»All den Zauber des Anfangs und das Zittern der Gedanken, den Größenwahn der Gefühle und das Wirbeln und Schaukeln - das alles beschreibt Michael Köhlmeier wunderbar klar, leicht und liebevoll.« -- Sandra Kegel in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹
Über die erste Liebe - herzzerreißend
Madalyn wohnt einen Stock tiefer. Der Schriftsteller Sebastian Lukasser kennt sie seit ihrem fünften Lebensjahr. Damals hatte er ihr Fahrradfahren beigebracht und musste wenig später zusehen, wie sie von einem Auto erfasst wurde. Er wurde ihr Lebensretter - und jemand, dem sie Dinge anvertrauen kann, die ihre Eltern nicht verstehen würden. Jetzt ist sie vierzehn und erlebt ihre erste, ausweglos komplizierte Liebesgeschichte. Kompliziert, weil Moritz alles andere als ein leichter Fall ist - er wurde bei einem Einbruch erwischt und ist ein notorischer Lügner. Oder spricht er vielleicht doch die Wahrheit?
Über die erste Liebe - herzzerreißend
Madalyn wohnt einen Stock tiefer. Der Schriftsteller Sebastian Lukasser kennt sie seit ihrem fünften Lebensjahr. Damals hatte er ihr Fahrradfahren beigebracht und musste wenig später zusehen, wie sie von einem Auto erfasst wurde. Er wurde ihr Lebensretter - und jemand, dem sie Dinge anvertrauen kann, die ihre Eltern nicht verstehen würden. Jetzt ist sie vierzehn und erlebt ihre erste, ausweglos komplizierte Liebesgeschichte. Kompliziert, weil Moritz alles andere als ein leichter Fall ist - er wurde bei einem Einbruch erwischt und ist ein notorischer Lügner. Oder spricht er vielleicht doch die Wahrheit?
Michael Köhlmeier hat mit 'Madalyn' einen herzzerreißenden Roman über die Liebe und die große komplizierte Gefühlswelt geschrieben. Kurier 20120720
»Michael Köhlmeier hat mit >Madalyn< einen herzzerreißenden Roman über die Liebe und die große komplizierte Gefühlswelt geschrieben. « Kurier 20.07.2012
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.08.2010Zuerst ist da nur ein Gedicht, in das Madalyn sich verliebt. Das Gedicht hat Moritz geschrieben. Als die beiden sich treffen, zeigt Moritz Madalyn ein Graffito, das er an die Kaimauer des Donaukanals gesprüht hat, sieben Meter breit, fünf Meter hoch. Das Gedicht, sagt Moritz, habe er gar nicht selbst geschrieben, aber das Graffito habe er nur für sie, Madalyn, angefertigt. Tage später entdeckt Madalyn in der unteren Ecke eine Widmung: „Für Claudia“. Aber mit Claudia ist doch längst schon alles vorbei, oder nicht? Nun ja, sagt Moritz, in Wahrheit habe er auch das Graffito nicht eigenhändig gesprüht, sondern nur durch den Namenszug ergänzt. So geht das immer weiter. Irgendwann weiß man nicht mehr, was man noch glauben soll. Und doch ist alles so verführerisch, dass man es gerne glauben möchte.
Zum einen ist die Pubertät ein Zustand der absoluten Wahrheit, weil ein Mensch die Welt der Erwachsenen zu keinem anderen Zeitpunkt besser zu durchschauen vermag als in jenem Augenblick, in dem er sich selbst anschickt, erwachsen zu werden – eine eigentümlich hellsichtige Phase. Zum anderen aber dürften sich Menschen kaum so fremd sein wie Eltern und deren Kinder während der Pubertät. Die Familie, ohnehin eine fragile Konstruktion, kann sich da schnell als zufällige Zwangsgemeinschaft erweisen.
