Das Hôtel-Dieu, im Schatten der Pariser Kathedrale Notre-Dame, nimmt seit Jahrhunderten mittellose Schwangere auf, die kurz vor der Entbindung stehen und nicht wissen, wohin. Es ist ein Mikrokosmos, der die Gesellschaft unter Extrembedingungen spiegelt - und doch weiß man wenig über die konkreten Bedingungen, das Erleben an diesem vielfach tabuisierten Ort.In den Jahren um 1930 betritt eine junge Frau dieses Heim. In den überfüllten Saal wird, zwischen die Nummern 60 und 61, ein weiteres Bett geschoben: 60a.Henriette Valets Roman Madame 60a begleitet die namenlose, aber nummerierte Protagonistin bis zur Geburt ihres Kindes und zur Entlassung aus dem Hôtel- Dieu. Wir sehen die Routinen und Schmerzen, die Gehässigkeit und Verzweiflung der Frauen, aber auch ihre Freimütigkeit und ihren Zusammenhalt. Die Niedertracht der Situation, in die sie geraten sind, konzentriert die Niedertracht einer ganzen Gesellschaft. Valets Beobachtungen sind unbestechlich, ungeschönt, aber Madame 60a gestattet sich selbst keine Verbitterung: Gegen die Unterdrückung der Frauen ebenso wie gegen deren Resignation erhebt sie eine wütende und ergreifende Anklage.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Marie Schmidt stellt drei Romane vor, die sich mit der Klinik als "Ort literarischer Freiheit" beschäftigen. Einer davon ist die Wiederentdeckung von Henriette Valets "Erfolgsbuch" vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine Ich-Erzählerin begibt sich hochschwanger in das Pariser "Hôtel Dieu", einem Geburtshaus für mittellose Schwangere und erzählt die Geschichten ihrer Mitpatientinnen, resümiert Schmidt. Bei aller "sozialrealistischen Härte", die die Beschreibung von Gerüchen, Körpern und den Schicksalen der Prostituierten und hoffnungslosen Frauen mit sich bringt, erkennt die Rezensentin dieses Haus auch als utopisches Vorbild für Frauen, die sich frei von Scham und beschränkenden Konventionen auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2022Das bin
also ich
Liebe im Ausnahmezustand: Drei Romane machen
die Klinik zum Ort literarischer Freiheit
VON MARIE SCHMIDT
Ein Hauch von Ewigkeit liegt über diesen Geschichten. In der ersten gibt es ein Schwesternwohnheim am Stadtrand und ein Krankenhaus, in dem eine Frau morgendlich den Dienst antritt. Die anderen Schwestern raten, „komm hierher, erledige deine Aufgaben, und dein Kopf wird dir treu bleiben. Du wirst mit jeder Wiederholung besser werden, bis die Arbeit in dir drin ist.“ Die Routine wirkt: „Ich konnte mir keine andere Welt für mich denken“, sagt die Erzählerin.
Ihre Arbeit besteht darin, „neuartige Eingriffe“ zu unterstützen, bei denen Patientinnen ihre psychischen Störungen chirurgisch aus dem Gehirn entfernt werden sollen. Es gab diese Methoden der Lobotomie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Psychiatrie. Aber so wie Yael Inokai in dem Roman „Ein simpler Eingriff“ davon erzählt, auch von altmodischen Schwesternuniformen, selbstsicheren Patriarchen, Ärzten und Vätern der Patientinnen, entsteht der ambivalente Eindruck einer futuristischen Vergangenheit. Da ist ein Zug von „Handmaid’s Tale“, der im Unklaren lässt, ob hier von einer historischen oder dystopischen Zeit die Rede ist.
Das ist die subtile Kunst der Abstraktion, Zeit und Raum so aus der Erzählung zu filtern, dass der Roman selbst nachahmt, wovon er handelt, „die vollkommen anderen Räume“, wie Michel Foucault die Bereiche genannt hat, die zu ordentlich organisierten Gesellschaften dazugehören, aber eben als Ressorts dessen, was sich in ihre Normalität nicht einordnen lässt. In Psychiatrien, Heimen, Gefängnissen und Ferienkolonien herrsche eine entrückte Zeitform, diese Orte seien gut abgegrenzt, aber in ihrem Inneren gälten gewöhnliche Unterschiede nichts mehr, war seine Beschreibung, die enorm prägend wurde für eine bestimmte Form der Gesellschaftsbeobachtung. Und seitdem leider auch zur idée reçue, zum Kritikschlager, paranoid gesteigert in der These vom Ausnahmezustand, der selbst zur Normalität geworden sei, mit der der italienische Philosoph Giorgio Agamben in den Nullerjahren die Geisteswissenschaften verstörte.
Literarisch haben solche Schauplätze oft eine andere Funktion: Es sind Umgebungen, in denen Ambivalenzen erhalten bleiben können, in denen soziale Regeln in ihrer ganzen Härte und zugleich von außen sichtbar sind, in denen das moralische Urteilen einen schwebenden Moment lang aussetzt. Daraus kann ein geradezu romantisches Umfeld werden.
