When published in 1857, "Madame Bovary" was embraced by bourgeois women who claimed it spoke to the frustrations of their lives. Davis's landmark translation gives new life in English to Flaubert's masterwork.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.12.2012Der Racheakt
Dieser Roman war genau die Zumutung, für die der Staatsanwalt ihn hielt - zur Neuausgabe von Gustave Flauberts "Madame Bovary" /
Von Georg M. Oswald
Es muss eine Zumutung ganz besonderer Art gewesen sein, als Gustave Flaubert 1849 seine Freunde Louis Bouilhet und Maxime Du Camp einlud, um ihnen die erste Fassung seines Romans "Die Versuchung des heiligen Antonius" vorzulesen. In voller Länge, versteht sich. Und es ist ein schönes Beispiel dafür, dass Freunde einander die Wahrheit sagen sollten, denn nach stunden- und tagelangem Zuhören wollten sie sich mit ihrer Meinung nicht länger zurückhalten. Sie hatten sich derart gelangweilt, dass sie Flaubert rieten, vom heiligen Antonius abzulassen und sich stattdessen ein "sujet terre à terre" zu suchen, etwas Bodenständiges, etwas von dieser Welt. Die Einwände seiner Freunde müssen so vehement wie überzeugend gewesen sein, denn Flaubert folgte ihnen aufs Wort und wandte sich einem Stoff zu, der heute zu den bekanntesten der Weltliteratur zählt. Es handelte sich um eine Zeitungsgeschichte, die in diesen Jahren von sich reden machte: Der Fall der Delphine Delamare, die in dem normannischen Dorf Ry bei Rouen mit einem unbedeutenden Landarzt verheiratet war, aus Langeweile die Ehe brach, Schulden machte und sich 1848 im Alter von 26 Jahren vergiftete.
Fast fünf Jahre lang arbeitet Flaubert Tag für Tag mit unendlicher Mühe und Geduld an der Formung des, wie es in vielen Darstellungen heißt, "banalen" Stoffes. Ein verräterisches Adjektiv. Banal kann diesen Stoff nur finden, wer glaubt, die Kunst, die Literatur müsse, wo nicht Erhabenes, zumindest Erhebendes zum besten geben. Dieser Gemeinplatz ist der geistige Nährboden für den Skandal, den das Buch bei seinem Erscheinen verursachte, und die Anklage, die es verbieten wollte.
Fünf Jahre arbeitet Flaubert mit größter Hartnäckigkeit tagtäglich an diesem Roman, der darüber hinaus auch die Erfindung eines neuen literarischen Programms ist: ein aus der Abkehr von der Romantik entstandener Realismus, der auf eine schonungslose Entlarvung der Gegenwart zielt. Beinahe täglich gibt Flaubert in unzähligen Briefen über diese Arbeit Auskunft. Er schreibt, er korrigiert, korrigiert wieder, er liest laut, er brüllt, was er geschrieben hat, aus dem Fenster und korrigiert noch einmal. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz, Szene für Szene. Noch in der letzten Fassung vor Drucklegung des Buches, nach Hunderten von Korrekturgängen, nimmt er hie und da letzte, winzige Veränderungen vor.
Die Briefe seien jedem zur Lektüre empfohlen, der glaubt, Literatur sei in erster Linie eine Frage der Inspiration. Die meisten von ihnen sind an Louise Colet adressiert, eine Lyrikerin und seine engste literarische Vertraute in diesen Tagen. Seine Figuren seien ihm zuwider, teilt er ihr mit. Man könnte fragen: Warum schreibt er dann nicht über andere? Die Antwort lautet: Weil es ihm notwendig erscheint. Allen Figuren Flauberts in "Madame Bovary" ist mehr oder weniger zu eigen, was ihm als der Fluch seiner Epoche erscheint: die Floskelhaftigkeit des Denkens, die Vorhersehbarkeit der Gefühle, das Fehlen jeglicher Originalität, die Oberflächlichkeit und, am allerschlimmsten, das Fehlen jedes Bewusstseins davon, dass es so ist.
Dieses Verdikt trifft keineswegs nur den gehörnten Einfaltspinsel Charles. Es trifft genauso auf den notorischen Gewinner Homais zu, den Apotheker, der, wie der letzte Satz des Romans zu berichten weiß, schließlich das Kreuz der Ehrenlegion erhalten haben soll. Was für ein Hohn! Vor allem er ist so ein Meister des geborgten Denkens. Doch auch Emma Bovary opfert ihr Leben uneigentlichen Gefühlen, von denen sie glaubt, sie müsse sie empfinden, weil sie das bei den Romantikern gelesen hat. Ihre Sehnsucht nach Inbrunst lässt sie, auch vor sich selbst, verzweifelt vorgeben, Inbrunst zu empfinden. Aber es bleibt eine unwahre Pose. Flaubert hatte recht, es war dies der Fluch der Epoche. Und obwohl er sie zutiefst verachtete, ging er doch hinaus, um jedes noch so nichtig erscheinende Detail zu studieren und zu beschreiben.
Das Ergebnis, der Roman, lässt am Ende keinen Zweifel. Hier schreibt ein Feind der Gesellschaft. Doch Flaubert ist kein politischer Feind. Er hasst das Bürgertum nicht wie ein Umstürzler. Er hasst es vom Standpunkt eines verhinderten Romantikers aus, der sich der akribischsten realistischen Methode bedient, um sein Personal in jedem Sinne des Wortes vorzuführen, als handle es sich bei dem Roman um einen literarischen Racheakt. Die Verachtung des Bürgertums entsprach dabei durchaus einer Zeitströmung. In den Jahren nach 1848 war das Wort "Bourgeois" zum Schimpfwort geworden. Der Apotheker Homais ist mit seiner geschäftstüchtigen Gefühllosigkeit, der unerträglichen Prahlerei, mit seiner Halbbildung und seinem todesverachtenden Sinn für Profit ein besonders schlimmes Beispiel dafür, was aus den Ideen der Aufklärung hatte werden können.
Elisabeth Edl findet in ihrer Übersetzung einen Ton, der Flauberts beißende Ironie, die manchmal grob, dann wieder sehr versteckt sein kann, überzeugend trifft. Doch es ist nicht so, dass es einem der Autor leichtmachte. Die entscheidenden Schlussfolgerungen überlässt er dem Leser. Eben weil er auf die beschriebene fundamentale Verunsicherung traf, erregte er die Gemüter so sehr. Die bürgerliche Gesellschaft, die für die Definition und Einhaltung allgemeinverbindlicher Werte zuständig sein sollte, wurde allein von ihrer brüchigen Fassade zusammengehalten. Was sie wusste, wusste sie aus zweiter Hand, was sie glaubte, glaubte sie nicht wirklich. Und sie hatte keine Antwort auf die Frage parat, wie ein würdiges und erfülltes Leben zu führen sei.
Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass das Erscheinen des Romans sofort Skandal machte. Hier einige Eigenschaften, die dem Autor und seinem Werk von der Kritik bescheinigt wurden: Seelenlosigkeit, Kälte, holpriger Stil, Dürftigkeit der Sensibilität, entsetzliche Gefühllosigkeit, ohne jeden Zauber, mit einer steinernen Feder geschrieben, gleich dem Messer der Wilden. Hier, was der Kritik vom Autor bescheinigt wurde: "Die Kritik rangiert in der Literatur auf dem untersten Platz, beinahe immer als Form und unbestreitbar als moralischer Wert. Sie kommt noch nach dem Schüttelreim und dem Akrostichon, die immerhin irgendeine Erfindungstätigkeit erfordern." Oder: "Je besser ein Werk ist, desto eher weckt es Kritik. Das ist wie mit den Flöhen, die sich auf die weiße Wäsche stürzen." Nicht nur Kritiker, auch den Staatsanwalt ruft "Madame Bovary" auf den Plan, der Anklage gegen Flaubert erhebt wegen der "Vergehen des Verstoßes gegen die öffentliche und religiöse Moral sowie gegen die Sittlichkeit".