Moritz ist 16, Madalyn etwas jünger. Ein ungewöhnliches Mädchen. Michael Köhlmeier führt anhand der beiden das dämonische Potential von jugendlichem Einfallsreichtum vor. Wer da noch von Unschuld reden mag, hat nichts verstanden. Der Katalysator für diese Geschichte lebt in der Wohnung über Madalyn und ihren Eltern, heißt Sebastian Lukasser, ist von Beruf Schriftsteller und Köhlmeier-Lesern bereits als Erzähler des opulenten „Abendland“-Romans bekannt. Lukassers Biographie – der Vater hat Selbstmord begangen – dient auch in „Madalyn“ als Spiegel einer missglückenden Vater-Tochter-Beziehung in der Wohnung unter Lukasser. Und die Mutter ist noch schlimmer. Nur stellt sich auch hier wieder die Frage: Was darf man glauben und was nicht?
Als Madalyn fünf Jahre alt ist, bringt Lukasser ihr das Fahrradfahren bei. Als sie ein paar Tage später von einem Auto angefahren wird, ist es wiederum er, der sie versorgt und ins Krankenhaus bringt. Er wird zu ihrem Vertrauten, zu ihrem Schutzengel: „Wenn ich sie eine Woche lang nicht gesehen oder gehört hatte, wurde ich unruhig.“ Und dann also, zehn Jahre später, die Sache mit Moritz, dem fabelhaften Lügner und Geschichtenerfinder. Der Reiz in Köhlmeiers Roman liegt unter anderem in dem virtuosen Spiel mit der Täuschung, dem sich der Schriftsteller, in ureigenster Profession selbst ein Geschichtenerfinder und Täuschungsvirtuose, ausgesetzt sieht. All das geschieht mit Eleganz und Leichthändigkeit, im plaudernden Alltagston, den Köhlmeier so glänzend beherrscht und hinter dessen vermeintlicher Harmlosigkeit sich fundamentale Einsichten verbergen. Ganz nebenbei gerät Lukasser in manipulative Zusammenhänge, die ihn selbst immer wieder staunen lassen.
Doch das ist nicht alles. Köhlmeier, das ist deutlich zu spüren, hat eine ebenso große Sympathie für seine heranwachsenden Protagonisten wie der Schriftsteller Lukasser auch. Und aus diesem Grund ist „Madalyn“ auch schlicht und einfach die mit Einfühlungsvermögen und vor allem ohne die Lüsternheit des Alternden erzählte Geschichte einer ersten Liebe zwischen einem schlauen Mädchen und einem Jungen mit fragwürdigem Ruf. Früchtchen sind sie beide, Aufschneider, Angeber. Unsicher gegeneinander; umso gewiefter, wenn es darum geht, ihre Umwelt in die Irre zu führen. Vor dem Spiegel geht Madalyn auf und ab, „bewegte Mund und Hände, wie man es tat, wenn eine tiefgründige, vielleicht sogar traurige Diskussion geführt wurde“.
Auch das ist eine der elementaren Beobachtungen: Wenn man allein ist, hätte man dem anderen so viel zu sagen. Zu zweit schweigt man sich dann an. Die moderne Kommunikation in Form von Mobiltelefonen, die funktionieren und mal auch nicht, deren Prepaidkarten mal aufgeladen sind oder auch nicht, gibt diesen chaotischen Kommunikationsstrukturen eine komische Note: Acht Anrufe in Abwesenheit und keine Chance, zurückzurufen – das ist die heutige Tragik des rein theoretisch jederzeit erreichbaren Liebenden.
Zu einer ersten Liebe gehört zwangsläufig deren trauriges Ende. Noch einmal: Sebastian Lukasser ist allein auf das angewiesen, was Madalyn ihm bei ihren Treffen erzählt. Es mag stimmen oder nicht, wichtig ist es nicht. Wenn Madalyn es erfunden haben sollte, ist es gut erfunden. Die Verzweiflung jedenfalls ist echt. Lukassers schriftstellerische Tätigkeit leidet in dieser Zeit; sein Roman kommt nicht voran, weil ihm gerade ein anderer erzählt wird. Michael Köhlmeier hat ihn aufgeschrieben – ein kleines, äußerst charmantes Buch, das die Möglichkeitsfelder von Literatur thematisiert und zugleich in alle Richtungen erkundet. CHRISTOPH SCHRÖDER
MICHAEL KÖHLMEIER: Madalyn. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2010. 174 Seiten, 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Zum einen ist die Pubertät ein Zustand der absoluten Wahrheit, weil ein Mensch die Welt der Erwachsenen zu keinem anderen Zeitpunkt besser zu durchschauen vermag als in jenem Augenblick, in dem er sich selbst anschickt, erwachsen zu werden – eine eigentümlich hellsichtige Phase. Zum anderen aber dürften sich Menschen kaum so fremd sein wie Eltern und deren Kinder während der Pubertät. Die Familie, ohnehin eine fragile Konstruktion, kann sich da schnell als zufällige Zwangsgemeinschaft erweisen.