Wie eben im dritten Roman der 1989 in Basel geborenen Yael Inokai. In der entrückten, geisterhaften Szenerie dieses Buches schafft sie sich die erzählerische Freiheit für eine feine, naive Sensibilität. Die Hauptfigur Meret arbeitet als Krankenschwester und ihre Methode ist das Mitgefühl. Sie sieht den Patientinnen in die Augen, die während der Gehirnoperation wach bleiben sollen, damit der Chirurg die „richtige“ Stelle trifft: „Ich achtete auf jedes Wort und jeden Blick. Ich nahm den Menschen ihre Angst“. Die Grenze zwischen Ich und Du löst sich in klinischer Empathie auf.
In der Abgeschiedenheit der Klinik verliebt sich diese extrem durchlässige Frau in eine andere Krankenschwester, mit der sie das Zimmer im Wohnheim teilt. Die Erzählstimme stört die Heimlichkeit durch kein Urteil, keinen Konventionalitäts-Trigger: die Liebesgeschichte ist reines Gefühl, vibrierende Wahrnehmung der Körper und nach einer sterbensschönen Sexszene ein Moment der Scham, Fremdheit und Erkenntnis: „Das war also ich. So sah ich aus.“ Dem Ausnahmeort sei Dank eine Liebe, die ganz aus dem Genderspektrum fällt, könnte man meinen, eine zwischen Menschenkindern. Bis eben doch eine Frage durch die Handlungsebenen schneidet: „Würden sie das nicht über uns beide sagen? Dass das eine psychische Störung ist?“
Damit verliert die verkapselte Welt ihre Sicherheit und die Frage ist, ob die Frauen die abgeschottete Welt der Klinik auch verlassen können, ob sie entkommen. Auf ihrer Instagram-Seite empfiehlt Yael Inokai häufig Bücher: welche, die mit der Zeitschrift „Politisch Schreiben“ zu tun haben, zu deren Redaktion sie gehört, und immer wieder auch welche über lesbische Frauen. In diesen Kanon fügt sich ihr Roman in seiner Zeitlosigkeit als besonders kostbares Beispiel. Man könnte ihn aber eben auch zu den Psychiatrieromanen zählen, die so verstreut erscheinen, dass nie ein fixes Genre daraus wird. Aber es gehen die charismatischsten Bücher daraus hervor, zuletzt Clemens J. Setz’ monumentaler Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ von 2015.
Von der Klinik als schützendem Raum für eine nach den Maßstäben „draußen“ ungehörige Liebe, erzählt auch Annika Domainko in „Ungefähre Tage“: Ein Psychiatriepfleger entwickelt eine fatale Bindung zu einer Patientin. Domainko treibt einen enormen sprachlichen Aufwand, um die Grenze aufzubauen, die dieser Mann täglich überschreitet, zwischen der gewöhnlichen Welt und dem Klinikleben, Desinfektionsmittelgeruch, Diagnoseschlüssel ICD-10, aus der Fasson geratene Körper. Die sogenannte Normalität bleibt daneben betont trivial: Es gibt eine Partnerin des Erzählers, ihr gemeinsames Kind, bourgeoise Schwiegereltern, die auf den Pfleger herabschauen.
In seiner Patientin erkennt er schließlich etwas von sich selbst wieder, das er in seinem Familienalltag zu verbergen versucht hatte. Eine Drogenvergangenheit wird angedeutet und die auch seelisch befestigten Grenzen zwischen der Welt der Psychiatrie und der draußen werden weich. An der Liebesgeschichte prägen sich ein paar der bekannten Probleme der Heterosexualität aus, Machtspielchen zwischen einem älteren Mann und einer jüngeren Frau. Von außen, von Dritten beobachtet klar zu erkennen als Missbrauch einer Schutzbefohlenen.
Der Roman leidet etwas darunter, wie viel Annika Domainko von sich und ihrem Thema erwartet. Sie malt wortreiche Fußnoten in die Erzählung: Es gibt eine Journalistin, die „über den Psychiatriealltag“ schreiben will, überall herumschnüffelt und ihren Foucault gelesen hat. Der Erzähler hat Archäologie studiert wie die Autorin, die heute Sachbuch-Lektorin des Hanser Verlags ist. Er hört einen Podcast, in dem antike griechische Tempel vorkommen: „Das Temenos, dachte ich, bevor sie das Wort aussprachen“, doziert der Mann an sich selber hin: „Ein abgegrenzter, aus der Umwelt herausgeschnittener Bereich, eine sakrale Insel im Profanen…“ Dermaßen umzingelt, verliert das Motiv der Heterotopie sein Charisma vollkommen.