Es ist eine öffentliche, strafrechtliche Klage, die hier geführt wird. Schon allein aus dieser schlichten Tatsache lässt sich die Dimension ableiten, die der Affäre zugeschrieben wurde. Nicht die Rechte eines Einzelnen sollen hier verletzt worden sein, sondern die des Staates, der ganzen Gesellschaft. Auch wenn die Anklage für unsere Ohren reichlich vage, um nicht zu sagen geschmäcklerisch formuliert wirkt: Sie beruht auf der Anwendung der damals geltenden Gesetze auf den Fall. Die angeblich verletzten Vorschriften werden genau zitiert. Doch der Staatsanwalt tut sich mit der Begründung seiner Anklage schwer, denn er spürt zwar die Erschütterung, die der Roman auslöst, aber er kann sie nicht benennen. Seine Strategie läuft darauf hinaus, das Ungesagte des Romans auszusprechen. Für eine strafrechtliche Anklage eine denkbar schwache Position.
Der Verteidiger kann es sich demgegenüber leisten, siegesgewiss aufzutreten. Denn wenn es darum geht, Flaubert als einen hochgeachteten Bürger erscheinen zu lassen, fällt das nicht schwer. Sein Vater war Klinikdirektor in Rouen, sein Bruder ist es zur Zeit des Prozesses, die Familie ist angesehen und wohlhabend, Flaubert selbst wird als ernsthafter und von hochmoralischen Motiven geleiteter Privatgelehrter dargestellt.
Er selbst scheint sich über den Ausgang des Prozesses keineswegs sicher gewesen zu sein. In den Gerichtssaal hatte er einen Schreiber mitgenommen und ihn beauftragt, Wort für Wort die Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidigung mitzuschreiben. Die Dummheiten, die man ihm entgegenhielt, sollten der Nachwelt in allen Details erhalten bleiben.
Diese Mitschriften sind in der Neuausgabe des Romans, die der Hanser-Verlag veranstaltet hat, zum ersten Mal vollständig auf Deutsch enthalten, ebenso wie das Urteil. Es ist ein Freispruch, doch er fällt nicht überzeugend aus. Warum sollte die hochmoralische Intention des Autors, die angeblich dem Text selbst gar nicht zu entnehmen ist, letztlich seine Unschuld begründen? Man lasse sich nicht täuschen. Madame Bovary ist genau die Zumutung, für die sie der Staatsanwalt gehalten hat.
Gustave Flaubert: "Madame Bovary". Roman. Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. Hanser-Verlag, 760 Seiten, 34,90 Euro. Von Georg M. Oswald erschien zuletzt der Roman "Unter Feinden".
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieser Roman war genau die Zumutung, für die der Staatsanwalt ihn hielt - zur Neuausgabe von Gustave Flauberts "Madame Bovary" /
Von Georg M. Oswald
Es muss eine Zumutung ganz besonderer Art gewesen sein, als Gustave Flaubert 1849 seine Freunde Louis Bouilhet und Maxime Du Camp einlud, um ihnen die erste Fassung seines Romans "Die Versuchung des heiligen Antonius" vorzulesen. In voller Länge, versteht sich. Und es ist ein schönes Beispiel dafür, dass Freunde einander die Wahrheit sagen sollten, denn nach stunden- und tagelangem Zuhören wollten sie sich mit ihrer Meinung nicht länger zurückhalten. Sie hatten sich derart gelangweilt, dass sie Flaubert rieten, vom heiligen Antonius abzulassen und sich stattdessen ein "sujet terre à terre" zu suchen, etwas Bodenständiges, etwas von dieser Welt. Die Einwände seiner Freunde müssen so vehement wie überzeugend gewesen sein, denn Flaubert folgte ihnen aufs Wort und wandte sich einem Stoff zu, der heute zu den bekanntesten der Weltliteratur zählt. Es handelte sich um eine Zeitungsgeschichte, die in diesen Jahren von sich reden machte: Der Fall der Delphine Delamare, die in dem normannischen Dorf Ry bei Rouen mit einem unbedeutenden Landarzt verheiratet war, aus Langeweile die Ehe brach, Schulden machte und sich 1848 im Alter von 26 Jahren vergiftete.
Fast fünf Jahre lang arbeitet Flaubert Tag für Tag mit unendlicher Mühe und Geduld an der Formung des, wie es in vielen Darstellungen heißt, "banalen" Stoffes. Ein verräterisches Adjektiv. Banal kann diesen Stoff nur finden, wer glaubt, die Kunst, die Literatur müsse, wo nicht Erhabenes, zumindest Erhebendes zum besten geben. Dieser Gemeinplatz ist der geistige Nährboden für den Skandal, den das Buch bei seinem Erscheinen verursachte, und die Anklage, die es verbieten wollte.
Fünf Jahre arbeitet Flaubert mit größter Hartnäckigkeit tagtäglich an diesem Roman, der darüber hinaus auch die Erfindung eines neuen literarischen Programms ist: ein aus der Abkehr von der Romantik entstandener Realismus, der auf eine schonungslose Entlarvung der Gegenwart zielt. Beinahe täglich gibt Flaubert in unzähligen Briefen über diese Arbeit Auskunft. Er schreibt, er korrigiert, korrigiert wieder, er liest laut, er brüllt, was er geschrieben hat, aus dem Fenster und korrigiert noch einmal. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz, Szene für Szene. Noch in der letzten Fassung vor Drucklegung des Buches, nach Hunderten von Korrekturgängen, nimmt er hie und da letzte, winzige Veränderungen vor.
Die Briefe seien jedem zur Lektüre empfohlen, der glaubt, Literatur sei in erster Linie eine Frage der Inspiration. Die meisten von ihnen sind an Louise Colet adressiert, eine Lyrikerin und seine engste literarische Vertraute in diesen Tagen. Seine Figuren seien ihm zuwider, teilt er ihr mit. Man könnte fragen: Warum schreibt er dann nicht über andere? Die Antwort lautet: Weil es ihm notwendig erscheint. Allen Figuren Flauberts in "Madame Bovary" ist mehr oder weniger zu eigen, was ihm als der Fluch seiner Epoche erscheint: die Floskelhaftigkeit des Denkens, die Vorhersehbarkeit der Gefühle, das Fehlen jeglicher Originalität, die Oberflächlichkeit und, am allerschlimmsten, das Fehlen jedes Bewusstseins davon, dass es so ist.
Dieses Verdikt trifft keineswegs nur den gehörnten Einfaltspinsel Charles. Es trifft genauso auf den notorischen Gewinner Homais zu, den Apotheker, der, wie der letzte Satz des Romans zu berichten weiß, schließlich das Kreuz der Ehrenlegion erhalten haben soll. Was für ein Hohn! Vor allem er ist so ein Meister des geborgten Denkens. Doch auch Emma Bovary opfert ihr Leben uneigentlichen Gefühlen, von denen sie glaubt, sie müsse sie empfinden, weil sie das bei den Romantikern gelesen hat. Ihre Sehnsucht nach Inbrunst lässt sie, auch vor sich selbst, verzweifelt vorgeben, Inbrunst zu empfinden. Aber es bleibt eine unwahre Pose. Flaubert hatte recht, es war dies der Fluch der Epoche. Und obwohl er sie zutiefst verachtete, ging er doch hinaus, um jedes noch so nichtig erscheinende Detail zu studieren und zu beschreiben.
