesen Randgebieten Klarheit zu bringen". Es ist für Kersting "allein Aufgabe der Urteilskraft, in ungewöhnlichen Situationen, in denen die Routinen des lebensweltlichen Alltags nicht mehr überzeugen, in denen Zweifel aufkommen, ob das, was zunächst und zumeist getan wird, weiterhin getan werden kann, den Weg zu weisen". Die einschlägigen Wertungsgesichtspunkte und Problemdimensionen bedürfen einer sorgsamen Abwägung, und auf deren Grundlage muss eine Entscheidung darüber getroffen und lebenspraktisch durchgehalten werden, wie das Restrisiko zu bewerten ist.
Unter den kundigen Händen Kerstings erweist sich eine von Hegel inspirierte praktische Philosophie dem egalitär-individualistischen Selbstverständnis der Moderne nicht nur ebenso gut, sondern sogar besser gewachsen als ihre kantianische Kontrahentin. Während "deren Ideal der algorithmischen Allzuständigkeit noch eines der letzten modernisierungsresistenten Refugien der omnipotenten Vernunft der metaphysischen Tradition darstellt", weist Kersting nach, dass die Frage, wie der Einzelne sich in der moralischen Welt situieren, was für ein Leben er führen will und wie die konfligierenden Handlungsoptionen sich darin einfügen, eine Antwort von unabweisbarer Individualität erfordert.
Die Karten der moralphilosophischen Diskussion sind damit neu gemischt. Ob die Kantianer und ihre diskursethischen Nachfolger das Spiel annehmen werden?
MICHAEL PAWLIK
Wolfgang Kersting: "Macht und Moral". Studien zur praktischen Philosophie der Neuzeit.
mentis Verlag, Paderborn 2010. 324 S., br., 39,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Recht überraschend findet es der Rezensent Michael Pawlik, dass ausgerechnet der große Kant-Kenner Wolfgang Kersting in diesem Buch zu einer Verteidigung der Hegelschen Ethik gegen ihre kantianisch-universalistisch inspirierten Verächter ansetzt. Sehr wohl, insistiert Kersting, lasse sich auch - wenn nicht gerade - aus Hegels Sittlichkeitskonzeption heraus moralphilosophisch anspruchsvoll argumentieren. Die Ansicht, dass Hegels Position, wenn überhaupt, nur auf relativ moralkohärente vormoderne Gesellschaften anwendbar sei, widerlegt Kersting für die Begriffe des Rezensenten überaus überzeugend. Gerade angesichts häufiger - wenn freilich keineswegs der Normalzustand - gewordener "Ratlosigkeitszonen" sei die Abwägung im Spiel befindlicher Gesichtspunkte der Sittlichkeit hilfreicher als der Vernunftrigorismus, den Kant propagiert. Michael Pawlik zeigt sich sehr beeindruckt von diesem luziden Buch und hofft nun auf eine inspirierte Reaktion der Kant-Fraktion.
© Perlentaucher Medien GmbH
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