Unbeschwert von Kunstwillen liest sich ein drittes Buch: Es handelt zwar von einer anderen Art Klinik, aber auch die steht für eine Form von Freiheit, eine Souveränität gegenüber dem sozialen Urteil. Henriette Valets „Madame 60a“ ist eine Wiederentdeckung von Anfang des 20. Jahrhunderts. Auf den ersten Seiten saugt eine Frau noch einmal die Lichter, Brücken, Passanten von Paris in sich auf, bevor sie sich der Parallelwelt eines Geburtshauses ausliefert. Dort können arme Frauen einigermaßen versorgt ihre Kinder bekommen: „Ich suche, so langsam wie möglich, Zuflucht im Hôtel-Dieu.“
Von Valet, die im Jahr 1900 in Paris geboren wurde, sind wenige literarische Zeugnisse überliefert. Man weiß, dass sie einige Jahrzehnte mit dem Soziologen und Materialisten Henri Lefebvre verheiratet war, der den Namen seiner Frau allerdings in keinem seiner autobiografischen Texte nannte. Schon in den Vierzigern verstummte Valet, lebte aber noch ein halbes Jahrhundert. „Madame 60a“ ist ein vergessenes Erfolgsbuch.
Die Übersetzerin und Autorin des Nachwortes Henriette Valet vermutet, dass es erlebtes Leben beschreibt, erkennt „Spuren einer literarischen Reportage“. Die schwangere Erzählerin ekelt sich zuerst vor den Körpern, Gerüchen und vulgären Reden der dicht an dicht auf dem Dachboden des Hôtel-Dieu lagernden Frauen. Aber dann nimmt sie sie wahr, erzählt ihre Geschichten, versucht ihren Widerstand gegen ihre erbärmlichen Verhältnisse zu wecken und geht ganz auf in der „Welt von Frauen, in der alle ihre Gemeinsamkeiten zu Tage treten, wo zum Vorschein kommt, was woanders verborgen bleibt – eine Welt ohne Schamhaftigkeit, ohne Schleier, naiv, töricht und beklagenswert.“
Dort erfüllt sie sich den in ihrer Zeit ungehörigen Wunsch „für mich allein“ ihr Kind zu bekommen, „trotz der Gesetze und der Leute“. In die vielstimmigen Schreie des Kreissaals hinein wird das Baby schließlich geboren. Eine solche Ich-Erzählung einer Gebärenden gibt es sicher nicht oft in der Geschichte der Literatur. In allem Schmerz und der Härte des Sozialrealismus dieses Buches wird aus dem Dachboden, auf den man die gefallenen Mädchen, Prostituierten, Hoffnungslosen verbannt ein utopischer Ort. Und wäre das nicht das Buch einer sehr sachlichen Frau, könnte darin stehen: Man kann dort den Kern einer offeneren Gesellschaftsordnung erahnen.
Eine „Welt von Frauen,
in der alle
ihre Gemeinsamkeiten
zu Tage treten,
wo zum
Vorschein kommt,
was woanders
verborgen bleibt“
Yael Inokai:
Ein simpler Eingriff.
Roman. Hanser Berlin, München 2022.
185 Seiten, 20 Euro.
Annika Domainko:
Ungefähre Tage.
Roman. C. H. Beck,
München 2022.
221 Seiten, 23 Euro.
Henriette Valet:
Madame 60a.
Aus dem Französischen
und mit einem Nachwort
von Norma Cassau.
Verlag Das kulturelle
Gedächtnis, Berlin 2022.
232 Seiten, 24 Euro.
Lina Ehrentraut, geboren 1993, ist eine der meistbeachteten Comic-Künstlerinnen ihrer Generation.
Hier posiert sie mit einem selbst entworfenen Overall im Innenhof ihres Wohnhauses im Kolonnadenviertel.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
also ich
Liebe im Ausnahmezustand: Drei Romane machen
die Klinik zum Ort literarischer Freiheit
VON MARIE SCHMIDT
Ein Hauch von Ewigkeit liegt über diesen Geschichten. In der ersten gibt es ein Schwesternwohnheim am Stadtrand und ein Krankenhaus, in dem eine Frau morgendlich den Dienst antritt. Die anderen Schwestern raten, „komm hierher, erledige deine Aufgaben, und dein Kopf wird dir treu bleiben. Du wirst mit jeder Wiederholung besser werden, bis die Arbeit in dir drin ist.“ Die Routine wirkt: „Ich konnte mir keine andere Welt für mich denken“, sagt die Erzählerin.
Ihre Arbeit besteht darin, „neuartige Eingriffe“ zu unterstützen, bei denen Patientinnen ihre psychischen Störungen chirurgisch aus dem Gehirn entfernt werden sollen. Es gab diese Methoden der Lobotomie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Psychiatrie. Aber so wie Yael Inokai in dem Roman „Ein simpler Eingriff“ davon erzählt, auch von altmodischen Schwesternuniformen, selbstsicheren Patriarchen, Ärzten und Vätern der Patientinnen, entsteht der ambivalente Eindruck einer futuristischen Vergangenheit. Da ist ein Zug von „Handmaid’s Tale“, der im Unklaren lässt, ob hier von einer historischen oder dystopischen Zeit die Rede ist.