Moritz ist 16, Madalyn etwas jünger. Ein ungewöhnliches Mädchen. Michael Köhlmeier führt anhand der beiden das dämonische Potential von jugendlichem Einfallsreichtum vor. Wer da noch von Unschuld reden mag, hat nichts verstanden. Der Katalysator für diese Geschichte lebt in der Wohnung über Madalyn und ihren Eltern, heißt Sebastian Lukasser, ist von Beruf Schriftsteller und Köhlmeier-Lesern bereits als Erzähler des opulenten „Abendland“-Romans bekannt. Lukassers Biographie – der Vater hat Selbstmord begangen – dient auch in „Madalyn“ als Spiegel einer missglückenden Vater-Tochter-Beziehung in der Wohnung unter Lukasser. Und die Mutter ist noch schlimmer. Nur stellt sich auch hier wieder die Frage: Was darf man glauben und was nicht?
Als Madalyn fünf Jahre alt ist, bringt Lukasser ihr das Fahrradfahren bei. Als sie ein paar Tage später von einem Auto angefahren wird, ist es wiederum er, der sie versorgt und ins Krankenhaus bringt. Er wird zu ihrem Vertrauten, zu ihrem Schutzengel: „Wenn ich sie eine Woche lang nicht gesehen oder gehört hatte, wurde ich unruhig.“ Und dann also, zehn Jahre später, die Sache mit Moritz, dem fabelhaften Lügner und Geschichtenerfinder. Der Reiz in Köhlmeiers Roman liegt unter anderem in dem virtuosen Spiel mit der Täuschung, dem sich der Schriftsteller, in ureigenster Profession selbst ein Geschichtenerfinder und Täuschungsvirtuose, ausgesetzt sieht. All das geschieht mit Eleganz und Leichthändigkeit, im plaudernden Alltagston, den Köhlmeier so glänzend beherrscht und hinter dessen vermeintlicher Harmlosigkeit sich fundamentale Einsichten verbergen. Ganz nebenbei gerät Lukasser in manipulative Zusammenhänge, die ihn selbst immer wieder staunen lassen.
Doch das ist nicht alles. Köhlmeier, das ist deutlich zu spüren, hat eine ebenso große Sympathie für seine heranwachsenden Protagonisten wie der Schriftsteller Lukasser auch. Und aus diesem Grund ist „Madalyn“ auch schlicht und einfach die mit Einfühlungsvermögen und vor allem ohne die Lüsternheit des Alternden erzählte Geschichte einer ersten Liebe zwischen einem schlauen Mädchen und einem Jungen mit fragwürdigem Ruf. Früchtchen sind sie beide, Aufschneider, Angeber. Unsicher gegeneinander; umso gewiefter, wenn es darum geht, ihre Umwelt in die Irre zu führen. Vor dem Spiegel geht Madalyn auf und ab, „bewegte Mund und Hände, wie man es tat, wenn eine tiefgründige, vielleicht sogar traurige Diskussion geführt wurde“.
Auch das ist eine der elementaren Beobachtungen: Wenn man allein ist, hätte man dem anderen so viel zu sagen. Zu zweit schweigt man sich dann an. Die moderne Kommunikation in Form von Mobiltelefonen, die funktionieren und mal auch nicht, deren Prepaidkarten mal aufgeladen sind oder auch nicht, gibt diesen chaotischen Kommunikationsstrukturen eine komische Note: Acht Anrufe in Abwesenheit und keine Chance, zurückzurufen – das ist die heutige Tragik des rein theoretisch jederzeit erreichbaren Liebenden.