Das Ergebnis, der Roman, lässt am Ende keinen Zweifel. Hier schreibt ein Feind der Gesellschaft. Doch Flaubert ist kein politischer Feind. Er hasst das Bürgertum nicht wie ein Umstürzler. Er hasst es vom Standpunkt eines verhinderten Romantikers aus, der sich der akribischsten realistischen Methode bedient, um sein Personal in jedem Sinne des Wortes vorzuführen, als handle es sich bei dem Roman um einen literarischen Racheakt. Die Verachtung des Bürgertums entsprach dabei durchaus einer Zeitströmung. In den Jahren nach 1848 war das Wort "Bourgeois" zum Schimpfwort geworden. Der Apotheker Homais ist mit seiner geschäftstüchtigen Gefühllosigkeit, der unerträglichen Prahlerei, mit seiner Halbbildung und seinem todesverachtenden Sinn für Profit ein besonders schlimmes Beispiel dafür, was aus den Ideen der Aufklärung hatte werden können.
Elisabeth Edl findet in ihrer Übersetzung einen Ton, der Flauberts beißende Ironie, die manchmal grob, dann wieder sehr versteckt sein kann, überzeugend trifft. Doch es ist nicht so, dass es einem der Autor leichtmachte. Die entscheidenden Schlussfolgerungen überlässt er dem Leser. Eben weil er auf die beschriebene fundamentale Verunsicherung traf, erregte er die Gemüter so sehr. Die bürgerliche Gesellschaft, die für die Definition und Einhaltung allgemeinverbindlicher Werte zuständig sein sollte, wurde allein von ihrer brüchigen Fassade zusammengehalten. Was sie wusste, wusste sie aus zweiter Hand, was sie glaubte, glaubte sie nicht wirklich. Und sie hatte keine Antwort auf die Frage parat, wie ein würdiges und erfülltes Leben zu führen sei.
Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass das Erscheinen des Romans sofort Skandal machte. Hier einige Eigenschaften, die dem Autor und seinem Werk von der Kritik bescheinigt wurden: Seelenlosigkeit, Kälte, holpriger Stil, Dürftigkeit der Sensibilität, entsetzliche Gefühllosigkeit, ohne jeden Zauber, mit einer steinernen Feder geschrieben, gleich dem Messer der Wilden. Hier, was der Kritik vom Autor bescheinigt wurde: "Die Kritik rangiert in der Literatur auf dem untersten Platz, beinahe immer als Form und unbestreitbar als moralischer Wert. Sie kommt noch nach dem Schüttelreim und dem Akrostichon, die immerhin irgendeine Erfindungstätigkeit erfordern." Oder: "Je besser ein Werk ist, desto eher weckt es Kritik. Das ist wie mit den Flöhen, die sich auf die weiße Wäsche stürzen." Nicht nur Kritiker, auch den Staatsanwalt ruft "Madame Bovary" auf den Plan, der Anklage gegen Flaubert erhebt wegen der "Vergehen des Verstoßes gegen die öffentliche und religiöse Moral sowie gegen die Sittlichkeit".
Es ist eine öffentliche, strafrechtliche Klage, die hier geführt wird. Schon allein aus dieser schlichten Tatsache lässt sich die Dimension ableiten, die der Affäre zugeschrieben wurde. Nicht die Rechte eines Einzelnen sollen hier verletzt worden sein, sondern die des Staates, der ganzen Gesellschaft. Auch wenn die Anklage für unsere Ohren reichlich vage, um nicht zu sagen geschmäcklerisch formuliert wirkt: Sie beruht auf der Anwendung der damals geltenden Gesetze auf den Fall. Die angeblich verletzten Vorschriften werden genau zitiert. Doch der Staatsanwalt tut sich mit der Begründung seiner Anklage schwer, denn er spürt zwar die Erschütterung, die der Roman auslöst, aber er kann sie nicht benennen. Seine Strategie läuft darauf hinaus, das Ungesagte des Romans auszusprechen. Für eine strafrechtliche Anklage eine denkbar schwache Position.
Der Verteidiger kann es sich demgegenüber leisten, siegesgewiss aufzutreten. Denn wenn es darum geht, Flaubert als einen hochgeachteten Bürger erscheinen zu lassen, fällt das nicht schwer. Sein Vater war Klinikdirektor in Rouen, sein Bruder ist es zur Zeit des Prozesses, die Familie ist angesehen und wohlhabend, Flaubert selbst wird als ernsthafter und von hochmoralischen Motiven geleiteter Privatgelehrter dargestellt.
Er selbst scheint sich über den Ausgang des Prozesses keineswegs sicher gewesen zu sein. In den Gerichtssaal hatte er einen Schreiber mitgenommen und ihn beauftragt, Wort für Wort die Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidigung mitzuschreiben. Die Dummheiten, die man ihm entgegenhielt, sollten der Nachwelt in allen Details erhalten bleiben.
Diese Mitschriften sind in der Neuausgabe des Romans, die der Hanser-Verlag veranstaltet hat, zum ersten Mal vollständig auf Deutsch enthalten, ebenso wie das Urteil. Es ist ein Freispruch, doch er fällt nicht überzeugend aus. Warum sollte die hochmoralische Intention des Autors, die angeblich dem Text selbst gar nicht zu entnehmen ist, letztlich seine Unschuld begründen? Man lasse sich nicht täuschen. Madame Bovary ist genau die Zumutung, für die sie der Staatsanwalt gehalten hat.
Gustave Flaubert: "Madame Bovary". Roman. Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. Hanser-Verlag, 760 Seiten, 34,90 Euro. Von Georg M. Oswald erschien zuletzt der Roman "Unter Feinden".
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.10.2012Der Mist
und die Lust
Elisabeth Edl hat Gustave Flauberts „Madame Bovary“
neu übersetzt – und schmäht zu Unrecht ihre Vorgänger
VON THOMAS STEINFELD
Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zirkulierte ein Gedanke, der, wäre er auch in seinen praktischen Folgen je allgemein begriffen worden, die Ideale eines bürgerlichen Lebens von vornherein zerstört hätte. „Alles Ideelle, sobald es vom Realen gefordert wird“, sagte Johann Wolfgang Goethe im Sommer 1810 in einem Gespräch mit Friedrich Wilhelm Riemer, „zehrt am Ende dieses und sich selbst auf.“ Fünfzehn Jahre später lautete derselbe Gedanke so: „Abstraktionen in der Wirklichkeit gelten machen, heißt Wirklichkeit zerstören“, schreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“. Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert schließlich, der von Hegel zumindest die „Ästhetik“ und von Goethe das meiste gelesen hatte, fasste die zu diesem Gedanken gehörende Praxis in einer hässlichen Formel zusammen, die er im Jahr 1856 dem Verführer Rodolphe in den Mund legte: „Le monde est cruel, Emma“, „die Welt ist grausam“.
