Diese Sammlung enthält ausgewählte Gedichte John Ashberys aus all seinen Schaffensperioden: Von den frühen, vom Surrealismus inspirierten Gedichten aus der französischen Periode bis zu Texten aus den zuletzt erschienenen Bänden soll ein Einblick gegeben werden in die poetische Werkstatt des "bedeutendsten lebenden Lyriker der Vereinigten Staaten." (Ingrid Heinrich-Jost, Frankfurter Allgemeine Zeitung)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2002Die Zeit, sich zurückzuziehen, ist nah
Alles nur geträumt: John Ashberys Gedichte sind auf überraschende Weise einleuchtend
Immer wieder wird auch sein Name genannt, wenn von Kandidaten für den Literatur-Nobelpreis die Rede ist. Dennoch geht John Ashberys Ruhm auf Taubenfüßen. Es ist ein Ruhm für Liebhaber und passionierte Hermeneuten der Lyrik. Ashbery bedient durchaus nicht das seit Walt Whitman grassierende Vorurteil, wonach amerikanische Poeten besonders hemdsärmelig und kommunikativ sind. Seiner Wirkung auf Lyrik-Fans tat das keinen Abbruch. Nach sechs eher erfolglosen Bänden gelang Ashbery der Coup: Für den Band "Self Portrait in a Convex Mirror" (1975) erhielt er gleich drei bedeutende Auszeichnungen, darunter den Pulitzer Prize for Poetry. Schon Mitte der siebziger Jahre verzeichnete eine amerikanische Bibliographie einige hundert Arbeiten über den Dichter. Inzwischen gibt es in den englischsprechenden Ländern regelrechte Ashbery-Schulen. Auch in der gegenwärtigen deutschen Lyrik ist sein Einfluß spürbar. Freilich eher subkutan. Die offene Nachahmung geht fast immer schief. Das elegante Spiel mit dem Risiko beherrscht nur der Meister selbst.
Er tut es seit fast fünfzig Jahren und, wie es scheint, ohne zu ermüden. Der heute fünfundsiebzigjährige Ashbery ist ein sanfter Provokateur, der auch widerstrebende Leser fasziniert. Eine Fähigkeit, die schon der Debütant bewies. Beim Yale Younger Poets Prize 1956 waren im ersten Durchgang alle eingesandten Manuskripte abgelehnt worden. Als Ashbery dann seine Texte noch einmal vorlegte, sprach ihm W. H. Auden den Preis zu. Ja, er steuerte zu dem Debütband "Some Trees" sogar ein Nachwort bei. Einem Freund soll Auden freilich gesagt haben, er habe nie ein einziges Wort Ashberys verstanden. Ein sehr ernster Scherz. Nicht ganz so ernst ist die Ironie eines ansonsten sehr respektablen Kollegen zu nehmen. Philip Larkin, ein enragierter Verächter des Modernismus, hat einmal gekalauert: "What about Ashbery, I'd prefer strawberry."
Ashbery selbst will das Schwierige seiner Poesie gar nicht so recht einsehen. In einem Interview hat er geäußert: "Und was das Verstehen angeht, gibt es da wirklich etwas zu verstehen? . . . Was das Gedicht ist, wird vom Leser bestimmt werden." Schöner noch formulieren einige Verse die Vorstellung vom souveränen Leser. "Paradoxa und Oxymora" beginnt: "Dieses Gedicht befaßt sich mit Sprache auf einer sehr einfachen Ebene. / Schau, wie es zu dir spricht." Und so spricht das Gedicht weiter bis zur schließlichen Pointe: "Das Gedicht bist du."
Das ist doch sehr ermutigend. Der Leser, wie ihn Ashbery sich wünscht, ist nun am Zuge. Es ist ein Leser, der sich zutraut, jene Dinge zu ergänzen, die der Dichter nach eigenem Bekunden ausgelassen hat, nämlich die "Beschreibung von Schmerz, und Sex, und wie unberechenbar die Leute unter einander sind". Das ist viel, aber nicht zu viel verlangt. Diese ostentative Zurückhaltung kann man Diskretion nennen: Diskretion im Thematischen. Oder auch Peinlichkeitsvermeidung, nämlich im Ton. Es gibt keine Zeile bei Ashbery, wo er ein Zuviel an Emotion, zuviel Pedal gibt. Wer länger bei seinen Gedichten verweilt, wird bemerken, wie "Schmerz" und "Sex", freilich in ihrer sublimiertesten Art, ins Bewußtsein zurückkehren.