Zu einer ersten Liebe gehört zwangsläufig deren trauriges Ende. Noch einmal: Sebastian Lukasser ist allein auf das angewiesen, was Madalyn ihm bei ihren Treffen erzählt. Es mag stimmen oder nicht, wichtig ist es nicht. Wenn Madalyn es erfunden haben sollte, ist es gut erfunden. Die Verzweiflung jedenfalls ist echt. Lukassers schriftstellerische Tätigkeit leidet in dieser Zeit; sein Roman kommt nicht voran, weil ihm gerade ein anderer erzählt wird. Michael Köhlmeier hat ihn aufgeschrieben – ein kleines, äußerst charmantes Buch, das die Möglichkeitsfelder von Literatur thematisiert und zugleich in alle Richtungen erkundet. CHRISTOPH SCHRÖDER
MICHAEL KÖHLMEIER: Madalyn. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2010. 174 Seiten, 17,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2010Duell zweier Lügner
Michael Köhlmeiers neuer Roman ist der Gegenentwurf zu seinem Jahrhundert-Panorama "Abendland". In "Madalyn" erforscht der Österreicher die Wirrnisse der ersten großen Liebe.
Von Sandra Kegel
Nie wieder wollte er sich in die Angelegenheiten anderer Menschen einmischen, hatte Sebastian Lukasser sich nach der Niederschrift seines letzten Romans geschworen. Das eigene Erleben so gering wie möglich zu halten, mit nichts etwas zu tun zu haben, das sich außerhalb seines Kopfes abspielte, das war sein Ziel. Weil er, der berühmte Schriftsteller aus Wien und Ich-Erzähler dieser Geschichte, im Beschreiben, nicht aber im Teilnehmen sein Glück findet. Und dann steht plötzlich Madalyn vor seiner Tür, das Mädchen mit dem dunklen Wuschelkopf aus der Wohnung unter ihm, das ihn Hals über Kopf hineinzieht in ihr kompliziertes, frühlingserwachendes Teenager-Leben.
Anfangs wehrt er sich noch - "Halt dich raus! Sei ein Egoist, du bist alt genug, du darfst!", warnen ihn seine Instinkte - doch vergebens. Sebastian Lukassers selbstverordnete Klausnerei, an der schon seine Beziehung zu der Museumskuratorin Evelyn zerbrochen ist, wird von der Vierzehnjährigen aufgewirbelt, als habe eine Windhose den dritten Wiener Bezirk erfasst. Natürlich rettet diese Lolita ihrem Einsiedler damit das Leben, weil sie ihm die Wirklichkeit jenseits der behaglichen Altbauwohnung in der Heumühlgasse aufzwingt. Und er revanchiert sich, indem er sie, die einen Mitschüler unglücklich liebt, davon abhält, auf dem Balkon einen verzweifelten Schritt nach vorn zu tun. Was sich dazwischen ereignet, berückend schöne Momente wie auch Erschütterungen, die eine erste Liebe verlässlich bereithält, all der Zauber des Anfangs und das Zittern der Gedanken, der Größenwahn der Gefühle und das Wirbeln und Schaukeln - das alles beschreibt Michael Köhlmeier wunderbar klar, leicht und liebevoll. Wie kaum ein anderer versteht er es, die Dinge des Lebens zu schildern, ohne dabei je pathetisch oder sentimental zu werden.
Vor drei Jahren schaffte es der 1949 in Vorarlberg geborene Autor mit seinem Jahrhundert-Panorama "Abendland" auf die Liste der letzten sechs Romane, die um den Deutschen Buchpreis konkurrierten. Der hochambitionierte Versuch, das Wesen des zwanzigsten Jahrhunderts anhand einer Doppelbiographie zu ergründen, führte auf achthundert Seiten an sämtliche Schauplätze der Welt- und Geistesgeschichte; von Göttingen, dem Mekka der Mathematiker, über das Moskau der Stalin-Ära zu der von den Nationalsozialisten ermordeten Nonne Edith Stein und in den Umkreis von Oppenheimers "Manhattan Project" hin zu den Nürnberger Prozessen sowie in den Deutschen Herbst nach Frankfurt. Der "Abendland"-Chronist ist ebenjener Schriftsteller Sebastian Lukasser, dem wir in "Madalyn" aufs Neue begegnen und der nun zum zweiten Mal auf der Longlist des Buchpreises steht.