Emma, das ist selbstverständlich Emma Bovary, die Titelheldin des ersten Romans, der von der notwendigen Zerstörung des bürgerlichen Lebens durch seine eigenen Ideale handelt. Und „grausam“ ist die Welt, weil Emma Bovary in ihren Versuchen, ihre Vorstellungen von einer gelungenen Existenz in der Praxis durchzusetzen, tatsächlich unerbittlich ist. Dabei geht es zuerst um die romantische Liebe, um den fanatischen Glauben daran, dass es einen anderen Menschen geben muss, der prinzipiell für das eigene Glück zuständig ist, und dann geht es um die Innenausstattung dieses Glücks, also um die materiellen Attribute eines Daseins, in dem sich ein vermeintlich unvergleichlich kostbares Wesen, eben Madame Bovary, in seiner Auserwähltheit selber zelebriert: es geht um Kleider und Pferde, um ein Zigarettenetui und um Klavierstunden, um das Recht auf ein Leben in der Stadt und um das Geld. Und nichts hält diesem Fanatismus stand: Emma Bovary zerstört nicht nur das eigene Leben, sondern auch das ihres Mannes und ihres Kindes, und sogar ein paar gänzlich Unbeteiligte bleiben in diesem erbarmungslosen „pursuit of happiness“ schwer lädiert zurück.
Es gibt viele Übersetzungen dieses Romans ins Deutsche. Zwei Dutzend sind es mindestens, und es kommt alle paar Jahre eine neue hinzu. Noch immer lieferbar sind einige der alten Übertragungen, wie etwa die 1979 von Irene Riesen überarbeitete von René Schickele aus dem Jahr 1907, oder die heute vom Deutschen Taschenbuch Verlag vertriebene Fassung von Walter Widmer (1959) oder die von Ilse Perker und Ernst Sander (1972), die vom Reclam Verlag vertrieben wird. Der Insel Verlag publizierte im Jahr 1996 die Neuübersetzung von Maria Dessauer, der Haffmans Verlag fünf Jahre später die von Caroline Vollmann (die heute im Fischer Taschenbuchverlag erscheint). In diesen Tagen nun ist, veröffentlicht vom Hanser Verlag, eine neue deutsche Fassung, angefertigt von Elisabeth Edl, hinzugekommen. Alle Übersetzungen miteinander scheinen einen unerhörten intellektuellen wie literarischen Reichtum zu bilden. Denn welcher Übersetzer arbeitet schon wie der andere? Jeder wird, so möchte man meinen, einen neuen Sinn entdecken, eine bislang verborgene Nuance erschließen, eine glückliche Formulierung finden, die dem anderen verschlossen blieb. Und so schreitet, denkt man sich, die Weltliteratur voran.
In der Mitte des Buches, die ehebrecherische Liebe zu Rodolphe ist wieder aufgeflammt, ist Emma Bovary glücklich. Denn sie träumt davon, mit ihrem Geliebten und der Tochter zu fliehen, irgendwohin, in eine prächtige Stadt, in ein Fischerdorf an einem südlichen Strand. Und nie war sie schöner als in diesen Tagen: „Ihre Begierden, ihr Leid, das Erleben von Lust“, heißt es in der Übersetzung von Elisabeth Edl, „und ihre immer noch jugendlichen Illusionen hatten, ganz so wie Mist, Regen, Wind und Sonne bei den Blumen, sie schrittweise weiterentwickelt, und endlich erstrahlte sie in der vollen Blüte ihres Wesens.“ Das ist kein schöner Satz, was vor allem daran liegt, dass er in seiner ausschweifenden Länge und mit seinen zehn Substantiven von einem eher blassen Verb getragen werden muss, das darüber hinaus nach Pädagogik und Bürokratie klingt: „weiterentwickelt“, und das auch noch, als käme es aus einer Broschüre für Lehramtsanwärter, „schrittweise“.
Gustave Flaubert verfügt im Französischen über den Vorteil, dass er das temporale Hilfsverb („hatten“) unmittelbar vor das Verb setzen kann, was dem Satz einen stärkeren Rhythmus verleiht. Er spricht außerdem nicht von „weiterentwickeln“, sondern von „l’avaient par gradation développée“ („hatten sie in Stufen aufsteigend entwickelt“). Und er verfügt über den bösen Effekt, im Französischen die Blumen vor den Mist stellen zu können, sodass der „Mist“ – auch als Metapher für den Geschlechtsakt – als kleiner Spielverderber in den Satz einziehen kann.
Ganz gelungen ist die Übersetzung also nicht, und sie ist es um so weniger, als sich in der Trias „ihre Begierden, ihr Leid, das Erleben von Lust“ das Moderne mit dem Historischen mischt – das Wort „Begierde“ hat im Deutschen in den vergangenen dreißig Jahren eine Bedeutungsverschiebung erlebt, das „Leid“ verweist tatsächlich zurück in alte Zeiten, und das emphatische „Erleben“ gehört eher in die moderne Erlebniskultur als in ein neunzehntes Jahrhundert, das vom „Leben“ als vitalistischer Veranstaltung noch nichts wusste. Auch ist die Formulierung „Erleben von Lust“ zugleich schamhafter und diagnostischer als „l’expérience du plaisir“. Das alles aber wäre nicht weiter schlimm, wenn es sich nicht um ein Werk Gustave Flauberts handelte.
Von diesem Schriftsteller ist bekannt, dass er endlos an seinen Sätzen arbeitet und Jahre angestrengter Arbeit auf jedes seine Bücher verwendet. Seine Freunde, vor allem die Brüder Goncourt, erzählen gern, wie er sich die eigenen Sätze immer wieder vorliest, auch vor Publikum, und dass er sie zuweilen herausbrüllt. Er schreibt nicht schnell, er verfasst vermutlich zunächst einmal schlicht realistische Prosa. Und dann arbeitet er daran, diesen Stil zu überhöhen, zu unterlaufen und zu stören: Zum einen will er, dass Emma Bovarys Anziehungskraft aus dem Text hervortritt, und auch die Anziehungskraft ihrer Illusionen. Er erotisiert seinen Text, bis zur „plénitude de sa nature“ (eigentlich: „Fülle ihrer Natur“, nicht poetisierend: „die volle Blüte ihres Wesens“).
Auf der einen Seite kultiviert er den „Mist“, das Pathologische seiner Figuren, und wird darüber zum Naturalisten. Auf der anderen will er das vollständige Register aller sinnlichen und übersinnlichen Verführungen durchdeklinieren. Am Ende, danach trachtet er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, soll eine Verdichtung von Welt entstehen, ein Stil, der wahrer ist als alle Theorie und konzentrierter als Lyrik. Für einen Übersetzer ist das eine gewaltige Aufgabe. Und es stimmt ja nicht, wenn Elisabeth Edl in ihrem Nachwort erklärt, dass Gustave Flaubert das „ungeschminkte Porträt“ einer Frau geliefert habe. Dazu interessiert ihn die Schminke viel zu sehr, und nicht nur der Glanz, die Wärme und die Glätte, die sie Menschen scheinbar verleiht, sondern auch deren chemische Zusammensetzung. Und dann ist da immer auch eine letzte Distanz, die Gustave Flaubert schon aus juristischen Gründen wahren muss (das Gerichtsverfahren kommt dann trotzdem, der Schriftsteller wird aber freigesprochen): Tatsächlich ermuntert er niemanden zum Ehebruch.
Zu einer solchen Kritik an der neuen Übersetzung gehört das Eingeständnis, dass die anderen jüngeren deutschen Versionen dieses Romans nicht wesentlich besser sind. Aber auch nicht deutlich schlechter. Zwar setzt sich Elisabeth Edl in einem Kommentar am Ende des Buches eigens mit den anderen Fassungen auseinander, verwirft sie als grundsätzlich unzureichend und verlangt eine neue Übersetzung, für die „Satz für Satz auf seine verschiedenen Bedeutungsebenen durchgehört“ werden müsste. Aber sie bleibt hinter den eigenen Anforderungen zurück: Die neue Fassung unterscheidet sich von den älteren vor allem im Kleinen, im Hin und Her möglicher und unmöglicher Alternativen. Sie stellt keineswegs den Durchbruch zu einer endlich angemessenen Übersetzung „dieses Schlüsselwerks der modernen Literatur“ dar, und die älteren Fassungen können daneben bestehen.