Das ist die subtile Kunst der Abstraktion, Zeit und Raum so aus der Erzählung zu filtern, dass der Roman selbst nachahmt, wovon er handelt, „die vollkommen anderen Räume“, wie Michel Foucault die Bereiche genannt hat, die zu ordentlich organisierten Gesellschaften dazugehören, aber eben als Ressorts dessen, was sich in ihre Normalität nicht einordnen lässt. In Psychiatrien, Heimen, Gefängnissen und Ferienkolonien herrsche eine entrückte Zeitform, diese Orte seien gut abgegrenzt, aber in ihrem Inneren gälten gewöhnliche Unterschiede nichts mehr, war seine Beschreibung, die enorm prägend wurde für eine bestimmte Form der Gesellschaftsbeobachtung. Und seitdem leider auch zur idée reçue, zum Kritikschlager, paranoid gesteigert in der These vom Ausnahmezustand, der selbst zur Normalität geworden sei, mit der der italienische Philosoph Giorgio Agamben in den Nullerjahren die Geisteswissenschaften verstörte.
Literarisch haben solche Schauplätze oft eine andere Funktion: Es sind Umgebungen, in denen Ambivalenzen erhalten bleiben können, in denen soziale Regeln in ihrer ganzen Härte und zugleich von außen sichtbar sind, in denen das moralische Urteilen einen schwebenden Moment lang aussetzt. Daraus kann ein geradezu romantisches Umfeld werden.
Wie eben im dritten Roman der 1989 in Basel geborenen Yael Inokai. In der entrückten, geisterhaften Szenerie dieses Buches schafft sie sich die erzählerische Freiheit für eine feine, naive Sensibilität. Die Hauptfigur Meret arbeitet als Krankenschwester und ihre Methode ist das Mitgefühl. Sie sieht den Patientinnen in die Augen, die während der Gehirnoperation wach bleiben sollen, damit der Chirurg die „richtige“ Stelle trifft: „Ich achtete auf jedes Wort und jeden Blick. Ich nahm den Menschen ihre Angst“. Die Grenze zwischen Ich und Du löst sich in klinischer Empathie auf.
In der Abgeschiedenheit der Klinik verliebt sich diese extrem durchlässige Frau in eine andere Krankenschwester, mit der sie das Zimmer im Wohnheim teilt. Die Erzählstimme stört die Heimlichkeit durch kein Urteil, keinen Konventionalitäts-Trigger: die Liebesgeschichte ist reines Gefühl, vibrierende Wahrnehmung der Körper und nach einer sterbensschönen Sexszene ein Moment der Scham, Fremdheit und Erkenntnis: „Das war also ich. So sah ich aus.“ Dem Ausnahmeort sei Dank eine Liebe, die ganz aus dem Genderspektrum fällt, könnte man meinen, eine zwischen Menschenkindern. Bis eben doch eine Frage durch die Handlungsebenen schneidet: „Würden sie das nicht über uns beide sagen? Dass das eine psychische Störung ist?“
Damit verliert die verkapselte Welt ihre Sicherheit und die Frage ist, ob die Frauen die abgeschottete Welt der Klinik auch verlassen können, ob sie entkommen. Auf ihrer Instagram-Seite empfiehlt Yael Inokai häufig Bücher: welche, die mit der Zeitschrift „Politisch Schreiben“ zu tun haben, zu deren Redaktion sie gehört, und immer wieder auch welche über lesbische Frauen. In diesen Kanon fügt sich ihr Roman in seiner Zeitlosigkeit als besonders kostbares Beispiel. Man könnte ihn aber eben auch zu den Psychiatrieromanen zählen, die so verstreut erscheinen, dass nie ein fixes Genre daraus wird. Aber es gehen die charismatischsten Bücher daraus hervor, zuletzt Clemens J. Setz’ monumentaler Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ von 2015.
Von der Klinik als schützendem Raum für eine nach den Maßstäben „draußen“ ungehörige Liebe, erzählt auch Annika Domainko in „Ungefähre Tage“: Ein Psychiatriepfleger entwickelt eine fatale Bindung zu einer Patientin. Domainko treibt einen enormen sprachlichen Aufwand, um die Grenze aufzubauen, die dieser Mann täglich überschreitet, zwischen der gewöhnlichen Welt und dem Klinikleben, Desinfektionsmittelgeruch, Diagnoseschlüssel ICD-10, aus der Fasson geratene Körper. Die sogenannte Normalität bleibt daneben betont trivial: Es gibt eine Partnerin des Erzählers, ihr gemeinsames Kind, bourgeoise Schwiegereltern, die auf den Pfleger herabschauen.
In seiner Patientin erkennt er schließlich etwas von sich selbst wieder, das er in seinem Familienalltag zu verbergen versucht hatte. Eine Drogenvergangenheit wird angedeutet und die auch seelisch befestigten Grenzen zwischen der Welt der Psychiatrie und der draußen werden weich. An der Liebesgeschichte prägen sich ein paar der bekannten Probleme der Heterosexualität aus, Machtspielchen zwischen einem älteren Mann und einer jüngeren Frau. Von außen, von Dritten beobachtet klar zu erkennen als Missbrauch einer Schutzbefohlenen.