"Ich habe die Personen liebgewonnen", hatte Köhlmeier zum Abschluss der siebenjährigen Arbeit an seinem Opus magnum erklärt, da könne man den Computer nicht einfach zuklappen und sagen: "So, das war's, jetzt seid ihr weg." So lässt der Romancier sein Alter Ego nochmals aufleben, diesmal allerdings in einer Geschichte, die sich wie der poetologische Gegenentwurf zu "Abendland" liest: Denn "Madalyn", eher lange Erzählung als Roman, besticht auf seinen hundertsiebzig Seiten vor allem durch Begrenzung: Die Ereignisse tragen sich im Sommer des Jahres 2009 in Wien zu, und auch dort eigentlich nur zwischen Naschmarkt, Schwedenplatz und der Urania am Donaukanal. Verlässt einer der Protagonisten doch einmal das vertraute Viertel, etwa in Richtung Donauinsel, dann droht gewiss Unheil.
Madalyn zieht ihren Nachbarn, den sie noch immer siezt, ins Vertrauen, obwohl oder vielleicht weil dieser ihr Vater sein könnte. Sie ist verliebt, zum ersten Mal, und es ist nicht leicht. Zwar kann das Mädchen sich und andere leicht begeistern, ist verträumt, versponnen und aufgekratzt, wie Pubertierende nun einmal sind. Aber einsam ist Madalyn nicht weniger als Lukasser, auch wenn ihre Isolation, anders als bei ihm, keine freiwillige ist. Ihre Eltern schotten sich ab vom Rest der Welt und halten die einzige Tochter in einer Art emotionaler Gefangenschaft, dass die Nachbarn im Haus schon tuscheln, die Familie Reis sei womöglich Mitglied einer Sekte.
Die Wahrheit, die Sebastian Lukasser erst nach und nach herausbekommt, ist weniger spektakulär: Madalyns Vater, ein vielbeschäftigter Manager, ist selten zu Hause. Die Mutter rennt dafür täglich ins Fitness-Studio und ist auch sonst nur mit sich beschäftigt. Ihre Gefühlskälte und ihre willkürlichen Verbote, etwa dass Madalyn nicht am Klassenausflug nach Weimar teilnehmen darf, sind für das Kind eine Qual. Dabei ist sein Leben schon kompliziert genug: Moritz, der Junge, den Madalyn liebt, seit sie ein Gedicht von ihm gehört hat, stammt aus schwierigen Verhältnissen. Beide Eltern weigerten sich nach der Trennung, ihn zu sich zu nehmen. Erst bei einer Tante fand er Unterschlupf. Und nur einer couragierten Lehrerin hat er es zu verdanken, dass er nach einigen Schulverweisen von jenem Gymnasium in der Rahlgasse aufgenommen wird, das auch Madalyn besucht. Statt am Unterricht teilzunehmen, treibt er sich herum, trinkt und knackt Zigarettenautomaten. Madalyn lässt sich davon nicht beirren, im Gegenteil stiehlt sie für den Freund Geld, das er angeblich braucht. In Wahrheit aber ist Moritz ein notorischer Lügner, der nicht nur Gedichte aus dem Internet abschreibt und als eigene ausgibt, sondern sich auch mit Claudia aus der Nachbarklasse noch trifft, als er längst mit Madalyn zusammen ist.