Caroline Vollmann spricht von „Kümmernissen“ anstatt von „Leid“, was besser ins Milieu passt. Zwar verfeinert sie den „Mist“ zum „Dung“ (der vermutlich weniger streng riecht), aber sie vermeidet den Bürokratismus des Verbs „entwickeln“, indem sie kurz und bündig schreibt, Emma Bovary, sei „nach und nach zum Erblühen gebracht worden“ – wobei allerdings die Stufen und die Steigerung verloren sind.
Maria Dessauer kennt auch die „Begierden“, spricht aber exakter von der „Erfahrung der Lust“, veredelt den „Mist“ noch weiter zum „Dünger“ und verzichtet auf Steigerung und Entwicklung, indem sie die Heldin, schon weit entfernt vom Original, „allmählich“ erblühen lässt. Nun gut, man versteht, was sie meint. Ganz gewiss falsch ist die Übersetzung von „ses illusions toujours jeunes“ durch „ihre immer neuen Illusionen“ (Maria Dessauer). „Ihre immer noch jugendlichen Illusionen“, wie Elisabeth Edl schreibt, ist zwar auch nicht ganz das Gleiche, was bei Gustave Flaubert steht, aber halbwegs präzise.
Es ist vermutlich unangemessen, von einer Übersetzung einen eigenen Stil zu erwarten, gar einen Stil, welcher Flauberts Realismus, seiner Härte und seinem Umgang mit erotischen Appellen gerecht werden könnte – René Schickeles und Ernst Sanders alte Übersetzungen sind zwar freier als die anderen und kommen einem eigenen Ton nahe, büßen dafür aber mit einem Defizit an Genauigkeit. Enttäuschend ist es jedenfalls, wenn man statt eines eigenen Stils hauptsächlich Varianten mit wechselnden Mängeln entdeckt.
Im Vergleich der Übersetzungen fällt dies am meisten an Stellen auf, in denen es um Physiognomien des Gefühls geht – und es gehört zu diesen Passagen, dass Gustave Flaubert Gefühle so darstellt, dass sich der berechnende Verstand, der sie hervortreibt und belebt, im scheinbar Irrationalen selber bemerkbar macht. „J’ai un amant“, ruft Emma Bovary sich zum Beispiel selber zu, nachdem sie zum ersten Mal mit ihrem Liebhaber geschlafen hat. In Elisabeth Edls Übersetzung heißt es: „Ich habe einen Geliebten. Und sie berauschte sich an dieser Vorstellung, als wäre ihr eine zweite Mädchenblüte zuteil geworden.“ Im Original lautet der zweite Satz: „Se délectant à cette idée comme à celle d’une puberté qui lui serait survenue.“ Doch ebenso wenig wie „sich berauschen“ dasselbe ist wie „se délecter“ (der Fall ist schwierig: eigentlich lutscht Emma Bovary die Idee auf deren Nutzbarkeit für das Gefühl ab), ist eine lyrische „Mädchenblüte“ dasselbe wie eine biologische „Pubertät“ (abgesehen davon, dass das Wort „Mädchenblüte“ wegen Marcel Prousts „jeunes filles en fleurs“ nicht zur Verfügung stehen dürfte).
Eine Formulierung gibt es in der oben besprochenen Passage – in dem Absatz, in dem es um das Aufblühen Emma Bovarys mit dem zur Gewohnheit werdenden Ehebruch geht –, in der diese Schwierigkeiten auf die Spitze getrieben werden. Scheinbar ist darin von Emma Bovarys prächtigen Haaren die Rede. Sie hat sie über dem Nacken zu einem losen Kranz geflochten. „Torsade“ heißt das französische Wort für diese Technik, und Emma Bovary geht nachlässig damit um, denn einzelne Strähnen fallen leicht gedreht herunter: „ils s’enroulaient en une masse lourde négligemment, et selon les hasards de l’adultère, qui les dénouait tous les jours“. Der Satz ist großartig. Denn Gustave Flaubert entfaltet hier ausführlich eine Haarpracht, doch zugleich lenkt er die Anschauung, langsam, ganz beiläufig, von der Frisur auf den Geschlechtsverkehr - und darauf, dass dieser täglich stattfindet.
Elisabeth Edl übersetzt „torsade“ mit „Chignon“. Das ist eine über dem Nacken hochgesteckte Frisur, deren Bezeichnung gleichsam den Sammelbegriff zur „torsade“ bildet (bei der es auch ums Flechten geht). Was damit gewonnen sein soll, ein hierzulande fast unbekanntes französisches Wort durch ein anderes zu ersetzen, das ein bisschen weniger unbekannt ist, dürfte im Dunkeln bleiben. Doch wichtiger ist die Sache mit der Frisur und dem Beischlaf: „Das Haar war zu einer schweren Masse verschlungen, nachlässig und den Launen des Ehebruchs unterworfen, der es tagtäglich löste“, schreibt Elisabeth Edl. Das ist durchaus etwas anderes als das, was auf Französisch dasteht. Denn es geht ja nicht um die „Launen“ des Ehebruchs, sondern um die „Zufälle“. Der außereheliche Geschlechtsverkehr verwandelt sich bei Elisabeth Edl von einem scheinbar eher peripheren Gegenstand zu einem eigenständigen, „launischen“ Subjekt, und diese Aufwertung wird von der Steigerung des Wortes „täglich“ („tous les jours“) in ein „tagtäglich“ bestätigt.
Dadurch aber verändert sich die Logik des ganzen Satzes: Gustave Flaubert hatte eine Ästhetisierung des Ehebruchs bis an ihre Grenze geschaffen, und die letzten Worte des Satzes („tous les jours“) hatten ein Umkippen ins Derbe bloß vorbereitet. Er hatte den Leser erfolgreich eingeladen, zum Voyeur zu werden, auf eine schleichende, sich herantastende Weise – um das Harte, Routinierte, Kriminelle des täglich vollzogenen Aktes (der Ehebruch war in Frankreich bis 1975 strafbar) am Ende nur kurz anzutippen. In der Anschauung, die der Schriftsteller schuf, in den Knoten, Flechten und herunterfallenden Strähnen, hatte er einen Begriff der Heldin mitgeliefert, ganz vorsichtig, halb unausgesprochen, aber sehr verständlich. Die Übersetzung ist dagegen deutlich indiskreter. Sie ignoriert das Schweben und langsame Abrutschen ins Grobe, mit dem sich der Autor aus guten Gründen so viel Mühe gegeben hatte. Sie setzt Ausrufezeichen, wo ein Gedankenstrich gereicht hätte.
Caroline Vollmann dagegen spricht in ihrer Übersetzung zwar von einer „Lockenpracht“, wo im Original von Locken gar nicht die Rede ist. Aber der Übergang von der Frisur zum Beischlaf gelingt ihr leichter und richtiger, als das bei Elisabeth Edl der Fall ist: „sie (die Haare) waren in einem schweren Knoten zusammengeschlungen, nachlässig, und wie es sich nach dem Ehebruch zufällig ergab, bei dem sie sich jeden Tag auflösten.“ Nun gut – auch wenn sich, streng genommen, nicht die Haare auflösen, sondern die Frisur. Und die Ehe, selbstverständlich, obwohl der ebenso ahnungslose wie betrogene Herr Bovary, in prekärer Gemeinschaft mit dem Leser, das erotische Aufblühen dieser Frau unendlich attraktiv findet.