Der Roman leidet etwas darunter, wie viel Annika Domainko von sich und ihrem Thema erwartet. Sie malt wortreiche Fußnoten in die Erzählung: Es gibt eine Journalistin, die „über den Psychiatriealltag“ schreiben will, überall herumschnüffelt und ihren Foucault gelesen hat. Der Erzähler hat Archäologie studiert wie die Autorin, die heute Sachbuch-Lektorin des Hanser Verlags ist. Er hört einen Podcast, in dem antike griechische Tempel vorkommen: „Das Temenos, dachte ich, bevor sie das Wort aussprachen“, doziert der Mann an sich selber hin: „Ein abgegrenzter, aus der Umwelt herausgeschnittener Bereich, eine sakrale Insel im Profanen…“ Dermaßen umzingelt, verliert das Motiv der Heterotopie sein Charisma vollkommen.
Unbeschwert von Kunstwillen liest sich ein drittes Buch: Es handelt zwar von einer anderen Art Klinik, aber auch die steht für eine Form von Freiheit, eine Souveränität gegenüber dem sozialen Urteil. Henriette Valets „Madame 60a“ ist eine Wiederentdeckung von Anfang des 20. Jahrhunderts. Auf den ersten Seiten saugt eine Frau noch einmal die Lichter, Brücken, Passanten von Paris in sich auf, bevor sie sich der Parallelwelt eines Geburtshauses ausliefert. Dort können arme Frauen einigermaßen versorgt ihre Kinder bekommen: „Ich suche, so langsam wie möglich, Zuflucht im Hôtel-Dieu.“
Von Valet, die im Jahr 1900 in Paris geboren wurde, sind wenige literarische Zeugnisse überliefert. Man weiß, dass sie einige Jahrzehnte mit dem Soziologen und Materialisten Henri Lefebvre verheiratet war, der den Namen seiner Frau allerdings in keinem seiner autobiografischen Texte nannte. Schon in den Vierzigern verstummte Valet, lebte aber noch ein halbes Jahrhundert. „Madame 60a“ ist ein vergessenes Erfolgsbuch.
Die Übersetzerin und Autorin des Nachwortes Henriette Valet vermutet, dass es erlebtes Leben beschreibt, erkennt „Spuren einer literarischen Reportage“. Die schwangere Erzählerin ekelt sich zuerst vor den Körpern, Gerüchen und vulgären Reden der dicht an dicht auf dem Dachboden des Hôtel-Dieu lagernden Frauen. Aber dann nimmt sie sie wahr, erzählt ihre Geschichten, versucht ihren Widerstand gegen ihre erbärmlichen Verhältnisse zu wecken und geht ganz auf in der „Welt von Frauen, in der alle ihre Gemeinsamkeiten zu Tage treten, wo zum Vorschein kommt, was woanders verborgen bleibt – eine Welt ohne Schamhaftigkeit, ohne Schleier, naiv, töricht und beklagenswert.“
Dort erfüllt sie sich den in ihrer Zeit ungehörigen Wunsch „für mich allein“ ihr Kind zu bekommen, „trotz der Gesetze und der Leute“. In die vielstimmigen Schreie des Kreissaals hinein wird das Baby schließlich geboren. Eine solche Ich-Erzählung einer Gebärenden gibt es sicher nicht oft in der Geschichte der Literatur. In allem Schmerz und der Härte des Sozialrealismus dieses Buches wird aus dem Dachboden, auf den man die gefallenen Mädchen, Prostituierten, Hoffnungslosen verbannt ein utopischer Ort. Und wäre das nicht das Buch einer sehr sachlichen Frau, könnte darin stehen: Man kann dort den Kern einer offeneren Gesellschaftsordnung erahnen.
Eine „Welt von Frauen,
in der alle
ihre Gemeinsamkeiten
zu Tage treten,
wo zum
Vorschein kommt,
was woanders
verborgen bleibt“
Yael Inokai:
Ein simpler Eingriff.
Roman. Hanser Berlin, München 2022.
185 Seiten, 20 Euro.
Annika Domainko:
Ungefähre Tage.
Roman. C. H. Beck,
München 2022.
221 Seiten, 23 Euro.
Henriette Valet:
Madame 60a.
Aus dem Französischen
und mit einem Nachwort
von Norma Cassau.
Verlag Das kulturelle
Gedächtnis, Berlin 2022.
232 Seiten, 24 Euro.
Lina Ehrentraut, geboren 1993, ist eine der meistbeachteten Comic-Künstlerinnen ihrer Generation.
Hier posiert sie mit einem selbst entworfenen Overall im Innenhof ihres Wohnhauses im Kolonnadenviertel.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2022Die Revue der irrsinnigen Bäuche
Wiederentdeckt nach achtzig Jahren: Henriette Valets literarische Beobachtung eines Frauenspitals
Henriette Valet beginnt ihren Text unmittelbar, ohne Absatz, ohne Kapitelmarkierung. Zwei, drei Seiten benötigt sie nur, bis ihre Erzählerin das Tor zum ältesten Krankenhaus von Paris aufstößt, dem ganz in der Nähe der Kathedrale Notre-Dame gelegenen Hôtel-Dieu. Schon seit Jahrhunderten wenden sich an dieses Haus vor allem Frauen, die krank, schwanger oder arm sind oder alles zugleich. Am Tor genügt ein Blick der Schwestern auf die runden Bäuche, um die Frauen genauso einzulassen wie die namenlose Ich-Erzählerin, der keine Fragen gestellt und keine Papiere vorgelegt werden. Sie bekommt nur ein Bett, eine Bettpfanne und um die sechzig Nachbarinnen, die sich im Dachgeschoss des Krankenhauses ein paar ineinander übergehende Zimmer teilen. Ihr Bett trägt die Nummer 60a.