Über das literarische Schreiben hat Köhlmeier einmal verraten, dass es da durchaus "Tricks" gebe, die "auch jeder Lügner kennt": "Bette deine entscheidende Aussage in ein nebensächliches, aber mit hoher Glaubwürdigkeit ausgestattetes Detail, dann wird diese Glaubwürdigkeit dir jenen Kredit verschaffen, den du bei deiner ,Unwahrheit' dringend nötig hast." Nach eben dieser Methode geht Moritz vor. Er spinnt seine Lügen in ein Geflecht aus Wahrheiten, gesteht diese später wiederum ein, um aufs Neue zu täuschen, so dass Madalyn bald nicht mehr erkennen kann, was Dichtung und was Wahrheit ist. Mit Moritz hat Köhlmeier die Technik zur Erzeugung literarischer Welten Gestalt werden lassen. In einer der packendsten Szenen des Romans kommt es folgerichtig sogar zum Schlagabtausch zwischen dem Dichter, mithin dem professionellen, gesellschaftlich akzeptierten Lügner, und dem pathologischen Betrüger Moritz, dessen Beweggründe niemand kennt und der deshalb geächtet wird.
So gerät dieses geistreiche Stück Prosa zum Lehrstück nicht nur über die Wagnisse und Gefährlichkeiten früher Liebe, sondern auch über das Schreiben an sich. Was Michael Köhlmeier literarisch seit jeher umtreibt, nämlich die Frage, aus welcher Perspektive berichtet werden soll, aus der eines allwissenden, gottähnlichen Erzählers oder eben aus der unzuverlässigen Ich-Perspektive einer Figur, geht er hier einmal mehr nach. Nie hören wir Madalyn unmittelbar sprechen, sondern stets nur durch ihren Vermittler Lukasser, der berichtet, was sie ihm zuvor erzählt hat.
Überhaupt ist hier unentwegt die Rede davon, was Literatur, dieser seltsame Drang, die Wirrnisse des Lebens in Geschichten zu ordnen und zu formen, überhaupt soll. Im besten Fall ist Literatur ein Katalog von Präzedenzfällen, heißt es einmal, der uns zeigen und beruhigen soll, das schon andere vor uns getan und erlitten haben, was wir tun und erleiden. Auf "Madalyn" trifft das allemal zu.
Michael Köhlmeier: "Madalyn". Roman. Hanser Verlag, München 2010. 173 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Köhlmeiers neuer Roman ist der Gegenentwurf zu seinem Jahrhundert-Panorama "Abendland". In "Madalyn" erforscht der Österreicher die Wirrnisse der ersten großen Liebe.
Von Sandra Kegel
Nie wieder wollte er sich in die Angelegenheiten anderer Menschen einmischen, hatte Sebastian Lukasser sich nach der Niederschrift seines letzten Romans geschworen. Das eigene Erleben so gering wie möglich zu halten, mit nichts etwas zu tun zu haben, das sich außerhalb seines Kopfes abspielte, das war sein Ziel. Weil er, der berühmte Schriftsteller aus Wien und Ich-Erzähler dieser Geschichte, im Beschreiben, nicht aber im Teilnehmen sein Glück findet. Und dann steht plötzlich Madalyn vor seiner Tür, das Mädchen mit dem dunklen Wuschelkopf aus der Wohnung unter ihm, das ihn Hals über Kopf hineinzieht in ihr kompliziertes, frühlingserwachendes Teenager-Leben.
Anfangs wehrt er sich noch - "Halt dich raus! Sei ein Egoist, du bist alt genug, du darfst!", warnen ihn seine Instinkte - doch vergebens. Sebastian Lukassers selbstverordnete Klausnerei, an der schon seine Beziehung zu der Museumskuratorin Evelyn zerbrochen ist, wird von der Vierzehnjährigen aufgewirbelt, als habe eine Windhose den dritten Wiener Bezirk erfasst. Natürlich rettet diese Lolita ihrem Einsiedler damit das Leben, weil sie ihm die Wirklichkeit jenseits der behaglichen Altbauwohnung in der Heumühlgasse aufzwingt. Und er revanchiert sich, indem er sie, die einen Mitschüler unglücklich liebt, davon abhält, auf dem Balkon einen verzweifelten Schritt nach vorn zu tun. Was sich dazwischen ereignet, berückend schöne Momente wie auch Erschütterungen, die eine erste Liebe verlässlich bereithält, all der Zauber des Anfangs und das Zittern der Gedanken, der Größenwahn der Gefühle und das Wirbeln und Schaukeln - das alles beschreibt Michael Köhlmeier wunderbar klar, leicht und liebevoll. Wie kaum ein anderer versteht er es, die Dinge des Lebens zu schildern, ohne dabei je pathetisch oder sentimental zu werden.