In den vergangenen Jahren hat der Beruf des literarischen Übersetzers eine Aufwertung erfahren – weniger im Finanziellen, denn noch immer arbeiten die meisten Übersetzer unter prekären Bedingungen, denn vielmehr als Berufsstand: Sie sind den Schriftstellern sehr nahe gerückt. Dieser Erfolg scheint sonderbare Folgen nach sich zu ziehen: Denn so wie jedes literarische Werk dadurch gerechtfertigt ist, dass es Literatur ist, so ist nun offenbar jede Übersetzung dadurch begründet, dass es sich dabei um eine Übersetzung handelt.
Das gilt um so mehr, als sich auch bei den Übersetzern längst ein Starwesen herausgebildet hat, ausgewiesen durch Preise, Stipendien und Mitgliedschaften in Akademien, das offenbar zur Folge hat, jede Übersetzung zu einer „kongenialen“ Leistung oder gar zur – endlich! – einzig angemessenen zu erklären. Das ist Unsinn, denn jede Übersetzung muss unvollkommen sein. Und so gewiss es ist, dass jede einzelne halbwegs seriöse Übersetzung das Licht vergrößert, das auf ein Werk geworfen wird, so gewiss ist auch, dass es für jede Übersetzung eines klassischen Werkes Vorläufer gibt – und Nachfolger geben wird. Die Schärfe, mit der Elisabeth Edl die älteren Übersetzungen zurückweist, hat etwas ihrer Profession grundsätzlich Unangemessenes: Sie seien „niederschmetternd“, schreibt sie: „Keine einzige Übersetzung scheint sich der Herausforderung überhaupt bewusst zu sein.“ Dagegen wünscht sich der Leser manchmal, sie hätte die früheren Arbeiten häufiger zu Hilfe genommen, nicht nur guter Lösungen wegen und nicht nur, um die Kollegen auszubeuten, sondern auch aus Respekt vor der Arbeit ihrer Vorgänger. Denn es wird vermutlich nur ein paar Jahre dauern, bis auch sie eine Vorgängerin sein wird.
Der Roman handelt von der
Zerstörung des bürgerlichen
Lebens durch seine Ideale
Von Gustave Flaubert ist
bekannt, dass er endlos an
seinen Sätzen arbeitete
Ist dies „das ungeschminkte
Porträt einer Frau“? Flaubert war
an der Schminke sehr interessiert
Ist die poetische „Mädchenblüte“
dasselbe wie die biologische
„Pubertät“ im Originaltext?
Es gibt keine endgültige, „einzig
angemessene“ Übersetzung
– jede muss unvollkommen sein
„Das Haar war zu einer schweren Masse verschlungen, nachlässig und den Launen des Ehebruchs unterworfen, der es tagtäglich löste“. 1991 verfilmte Claude Chabrol „Madame Bovary“ mit Isabelle Huppert in der Titelrolle.
FOTO: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
Gustave Flaubert:
Madame Bovary. Roman.
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2012.
752 Seiten, 34,90 Euro.
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und die Lust
Elisabeth Edl hat Gustave Flauberts „Madame Bovary“
neu übersetzt – und schmäht zu Unrecht ihre Vorgänger
VON THOMAS STEINFELD
Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zirkulierte ein Gedanke, der, wäre er auch in seinen praktischen Folgen je allgemein begriffen worden, die Ideale eines bürgerlichen Lebens von vornherein zerstört hätte. „Alles Ideelle, sobald es vom Realen gefordert wird“, sagte Johann Wolfgang Goethe im Sommer 1810 in einem Gespräch mit Friedrich Wilhelm Riemer, „zehrt am Ende dieses und sich selbst auf.“ Fünfzehn Jahre später lautete derselbe Gedanke so: „Abstraktionen in der Wirklichkeit gelten machen, heißt Wirklichkeit zerstören“, schreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“. Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert schließlich, der von Hegel zumindest die „Ästhetik“ und von Goethe das meiste gelesen hatte, fasste die zu diesem Gedanken gehörende Praxis in einer hässlichen Formel zusammen, die er im Jahr 1856 dem Verführer Rodolphe in den Mund legte: „Le monde est cruel, Emma“, „die Welt ist grausam“.
Emma, das ist selbstverständlich Emma Bovary, die Titelheldin des ersten Romans, der von der notwendigen Zerstörung des bürgerlichen Lebens durch seine eigenen Ideale handelt. Und „grausam“ ist die Welt, weil Emma Bovary in ihren Versuchen, ihre Vorstellungen von einer gelungenen Existenz in der Praxis durchzusetzen, tatsächlich unerbittlich ist. Dabei geht es zuerst um die romantische Liebe, um den fanatischen Glauben daran, dass es einen anderen Menschen geben muss, der prinzipiell für das eigene Glück zuständig ist, und dann geht es um die Innenausstattung dieses Glücks, also um die materiellen Attribute eines Daseins, in dem sich ein vermeintlich unvergleichlich kostbares Wesen, eben Madame Bovary, in seiner Auserwähltheit selber zelebriert: es geht um Kleider und Pferde, um ein Zigarettenetui und um Klavierstunden, um das Recht auf ein Leben in der Stadt und um das Geld. Und nichts hält diesem Fanatismus stand: Emma Bovary zerstört nicht nur das eigene Leben, sondern auch das ihres Mannes und ihres Kindes, und sogar ein paar gänzlich Unbeteiligte bleiben in diesem erbarmungslosen „pursuit of happiness“ schwer lädiert zurück.
Es gibt viele Übersetzungen dieses Romans ins Deutsche. Zwei Dutzend sind es mindestens, und es kommt alle paar Jahre eine neue hinzu. Noch immer lieferbar sind einige der alten Übertragungen, wie etwa die 1979 von Irene Riesen überarbeitete von René Schickele aus dem Jahr 1907, oder die heute vom Deutschen Taschenbuch Verlag vertriebene Fassung von Walter Widmer (1959) oder die von Ilse Perker und Ernst Sander (1972), die vom Reclam Verlag vertrieben wird. Der Insel Verlag publizierte im Jahr 1996 die Neuübersetzung von Maria Dessauer, der Haffmans Verlag fünf Jahre später die von Caroline Vollmann (die heute im Fischer Taschenbuchverlag erscheint). In diesen Tagen nun ist, veröffentlicht vom Hanser Verlag, eine neue deutsche Fassung, angefertigt von Elisabeth Edl, hinzugekommen. Alle Übersetzungen miteinander scheinen einen unerhörten intellektuellen wie literarischen Reichtum zu bilden. Denn welcher Übersetzer arbeitet schon wie der andere? Jeder wird, so möchte man meinen, einen neuen Sinn entdecken, eine bislang verborgene Nuance erschließen, eine glückliche Formulierung finden, die dem anderen verschlossen blieb. Und so schreitet, denkt man sich, die Weltliteratur voran.
In der Mitte des Buches, die ehebrecherische Liebe zu Rodolphe ist wieder aufgeflammt, ist Emma Bovary glücklich. Denn sie träumt davon, mit ihrem Geliebten und der Tochter zu fliehen, irgendwohin, in eine prächtige Stadt, in ein Fischerdorf an einem südlichen Strand. Und nie war sie schöner als in diesen Tagen: „Ihre Begierden, ihr Leid, das Erleben von Lust“, heißt es in der Übersetzung von Elisabeth Edl, „und ihre immer noch jugendlichen Illusionen hatten, ganz so wie Mist, Regen, Wind und Sonne bei den Blumen, sie schrittweise weiterentwickelt, und endlich erstrahlte sie in der vollen Blüte ihres Wesens.“ Das ist kein schöner Satz, was vor allem daran liegt, dass er in seiner ausschweifenden Länge und mit seinen zehn Substantiven von einem eher blassen Verb getragen werden muss, das darüber hinaus nach Pädagogik und Bürokratie klingt: „weiterentwickelt“, und das auch noch, als käme es aus einer Broschüre für Lehramtsanwärter, „schrittweise“.