Der deutsche Leser, vor allem derjenige, der Ashbery kennenlernen möchte, kann jetzt die Probe aufs Exempel einer schöpferischen Lektüre machen. Joachim Sartorius, der vor zwei Jahrzehnten die deutsche Ashbery-Rezeption eröffnete, legt eine Auswahl aus dem Gesamtwerk vor. "Mädchen auf der Flucht" umfaßt Proben aus allen Produktionsphasen des Autors und bringt verdienstvollerweise auch die amerikanischen Originale. Und siehe da: Die Lektüre zeigt, daß Ashbery auf überraschende Weise einleuchtend sein kann. Vorausgesetzt, man überläßt sich dem Fluß seiner Bilder und Assoziationen.
Das Eingangsgedicht stammt aus Ashberys Erstling "Some Trees" (1956). Es gibt beinahe so etwas wie eine Leseanweisung, den Entwurf einer Poetik: "Alles, Schönheit, Widerhall, Unversehrtes, / Ist durch Beraubung so oder durch Logik seltsamer Anordnung." Wenn der Dichter die Sprache ihrer stabilen Weltsicht beraubt und die Dinge neu mischt, erzeugt er eine schöne befremdende Schönheit, eine surreale Qualität. Ashbery hat später die Sprünge zwischen den Bildwelten gemindert. Aber er blieb ein Meister überraschender Eröffnungen und taktischer Finten.
Seine reife Lyrik zeigt seine stupenden Fähigkeiten zur Integration. In langen Meditationen über Illusion und Realität, Alltag und Artefakt sind die Echos von Walt Whitman und Wallace Stevens hörbar. Aber auch Themen und Motive der Malerei werden zu Ausgangspunkten poetischer Erkundungen. Ashberys entscheidender Impuls war Anfang der Fünfziger die Begegnung mit den Malern der New York School, den abstrakten Expressionisten wie Kline, de Kooning, Pollock und Rothko. Wichtig vor allem wurden ihm Kitaj und Larry Rivers. Sie ermöglichten ihm, sich von Bedeutung abzusetzen und seine Gedichte gleichsam opak zu machen. Freilich war Ashbery nicht an bloßen Analogien zu abstrakten Bildern interessiert. Im Gegenteil: Er läßt sich eher von gegenständlicher Kunst inspirieren und schiebt in den Texten Schichten von Interpretationen übereinander, um die Bedeutung endgültig einzudunkeln. Eines der faszinierendsten Stücke dieses Genres ist das Titelgedicht des Bandes "Self-Portrait in a Convex Mirror", das seinen Ausgang bei Parmigianinos rätselvollem Bild im Wiener Kunsthistorischen Museum nimmt. Hier, wo das Sujet gewissermaßen vor Augen steht, kann man des Dichters ingeniöse Technik studieren. Ashbery beherrscht meisterhaft die zwei Strategien der Moderne: das Spiel mit der Originalität und das Unterlaufen der Erwartung.
Die späteren Gedichte zeigen einen entspannten Autor, dessen spöttischer Witz in schalkhaften Humor übergehen kann. Ashbery, der eine alte Villa in Hudson-upon-Hudson bewohnt, ist zum Liebhaber des Bukolischen geworden. Er mischt noch einmal seine Karten, seine Themen. Schon 1979 hatte er in "Spätes Echo" gemutmaßt: "Allein mit unserer Verrücktheit und unserer Lieblingsblume / wissen wir, daß nichts wirklich bleibt, über das man noch schreiben könnte." Doch der fintenreiche Poet setzt diese resignative Eröffnung nur, um sie sogleich zu korrigieren: "Oder vielmehr ist es nötig, über die gleichen alten Dinge zu schreiben, / in der gleichen Weise und der allmählichen eigenen Veränderung willen." Das klingt fast wie ein Bekenntnis.
Unverkennbar ist die Wiederaufnahme von Themen, Rückwendung zu "alten" Themen. An Parmigianinos Stelle tritt Caravaggio. Doch das Gedicht handelt nicht vom Meister, sondern von seinen Schülern. "Die Zeit, sich zurückzuziehen, ist jetzt / sehr nah", heißt es am Schluß. "Meister" Ashbery sieht sich zurück und entwirft Miniaturen. "Dieses Zimmer" etwa führt uns in ein geträumtes Zimmer und zeigt im Porträt eines Hundes das lyrische Ich, "als ich noch klein war". Der Schluß ist eine Kindheitsreminiszenz: "Jeden Mittag aßen wir Makkaroni / außer am Sonntag, wenn eine kleine Wachtel überredet wurde, / uns aufgetragen zu werden. Warum erzähl ich dir das alles? / Du bist nicht einmal da." Was man das absolute Gedicht nannte, das Gedicht ohne Adressaten, ist hier zur Vignette geworden, die alle Prätention fallenläßt und einen heiteren Schmerz, eine kleine schmerzliche Heiterkeit zeigt. Der implizierte Leser bekommt geradezu ein schlechtes Gewissen, daß er sich nicht zu erkennen gab. Ja, möchte er rufen: Ich bin ja da, lieber J.-A. (wie sich der Dichter manchmal nennt). Bin da in diesem wunderbaren Gedicht.