Vor drei Jahren schaffte es der 1949 in Vorarlberg geborene Autor mit seinem Jahrhundert-Panorama "Abendland" auf die Liste der letzten sechs Romane, die um den Deutschen Buchpreis konkurrierten. Der hochambitionierte Versuch, das Wesen des zwanzigsten Jahrhunderts anhand einer Doppelbiographie zu ergründen, führte auf achthundert Seiten an sämtliche Schauplätze der Welt- und Geistesgeschichte; von Göttingen, dem Mekka der Mathematiker, über das Moskau der Stalin-Ära zu der von den Nationalsozialisten ermordeten Nonne Edith Stein und in den Umkreis von Oppenheimers "Manhattan Project" hin zu den Nürnberger Prozessen sowie in den Deutschen Herbst nach Frankfurt. Der "Abendland"-Chronist ist ebenjener Schriftsteller Sebastian Lukasser, dem wir in "Madalyn" aufs Neue begegnen und der nun zum zweiten Mal auf der Longlist des Buchpreises steht.
"Ich habe die Personen liebgewonnen", hatte Köhlmeier zum Abschluss der siebenjährigen Arbeit an seinem Opus magnum erklärt, da könne man den Computer nicht einfach zuklappen und sagen: "So, das war's, jetzt seid ihr weg." So lässt der Romancier sein Alter Ego nochmals aufleben, diesmal allerdings in einer Geschichte, die sich wie der poetologische Gegenentwurf zu "Abendland" liest: Denn "Madalyn", eher lange Erzählung als Roman, besticht auf seinen hundertsiebzig Seiten vor allem durch Begrenzung: Die Ereignisse tragen sich im Sommer des Jahres 2009 in Wien zu, und auch dort eigentlich nur zwischen Naschmarkt, Schwedenplatz und der Urania am Donaukanal. Verlässt einer der Protagonisten doch einmal das vertraute Viertel, etwa in Richtung Donauinsel, dann droht gewiss Unheil.
Madalyn zieht ihren Nachbarn, den sie noch immer siezt, ins Vertrauen, obwohl oder vielleicht weil dieser ihr Vater sein könnte. Sie ist verliebt, zum ersten Mal, und es ist nicht leicht. Zwar kann das Mädchen sich und andere leicht begeistern, ist verträumt, versponnen und aufgekratzt, wie Pubertierende nun einmal sind. Aber einsam ist Madalyn nicht weniger als Lukasser, auch wenn ihre Isolation, anders als bei ihm, keine freiwillige ist. Ihre Eltern schotten sich ab vom Rest der Welt und halten die einzige Tochter in einer Art emotionaler Gefangenschaft, dass die Nachbarn im Haus schon tuscheln, die Familie Reis sei womöglich Mitglied einer Sekte.
Die Wahrheit, die Sebastian Lukasser erst nach und nach herausbekommt, ist weniger spektakulär: Madalyns Vater, ein vielbeschäftigter Manager, ist selten zu Hause. Die Mutter rennt dafür täglich ins Fitness-Studio und ist auch sonst nur mit sich beschäftigt. Ihre Gefühlskälte und ihre willkürlichen Verbote, etwa dass Madalyn nicht am Klassenausflug nach Weimar teilnehmen darf, sind für das Kind eine Qual. Dabei ist sein Leben schon kompliziert genug: Moritz, der Junge, den Madalyn liebt, seit sie ein Gedicht von ihm gehört hat, stammt aus schwierigen Verhältnissen. Beide Eltern weigerten sich nach der Trennung, ihn zu sich zu nehmen. Erst bei einer Tante fand er Unterschlupf. Und nur einer couragierten Lehrerin hat er es zu verdanken, dass er nach einigen Schulverweisen von jenem Gymnasium in der Rahlgasse aufgenommen wird, das auch Madalyn besucht. Statt am Unterricht teilzunehmen, treibt er sich herum, trinkt und knackt Zigarettenautomaten. Madalyn lässt sich davon nicht beirren, im Gegenteil stiehlt sie für den Freund Geld, das er angeblich braucht. In Wahrheit aber ist Moritz ein notorischer Lügner, der nicht nur Gedichte aus dem Internet abschreibt und als eigene ausgibt, sondern sich auch mit Claudia aus der Nachbarklasse noch trifft, als er längst mit Madalyn zusammen ist.