"Madame 60a" wird die Erzählerin fortan genannt, und so lautet auch der Titel des Buches, das 1934 erstmals bei Grasset erschien und mehrere Auflagen erlebte, bevor es vollkommen in Vergessenheit geriet und erst vor drei Jahren von den französischen Éditions de l'Arbre Vengeur wieder aufgelegt wurde. Dieser Neuausgabe folgt die nun erschienene deutsche Übersetzung von Norma Cassau. Das Buch ist, wie es in dem ebenfalls von Cassau stammenden, sehr kundigen Nachwort heißt, am ehesten als literarische Reportage zu verstehen. Mit etwas Zynismus ließe es sich auch als teilnehmende Beobachtung beschreiben. Zynisch, weil die Erzählerin auf ihre Teilnahme wohl gut hätte verzichten können, denn im Paris der Zwischenkriegszeit kommt im Entbindungsheim das Elend der ganzen Stadt zusammen. Huren, Dienstmädchen, Minderjährige, Verlassene, Betrogene, Geflohene - der Dimension der Misere sind ebenso wenig Grenzen gesetzt wie der Deformation der weiblichen Körper, die sich in der Enge des Mikrokosmos unerträglich nah kommen. Das ist der erste Schock für die Neuangekommene: zu sehen, wie sich im Dampf des Waschraums die nackten Körper aneinander reiben, wie die Frauen sich immer wieder, wenn die Langeweile zu groß wird, zur "Revue" aufstellen, ihre Hemden heben und mit irrsinnigen Bäuchen durch die Gänge toben. "Ein obszöner Reigen, ein makabrer und spaßiger Kreistanz, eine närrische Karikatur der Fruchtbarkeit." Das Ausmaß an Körperlichkeit wird nur von der Intensität übertroffen, mit der die Frauen ihr Innenleben teilen. Es gibt kaum eine Geschichte, die nicht preisgegeben wird.
Mit vorgehaltenem Gewehr vom Hof gejagt
Die Ich-Erzählerin bei Henriette Valet, die, so legen es wissenschaftliche Nachforschungen nahe, in ihr Buch eine eigene Erfahrung einbringt, hat einen glasklaren Blick für die Besonderheiten ihrer Leidensgenossinnen. In ihrer erzählerischen Perspektive verdichten sich die Frauen zu Typen, die nie beim Namen genannt, sondern stets mit Begriffen bezeichnet werden, die sie gut charakterisieren. So tauchen auf das junge Bauernmädchen, die Minna, die Schnüfflerin, die Hure, die Jüdin, die Halbverrückte und die kleine Bucklige. Jede von ihnen hat ein eigenes Schicksal. Das junge Bauernmädchen beispielsweise ging, wie sie in voller Unschuld berichtet, nur einmal mit einem Jungen ins Feld, kam aber schwanger zurück und wurde vom Vater mit vorgehaltenem Gewehr vom Hof gejagt. Weil irgendjemand ihr verriet, dass man in Paris gut durchkomme, landete sie im Entbindungsheim und schätzt sich dort glücklich. Sie bekommt ein Bett und täglich warmes Essen.
Was sie mit allen anderen eint, ist ihre Unfähigkeit, die eigene Geschichte nicht als (womöglich noch selbst verschuldetes) Schicksal, sondern als Teil eines gesellschaftspolitischen Systems zu sehen, das manche bevorzugt und andere benachteiligt. Die Erzählerin selbst ist sich der Macht dieses Systems allzu bewusst. Für sie sind die Dramen, die in den Dachkammern zur Aufführung kommen, ein Spiegel der äußeren Verhältnisse, in denen neben kapitalistischen auch jene linken Ideen gedeihen, mit denen Henriette Valet ihre Erzählerin ausgestattet hat. So zeigt die sich fassungslos angesichts der Bereitschaft der Frauen, ihr Leid als gegeben hinzunehmen; sich mit den faits divers in den Tageszeitungen zu begnügen, statt die Politikseiten zu lesen; sich dem Pfarrer anzuvertrauen, der wöchentlich einen Besuch abstattet, wobei er "Worte der Hoffnung, des Trostes und des Sichabfindens" verteilt. "Auf das Sichabfinden kommt es an. Der Herr Pfarrer hat mit echten Schmerzen nichts am Hut, er will nur, dass sie hingenommen werden, wie es sich gehört."