Gustave Flaubert verfügt im Französischen über den Vorteil, dass er das temporale Hilfsverb („hatten“) unmittelbar vor das Verb setzen kann, was dem Satz einen stärkeren Rhythmus verleiht. Er spricht außerdem nicht von „weiterentwickeln“, sondern von „l’avaient par gradation développée“ („hatten sie in Stufen aufsteigend entwickelt“). Und er verfügt über den bösen Effekt, im Französischen die Blumen vor den Mist stellen zu können, sodass der „Mist“ – auch als Metapher für den Geschlechtsakt – als kleiner Spielverderber in den Satz einziehen kann.
Ganz gelungen ist die Übersetzung also nicht, und sie ist es um so weniger, als sich in der Trias „ihre Begierden, ihr Leid, das Erleben von Lust“ das Moderne mit dem Historischen mischt – das Wort „Begierde“ hat im Deutschen in den vergangenen dreißig Jahren eine Bedeutungsverschiebung erlebt, das „Leid“ verweist tatsächlich zurück in alte Zeiten, und das emphatische „Erleben“ gehört eher in die moderne Erlebniskultur als in ein neunzehntes Jahrhundert, das vom „Leben“ als vitalistischer Veranstaltung noch nichts wusste. Auch ist die Formulierung „Erleben von Lust“ zugleich schamhafter und diagnostischer als „l’expérience du plaisir“. Das alles aber wäre nicht weiter schlimm, wenn es sich nicht um ein Werk Gustave Flauberts handelte.
Von diesem Schriftsteller ist bekannt, dass er endlos an seinen Sätzen arbeitet und Jahre angestrengter Arbeit auf jedes seine Bücher verwendet. Seine Freunde, vor allem die Brüder Goncourt, erzählen gern, wie er sich die eigenen Sätze immer wieder vorliest, auch vor Publikum, und dass er sie zuweilen herausbrüllt. Er schreibt nicht schnell, er verfasst vermutlich zunächst einmal schlicht realistische Prosa. Und dann arbeitet er daran, diesen Stil zu überhöhen, zu unterlaufen und zu stören: Zum einen will er, dass Emma Bovarys Anziehungskraft aus dem Text hervortritt, und auch die Anziehungskraft ihrer Illusionen. Er erotisiert seinen Text, bis zur „plénitude de sa nature“ (eigentlich: „Fülle ihrer Natur“, nicht poetisierend: „die volle Blüte ihres Wesens“).
Auf der einen Seite kultiviert er den „Mist“, das Pathologische seiner Figuren, und wird darüber zum Naturalisten. Auf der anderen will er das vollständige Register aller sinnlichen und übersinnlichen Verführungen durchdeklinieren. Am Ende, danach trachtet er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, soll eine Verdichtung von Welt entstehen, ein Stil, der wahrer ist als alle Theorie und konzentrierter als Lyrik. Für einen Übersetzer ist das eine gewaltige Aufgabe. Und es stimmt ja nicht, wenn Elisabeth Edl in ihrem Nachwort erklärt, dass Gustave Flaubert das „ungeschminkte Porträt“ einer Frau geliefert habe. Dazu interessiert ihn die Schminke viel zu sehr, und nicht nur der Glanz, die Wärme und die Glätte, die sie Menschen scheinbar verleiht, sondern auch deren chemische Zusammensetzung. Und dann ist da immer auch eine letzte Distanz, die Gustave Flaubert schon aus juristischen Gründen wahren muss (das Gerichtsverfahren kommt dann trotzdem, der Schriftsteller wird aber freigesprochen): Tatsächlich ermuntert er niemanden zum Ehebruch.
Zu einer solchen Kritik an der neuen Übersetzung gehört das Eingeständnis, dass die anderen jüngeren deutschen Versionen dieses Romans nicht wesentlich besser sind. Aber auch nicht deutlich schlechter. Zwar setzt sich Elisabeth Edl in einem Kommentar am Ende des Buches eigens mit den anderen Fassungen auseinander, verwirft sie als grundsätzlich unzureichend und verlangt eine neue Übersetzung, für die „Satz für Satz auf seine verschiedenen Bedeutungsebenen durchgehört“ werden müsste. Aber sie bleibt hinter den eigenen Anforderungen zurück: Die neue Fassung unterscheidet sich von den älteren vor allem im Kleinen, im Hin und Her möglicher und unmöglicher Alternativen. Sie stellt keineswegs den Durchbruch zu einer endlich angemessenen Übersetzung „dieses Schlüsselwerks der modernen Literatur“ dar, und die älteren Fassungen können daneben bestehen.
Caroline Vollmann spricht von „Kümmernissen“ anstatt von „Leid“, was besser ins Milieu passt. Zwar verfeinert sie den „Mist“ zum „Dung“ (der vermutlich weniger streng riecht), aber sie vermeidet den Bürokratismus des Verbs „entwickeln“, indem sie kurz und bündig schreibt, Emma Bovary, sei „nach und nach zum Erblühen gebracht worden“ – wobei allerdings die Stufen und die Steigerung verloren sind.
Maria Dessauer kennt auch die „Begierden“, spricht aber exakter von der „Erfahrung der Lust“, veredelt den „Mist“ noch weiter zum „Dünger“ und verzichtet auf Steigerung und Entwicklung, indem sie die Heldin, schon weit entfernt vom Original, „allmählich“ erblühen lässt. Nun gut, man versteht, was sie meint. Ganz gewiss falsch ist die Übersetzung von „ses illusions toujours jeunes“ durch „ihre immer neuen Illusionen“ (Maria Dessauer). „Ihre immer noch jugendlichen Illusionen“, wie Elisabeth Edl schreibt, ist zwar auch nicht ganz das Gleiche, was bei Gustave Flaubert steht, aber halbwegs präzise.
Es ist vermutlich unangemessen, von einer Übersetzung einen eigenen Stil zu erwarten, gar einen Stil, welcher Flauberts Realismus, seiner Härte und seinem Umgang mit erotischen Appellen gerecht werden könnte – René Schickeles und Ernst Sanders alte Übersetzungen sind zwar freier als die anderen und kommen einem eigenen Ton nahe, büßen dafür aber mit einem Defizit an Genauigkeit. Enttäuschend ist es jedenfalls, wenn man statt eines eigenen Stils hauptsächlich Varianten mit wechselnden Mängeln entdeckt.
Im Vergleich der Übersetzungen fällt dies am meisten an Stellen auf, in denen es um Physiognomien des Gefühls geht – und es gehört zu diesen Passagen, dass Gustave Flaubert Gefühle so darstellt, dass sich der berechnende Verstand, der sie hervortreibt und belebt, im scheinbar Irrationalen selber bemerkbar macht. „J’ai un amant“, ruft Emma Bovary sich zum Beispiel selber zu, nachdem sie zum ersten Mal mit ihrem Liebhaber geschlafen hat. In Elisabeth Edls Übersetzung heißt es: „Ich habe einen Geliebten. Und sie berauschte sich an dieser Vorstellung, als wäre ihr eine zweite Mädchenblüte zuteil geworden.“ Im Original lautet der zweite Satz: „Se délectant à cette idée comme à celle d’une puberté qui lui serait survenue.“ Doch ebenso wenig wie „sich berauschen“ dasselbe ist wie „se délecter“ (der Fall ist schwierig: eigentlich lutscht Emma Bovary die Idee auf deren Nutzbarkeit für das Gefühl ab), ist eine lyrische „Mädchenblüte“ dasselbe wie eine biologische „Pubertät“ (abgesehen davon, dass das Wort „Mädchenblüte“ wegen Marcel Prousts „jeunes filles en fleurs“ nicht zur Verfügung stehen dürfte).