Über das literarische Schreiben hat Köhlmeier einmal verraten, dass es da durchaus "Tricks" gebe, die "auch jeder Lügner kennt": "Bette deine entscheidende Aussage in ein nebensächliches, aber mit hoher Glaubwürdigkeit ausgestattetes Detail, dann wird diese Glaubwürdigkeit dir jenen Kredit verschaffen, den du bei deiner ,Unwahrheit' dringend nötig hast." Nach eben dieser Methode geht Moritz vor. Er spinnt seine Lügen in ein Geflecht aus Wahrheiten, gesteht diese später wiederum ein, um aufs Neue zu täuschen, so dass Madalyn bald nicht mehr erkennen kann, was Dichtung und was Wahrheit ist. Mit Moritz hat Köhlmeier die Technik zur Erzeugung literarischer Welten Gestalt werden lassen. In einer der packendsten Szenen des Romans kommt es folgerichtig sogar zum Schlagabtausch zwischen dem Dichter, mithin dem professionellen, gesellschaftlich akzeptierten Lügner, und dem pathologischen Betrüger Moritz, dessen Beweggründe niemand kennt und der deshalb geächtet wird.
So gerät dieses geistreiche Stück Prosa zum Lehrstück nicht nur über die Wagnisse und Gefährlichkeiten früher Liebe, sondern auch über das Schreiben an sich. Was Michael Köhlmeier literarisch seit jeher umtreibt, nämlich die Frage, aus welcher Perspektive berichtet werden soll, aus der eines allwissenden, gottähnlichen Erzählers oder eben aus der unzuverlässigen Ich-Perspektive einer Figur, geht er hier einmal mehr nach. Nie hören wir Madalyn unmittelbar sprechen, sondern stets nur durch ihren Vermittler Lukasser, der berichtet, was sie ihm zuvor erzählt hat.
Überhaupt ist hier unentwegt die Rede davon, was Literatur, dieser seltsame Drang, die Wirrnisse des Lebens in Geschichten zu ordnen und zu formen, überhaupt soll. Im besten Fall ist Literatur ein Katalog von Präzedenzfällen, heißt es einmal, der uns zeigen und beruhigen soll, das schon andere vor uns getan und erlitten haben, was wir tun und erleiden. Auf "Madalyn" trifft das allemal zu.
Michael Köhlmeier: "Madalyn". Roman. Hanser Verlag, München 2010. 173 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Selten, höchstens bei Martin Walser oder Christoph Hein hat Rezensentin Beatrice von Matt so eindringlich von der Pubertät erzählt bekommen, von diesem Lebensalter aus "Genialität und Verstörung". Michael Köhlmeier geht dabei sehr raffiniert vor, vielleicht sogar etwas zu raffiniert, aber das schmälert die Bewunderung der Rezensentin nur vorübergehend: In dem Roman lässt sich ein Schriftsteller Sebastian Lukasser bei einem Mittagessen von der 14-jährigen Nachbarstochter Madalyn ins Vertrauen ziehen, die völlig verrückt ist nach einem Jungen namens Moritz, den Matt als "ratlosen, kleinen Betrüger" mehr oder weniger ins Herz geschlossen hat. Ziemlich fasziniert ist Matt diesem "inneren Monolog eines Teenagers im krisenhaften Ausnahmezustand" gefolgt, auch wenn sie die Exaktheit, mit der Berichterstatter Lukasser diesen wiedergibt, "haltlos" findet, immerhin habe Madalyn hier bei einem einzigen Mittagessen gesprochen. Mit dem "meisterhaften" Schluss zieht Köhlmeier die Rezensentin dann allerdings wieder ganz auf seine Seite.
© Perlentaucher Medien GmbH
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