Keine Illusionen über die angebliche Mutterfreude
Es gibt kaum ein Thema, das die Erzählerin nicht aufspießt. Es geht um Religion und Politik, um Bigotterie und Ausbeutung. Es geht um Liebe, die sich als Illusion entpuppt - in einem wunderbaren Monolog entzaubert von der Hure, die sich ein einziges Mal erhebt, um den versammelten Frauen ihre Wahrheit über die Männer darzulegen, bevor sie in der Hackordnung der kleinen Gemeinschaft wieder den untersten Platz einnimmt. Denn auch die Dynamiken des Miteinanders werden von der analytischen Beobachtungsgabe der Erzählerin fein seziert. Sie weiß genau, dass andere Regeln gelten, je nachdem ob die Frauen unter sich sind und sich hin und wieder in eine ausgelassen-obszöne Meute verwandeln. Oder ob sie als Angehörige einer sozialen Klasse jene devote Haltung einnehmen, die man ihnen zugesteht. Auch den eigenen psychologischen Prozess des Sicheingewöhnens in die Welt auf dem Dachboden reflektiert die Erzählerin genau, allerdings ohne von sich selbst viel preiszugeben.
Mehr als dass sie glaubte, das "große Glück" gefunden zu haben, erfährt man nicht über sie. Dass sie den anderen in der Einschätzung der Lage, in die sie dieser Glaube brachte, weit überlegen ist, erschließt sich von selbst. Auch über das, was gemeinhin als Mutterfreude bezeichnet wird, macht sie sich keine Illusionen und verweist in stiller Klage auf einen Konflikt, der an vielen Orten dieser Welt noch heute erstaunlich aktuell klingt: "Lügner! Lügner! Ist das Freude, wenn wir nicht wissen, wie wir unser Kleines ernähren sollen? Ist das Freude, wenn wir arbeiten gehen und es allein lassen müssen, oder in traurigen, dunklen Heimen, umgeben von Feuchtigkeit und Langeweile? Und wenn unser Kind rachitisch wird, ist das etwa Freude?" Als Zeitdokument ist "Madame 60a" erschütternd und erhellend. Als literarisches Werk ist es ein psychologisch dichtes und gesellschaftlich hochinteressantes Fundstück, das sicher nicht zufällig in einer Zeit wiederentdeckt wird, die im Zuge von "#MeToo" und "Regretting motherhood" das Frau- und Muttersein neu verhandelt. LENA BOPP
Henriette Valet: "Madame 60a".
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Norma Cassau. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2022. 229 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wiederentdeckt nach achtzig Jahren: Henriette Valets literarische Beobachtung eines Frauenspitals
Henriette Valet beginnt ihren Text unmittelbar, ohne Absatz, ohne Kapitelmarkierung. Zwei, drei Seiten benötigt sie nur, bis ihre Erzählerin das Tor zum ältesten Krankenhaus von Paris aufstößt, dem ganz in der Nähe der Kathedrale Notre-Dame gelegenen Hôtel-Dieu. Schon seit Jahrhunderten wenden sich an dieses Haus vor allem Frauen, die krank, schwanger oder arm sind oder alles zugleich. Am Tor genügt ein Blick der Schwestern auf die runden Bäuche, um die Frauen genauso einzulassen wie die namenlose Ich-Erzählerin, der keine Fragen gestellt und keine Papiere vorgelegt werden. Sie bekommt nur ein Bett, eine Bettpfanne und um die sechzig Nachbarinnen, die sich im Dachgeschoss des Krankenhauses ein paar ineinander übergehende Zimmer teilen. Ihr Bett trägt die Nummer 60a.
"Madame 60a" wird die Erzählerin fortan genannt, und so lautet auch der Titel des Buches, das 1934 erstmals bei Grasset erschien und mehrere Auflagen erlebte, bevor es vollkommen in Vergessenheit geriet und erst vor drei Jahren von den französischen Éditions de l'Arbre Vengeur wieder aufgelegt wurde. Dieser Neuausgabe folgt die nun erschienene deutsche Übersetzung von Norma Cassau. Das Buch ist, wie es in dem ebenfalls von Cassau stammenden, sehr kundigen Nachwort heißt, am ehesten als literarische Reportage zu verstehen. Mit etwas Zynismus ließe es sich auch als teilnehmende Beobachtung beschreiben. Zynisch, weil die Erzählerin auf ihre Teilnahme wohl gut hätte verzichten können, denn im Paris der Zwischenkriegszeit kommt im Entbindungsheim das Elend der ganzen Stadt zusammen. Huren, Dienstmädchen, Minderjährige, Verlassene, Betrogene, Geflohene - der Dimension der Misere sind ebenso wenig Grenzen gesetzt wie der Deformation der weiblichen Körper, die sich in der Enge des Mikrokosmos unerträglich nah kommen. Das ist der erste Schock für die Neuangekommene: zu sehen, wie sich im Dampf des Waschraums die nackten Körper aneinander reiben, wie die Frauen sich immer wieder, wenn die Langeweile zu groß wird, zur "Revue" aufstellen, ihre Hemden heben und mit irrsinnigen Bäuchen durch die Gänge toben. "Ein obszöner Reigen, ein makabrer und spaßiger Kreistanz, eine närrische Karikatur der Fruchtbarkeit." Das Ausmaß an Körperlichkeit wird nur von der Intensität übertroffen, mit der die Frauen ihr Innenleben teilen. Es gibt kaum eine Geschichte, die nicht preisgegeben wird.