John Ashbery, dieser urbane, diskrete Mann, verabscheut den pathetischen Ton, pflegt das Ostküsten-Understatement. Sartorius erwähnt im Nachwort eine Nebenbeibemerkung seines Freunds: Das Gedicht könne wie eine "Stretchsocke" sein. Ja, Ashberys Gedichte mögen solche Socken sein. Dehnbar. Natürlich von bester Qualität. Sie passen sich den Füßen des Lesers an. Schlüpfen wir hinein.
John Ashbery: "Mädchen auf der Flucht". Ausgewählte Gedichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Joachim Sartorius. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Erwin Einziger, Matthias Göritz, Durs Grünbein, Michael Krüger, Klaus Reichert und Joachim Sartorius. Hanser Verlag, München 2002. 167 S., br. 17,90 [Euro].
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Alles nur geträumt: John Ashberys Gedichte sind auf überraschende Weise einleuchtend
Immer wieder wird auch sein Name genannt, wenn von Kandidaten für den Literatur-Nobelpreis die Rede ist. Dennoch geht John Ashberys Ruhm auf Taubenfüßen. Es ist ein Ruhm für Liebhaber und passionierte Hermeneuten der Lyrik. Ashbery bedient durchaus nicht das seit Walt Whitman grassierende Vorurteil, wonach amerikanische Poeten besonders hemdsärmelig und kommunikativ sind. Seiner Wirkung auf Lyrik-Fans tat das keinen Abbruch. Nach sechs eher erfolglosen Bänden gelang Ashbery der Coup: Für den Band "Self Portrait in a Convex Mirror" (1975) erhielt er gleich drei bedeutende Auszeichnungen, darunter den Pulitzer Prize for Poetry. Schon Mitte der siebziger Jahre verzeichnete eine amerikanische Bibliographie einige hundert Arbeiten über den Dichter. Inzwischen gibt es in den englischsprechenden Ländern regelrechte Ashbery-Schulen. Auch in der gegenwärtigen deutschen Lyrik ist sein Einfluß spürbar. Freilich eher subkutan. Die offene Nachahmung geht fast immer schief. Das elegante Spiel mit dem Risiko beherrscht nur der Meister selbst.
Er tut es seit fast fünfzig Jahren und, wie es scheint, ohne zu ermüden. Der heute fünfundsiebzigjährige Ashbery ist ein sanfter Provokateur, der auch widerstrebende Leser fasziniert. Eine Fähigkeit, die schon der Debütant bewies. Beim Yale Younger Poets Prize 1956 waren im ersten Durchgang alle eingesandten Manuskripte abgelehnt worden. Als Ashbery dann seine Texte noch einmal vorlegte, sprach ihm W. H. Auden den Preis zu. Ja, er steuerte zu dem Debütband "Some Trees" sogar ein Nachwort bei. Einem Freund soll Auden freilich gesagt haben, er habe nie ein einziges Wort Ashberys verstanden. Ein sehr ernster Scherz. Nicht ganz so ernst ist die Ironie eines ansonsten sehr respektablen Kollegen zu nehmen. Philip Larkin, ein enragierter Verächter des Modernismus, hat einmal gekalauert: "What about Ashbery, I'd prefer strawberry."
Ashbery selbst will das Schwierige seiner Poesie gar nicht so recht einsehen. In einem Interview hat er geäußert: "Und was das Verstehen angeht, gibt es da wirklich etwas zu verstehen? . . . Was das Gedicht ist, wird vom Leser bestimmt werden." Schöner noch formulieren einige Verse die Vorstellung vom souveränen Leser. "Paradoxa und Oxymora" beginnt: "Dieses Gedicht befaßt sich mit Sprache auf einer sehr einfachen Ebene. / Schau, wie es zu dir spricht." Und so spricht das Gedicht weiter bis zur schließlichen Pointe: "Das Gedicht bist du."
Das ist doch sehr ermutigend. Der Leser, wie ihn Ashbery sich wünscht, ist nun am Zuge. Es ist ein Leser, der sich zutraut, jene Dinge zu ergänzen, die der Dichter nach eigenem Bekunden ausgelassen hat, nämlich die "Beschreibung von Schmerz, und Sex, und wie unberechenbar die Leute unter einander sind". Das ist viel, aber nicht zu viel verlangt. Diese ostentative Zurückhaltung kann man Diskretion nennen: Diskretion im Thematischen. Oder auch Peinlichkeitsvermeidung, nämlich im Ton. Es gibt keine Zeile bei Ashbery, wo er ein Zuviel an Emotion, zuviel Pedal gibt. Wer länger bei seinen Gedichten verweilt, wird bemerken, wie "Schmerz" und "Sex", freilich in ihrer sublimiertesten Art, ins Bewußtsein zurückkehren.