Eine Formulierung gibt es in der oben besprochenen Passage – in dem Absatz, in dem es um das Aufblühen Emma Bovarys mit dem zur Gewohnheit werdenden Ehebruch geht –, in der diese Schwierigkeiten auf die Spitze getrieben werden. Scheinbar ist darin von Emma Bovarys prächtigen Haaren die Rede. Sie hat sie über dem Nacken zu einem losen Kranz geflochten. „Torsade“ heißt das französische Wort für diese Technik, und Emma Bovary geht nachlässig damit um, denn einzelne Strähnen fallen leicht gedreht herunter: „ils s’enroulaient en une masse lourde négligemment, et selon les hasards de l’adultère, qui les dénouait tous les jours“. Der Satz ist großartig. Denn Gustave Flaubert entfaltet hier ausführlich eine Haarpracht, doch zugleich lenkt er die Anschauung, langsam, ganz beiläufig, von der Frisur auf den Geschlechtsverkehr - und darauf, dass dieser täglich stattfindet.
Elisabeth Edl übersetzt „torsade“ mit „Chignon“. Das ist eine über dem Nacken hochgesteckte Frisur, deren Bezeichnung gleichsam den Sammelbegriff zur „torsade“ bildet (bei der es auch ums Flechten geht). Was damit gewonnen sein soll, ein hierzulande fast unbekanntes französisches Wort durch ein anderes zu ersetzen, das ein bisschen weniger unbekannt ist, dürfte im Dunkeln bleiben. Doch wichtiger ist die Sache mit der Frisur und dem Beischlaf: „Das Haar war zu einer schweren Masse verschlungen, nachlässig und den Launen des Ehebruchs unterworfen, der es tagtäglich löste“, schreibt Elisabeth Edl. Das ist durchaus etwas anderes als das, was auf Französisch dasteht. Denn es geht ja nicht um die „Launen“ des Ehebruchs, sondern um die „Zufälle“. Der außereheliche Geschlechtsverkehr verwandelt sich bei Elisabeth Edl von einem scheinbar eher peripheren Gegenstand zu einem eigenständigen, „launischen“ Subjekt, und diese Aufwertung wird von der Steigerung des Wortes „täglich“ („tous les jours“) in ein „tagtäglich“ bestätigt.
Dadurch aber verändert sich die Logik des ganzen Satzes: Gustave Flaubert hatte eine Ästhetisierung des Ehebruchs bis an ihre Grenze geschaffen, und die letzten Worte des Satzes („tous les jours“) hatten ein Umkippen ins Derbe bloß vorbereitet. Er hatte den Leser erfolgreich eingeladen, zum Voyeur zu werden, auf eine schleichende, sich herantastende Weise – um das Harte, Routinierte, Kriminelle des täglich vollzogenen Aktes (der Ehebruch war in Frankreich bis 1975 strafbar) am Ende nur kurz anzutippen. In der Anschauung, die der Schriftsteller schuf, in den Knoten, Flechten und herunterfallenden Strähnen, hatte er einen Begriff der Heldin mitgeliefert, ganz vorsichtig, halb unausgesprochen, aber sehr verständlich. Die Übersetzung ist dagegen deutlich indiskreter. Sie ignoriert das Schweben und langsame Abrutschen ins Grobe, mit dem sich der Autor aus guten Gründen so viel Mühe gegeben hatte. Sie setzt Ausrufezeichen, wo ein Gedankenstrich gereicht hätte.
Caroline Vollmann dagegen spricht in ihrer Übersetzung zwar von einer „Lockenpracht“, wo im Original von Locken gar nicht die Rede ist. Aber der Übergang von der Frisur zum Beischlaf gelingt ihr leichter und richtiger, als das bei Elisabeth Edl der Fall ist: „sie (die Haare) waren in einem schweren Knoten zusammengeschlungen, nachlässig, und wie es sich nach dem Ehebruch zufällig ergab, bei dem sie sich jeden Tag auflösten.“ Nun gut – auch wenn sich, streng genommen, nicht die Haare auflösen, sondern die Frisur. Und die Ehe, selbstverständlich, obwohl der ebenso ahnungslose wie betrogene Herr Bovary, in prekärer Gemeinschaft mit dem Leser, das erotische Aufblühen dieser Frau unendlich attraktiv findet.
In den vergangenen Jahren hat der Beruf des literarischen Übersetzers eine Aufwertung erfahren – weniger im Finanziellen, denn noch immer arbeiten die meisten Übersetzer unter prekären Bedingungen, denn vielmehr als Berufsstand: Sie sind den Schriftstellern sehr nahe gerückt. Dieser Erfolg scheint sonderbare Folgen nach sich zu ziehen: Denn so wie jedes literarische Werk dadurch gerechtfertigt ist, dass es Literatur ist, so ist nun offenbar jede Übersetzung dadurch begründet, dass es sich dabei um eine Übersetzung handelt.
Das gilt um so mehr, als sich auch bei den Übersetzern längst ein Starwesen herausgebildet hat, ausgewiesen durch Preise, Stipendien und Mitgliedschaften in Akademien, das offenbar zur Folge hat, jede Übersetzung zu einer „kongenialen“ Leistung oder gar zur – endlich! – einzig angemessenen zu erklären. Das ist Unsinn, denn jede Übersetzung muss unvollkommen sein. Und so gewiss es ist, dass jede einzelne halbwegs seriöse Übersetzung das Licht vergrößert, das auf ein Werk geworfen wird, so gewiss ist auch, dass es für jede Übersetzung eines klassischen Werkes Vorläufer gibt – und Nachfolger geben wird. Die Schärfe, mit der Elisabeth Edl die älteren Übersetzungen zurückweist, hat etwas ihrer Profession grundsätzlich Unangemessenes: Sie seien „niederschmetternd“, schreibt sie: „Keine einzige Übersetzung scheint sich der Herausforderung überhaupt bewusst zu sein.“ Dagegen wünscht sich der Leser manchmal, sie hätte die früheren Arbeiten häufiger zu Hilfe genommen, nicht nur guter Lösungen wegen und nicht nur, um die Kollegen auszubeuten, sondern auch aus Respekt vor der Arbeit ihrer Vorgänger. Denn es wird vermutlich nur ein paar Jahre dauern, bis auch sie eine Vorgängerin sein wird.
Der Roman handelt von der
Zerstörung des bürgerlichen
Lebens durch seine Ideale
Von Gustave Flaubert ist
bekannt, dass er endlos an
seinen Sätzen arbeitete
Ist dies „das ungeschminkte
Porträt einer Frau“? Flaubert war
an der Schminke sehr interessiert
Ist die poetische „Mädchenblüte“
dasselbe wie die biologische
„Pubertät“ im Originaltext?
Es gibt keine endgültige, „einzig
angemessene“ Übersetzung
– jede muss unvollkommen sein
„Das Haar war zu einer schweren Masse verschlungen, nachlässig und den Launen des Ehebruchs unterworfen, der es tagtäglich löste“. 1991 verfilmte Claude Chabrol „Madame Bovary“ mit Isabelle Huppert in der Titelrolle.
FOTO: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
Gustave Flaubert:
Madame Bovary. Roman.
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2012.
752 Seiten, 34,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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