Mit vorgehaltenem Gewehr vom Hof gejagt
Die Ich-Erzählerin bei Henriette Valet, die, so legen es wissenschaftliche Nachforschungen nahe, in ihr Buch eine eigene Erfahrung einbringt, hat einen glasklaren Blick für die Besonderheiten ihrer Leidensgenossinnen. In ihrer erzählerischen Perspektive verdichten sich die Frauen zu Typen, die nie beim Namen genannt, sondern stets mit Begriffen bezeichnet werden, die sie gut charakterisieren. So tauchen auf das junge Bauernmädchen, die Minna, die Schnüfflerin, die Hure, die Jüdin, die Halbverrückte und die kleine Bucklige. Jede von ihnen hat ein eigenes Schicksal. Das junge Bauernmädchen beispielsweise ging, wie sie in voller Unschuld berichtet, nur einmal mit einem Jungen ins Feld, kam aber schwanger zurück und wurde vom Vater mit vorgehaltenem Gewehr vom Hof gejagt. Weil irgendjemand ihr verriet, dass man in Paris gut durchkomme, landete sie im Entbindungsheim und schätzt sich dort glücklich. Sie bekommt ein Bett und täglich warmes Essen.
Was sie mit allen anderen eint, ist ihre Unfähigkeit, die eigene Geschichte nicht als (womöglich noch selbst verschuldetes) Schicksal, sondern als Teil eines gesellschaftspolitischen Systems zu sehen, das manche bevorzugt und andere benachteiligt. Die Erzählerin selbst ist sich der Macht dieses Systems allzu bewusst. Für sie sind die Dramen, die in den Dachkammern zur Aufführung kommen, ein Spiegel der äußeren Verhältnisse, in denen neben kapitalistischen auch jene linken Ideen gedeihen, mit denen Henriette Valet ihre Erzählerin ausgestattet hat. So zeigt die sich fassungslos angesichts der Bereitschaft der Frauen, ihr Leid als gegeben hinzunehmen; sich mit den faits divers in den Tageszeitungen zu begnügen, statt die Politikseiten zu lesen; sich dem Pfarrer anzuvertrauen, der wöchentlich einen Besuch abstattet, wobei er "Worte der Hoffnung, des Trostes und des Sichabfindens" verteilt. "Auf das Sichabfinden kommt es an. Der Herr Pfarrer hat mit echten Schmerzen nichts am Hut, er will nur, dass sie hingenommen werden, wie es sich gehört."
Keine Illusionen über die angebliche Mutterfreude
Es gibt kaum ein Thema, das die Erzählerin nicht aufspießt. Es geht um Religion und Politik, um Bigotterie und Ausbeutung. Es geht um Liebe, die sich als Illusion entpuppt - in einem wunderbaren Monolog entzaubert von der Hure, die sich ein einziges Mal erhebt, um den versammelten Frauen ihre Wahrheit über die Männer darzulegen, bevor sie in der Hackordnung der kleinen Gemeinschaft wieder den untersten Platz einnimmt. Denn auch die Dynamiken des Miteinanders werden von der analytischen Beobachtungsgabe der Erzählerin fein seziert. Sie weiß genau, dass andere Regeln gelten, je nachdem ob die Frauen unter sich sind und sich hin und wieder in eine ausgelassen-obszöne Meute verwandeln. Oder ob sie als Angehörige einer sozialen Klasse jene devote Haltung einnehmen, die man ihnen zugesteht. Auch den eigenen psychologischen Prozess des Sicheingewöhnens in die Welt auf dem Dachboden reflektiert die Erzählerin genau, allerdings ohne von sich selbst viel preiszugeben.
Mehr als dass sie glaubte, das "große Glück" gefunden zu haben, erfährt man nicht über sie. Dass sie den anderen in der Einschätzung der Lage, in die sie dieser Glaube brachte, weit überlegen ist, erschließt sich von selbst. Auch über das, was gemeinhin als Mutterfreude bezeichnet wird, macht sie sich keine Illusionen und verweist in stiller Klage auf einen Konflikt, der an vielen Orten dieser Welt noch heute erstaunlich aktuell klingt: "Lügner! Lügner! Ist das Freude, wenn wir nicht wissen, wie wir unser Kleines ernähren sollen? Ist das Freude, wenn wir arbeiten gehen und es allein lassen müssen, oder in traurigen, dunklen Heimen, umgeben von Feuchtigkeit und Langeweile? Und wenn unser Kind rachitisch wird, ist das etwa Freude?" Als Zeitdokument ist "Madame 60a" erschütternd und erhellend. Als literarisches Werk ist es ein psychologisch dichtes und gesellschaftlich hochinteressantes Fundstück, das sicher nicht zufällig in einer Zeit wiederentdeckt wird, die im Zuge von "#MeToo" und "Regretting motherhood" das Frau- und Muttersein neu verhandelt. LENA BOPP
Henriette Valet: "Madame 60a".
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Norma Cassau. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2022. 229 S., geb., 24,- Euro.
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