Der deutsche Leser, vor allem derjenige, der Ashbery kennenlernen möchte, kann jetzt die Probe aufs Exempel einer schöpferischen Lektüre machen. Joachim Sartorius, der vor zwei Jahrzehnten die deutsche Ashbery-Rezeption eröffnete, legt eine Auswahl aus dem Gesamtwerk vor. "Mädchen auf der Flucht" umfaßt Proben aus allen Produktionsphasen des Autors und bringt verdienstvollerweise auch die amerikanischen Originale. Und siehe da: Die Lektüre zeigt, daß Ashbery auf überraschende Weise einleuchtend sein kann. Vorausgesetzt, man überläßt sich dem Fluß seiner Bilder und Assoziationen.
Das Eingangsgedicht stammt aus Ashberys Erstling "Some Trees" (1956). Es gibt beinahe so etwas wie eine Leseanweisung, den Entwurf einer Poetik: "Alles, Schönheit, Widerhall, Unversehrtes, / Ist durch Beraubung so oder durch Logik seltsamer Anordnung." Wenn der Dichter die Sprache ihrer stabilen Weltsicht beraubt und die Dinge neu mischt, erzeugt er eine schöne befremdende Schönheit, eine surreale Qualität. Ashbery hat später die Sprünge zwischen den Bildwelten gemindert. Aber er blieb ein Meister überraschender Eröffnungen und taktischer Finten.
Seine reife Lyrik zeigt seine stupenden Fähigkeiten zur Integration. In langen Meditationen über Illusion und Realität, Alltag und Artefakt sind die Echos von Walt Whitman und Wallace Stevens hörbar. Aber auch Themen und Motive der Malerei werden zu Ausgangspunkten poetischer Erkundungen. Ashberys entscheidender Impuls war Anfang der Fünfziger die Begegnung mit den Malern der New York School, den abstrakten Expressionisten wie Kline, de Kooning, Pollock und Rothko. Wichtig vor allem wurden ihm Kitaj und Larry Rivers. Sie ermöglichten ihm, sich von Bedeutung abzusetzen und seine Gedichte gleichsam opak zu machen. Freilich war Ashbery nicht an bloßen Analogien zu abstrakten Bildern interessiert. Im Gegenteil: Er läßt sich eher von gegenständlicher Kunst inspirieren und schiebt in den Texten Schichten von Interpretationen übereinander, um die Bedeutung endgültig einzudunkeln. Eines der faszinierendsten Stücke dieses Genres ist das Titelgedicht des Bandes "Self-Portrait in a Convex Mirror", das seinen Ausgang bei Parmigianinos rätselvollem Bild im Wiener Kunsthistorischen Museum nimmt. Hier, wo das Sujet gewissermaßen vor Augen steht, kann man des Dichters ingeniöse Technik studieren. Ashbery beherrscht meisterhaft die zwei Strategien der Moderne: das Spiel mit der Originalität und das Unterlaufen der Erwartung.
Die späteren Gedichte zeigen einen entspannten Autor, dessen spöttischer Witz in schalkhaften Humor übergehen kann. Ashbery, der eine alte Villa in Hudson-upon-Hudson bewohnt, ist zum Liebhaber des Bukolischen geworden. Er mischt noch einmal seine Karten, seine Themen. Schon 1979 hatte er in "Spätes Echo" gemutmaßt: "Allein mit unserer Verrücktheit und unserer Lieblingsblume / wissen wir, daß nichts wirklich bleibt, über das man noch schreiben könnte." Doch der fintenreiche Poet setzt diese resignative Eröffnung nur, um sie sogleich zu korrigieren: "Oder vielmehr ist es nötig, über die gleichen alten Dinge zu schreiben, / in der gleichen Weise und der allmählichen eigenen Veränderung willen." Das klingt fast wie ein Bekenntnis.
Unverkennbar ist die Wiederaufnahme von Themen, Rückwendung zu "alten" Themen. An Parmigianinos Stelle tritt Caravaggio. Doch das Gedicht handelt nicht vom Meister, sondern von seinen Schülern. "Die Zeit, sich zurückzuziehen, ist jetzt / sehr nah", heißt es am Schluß. "Meister" Ashbery sieht sich zurück und entwirft Miniaturen. "Dieses Zimmer" etwa führt uns in ein geträumtes Zimmer und zeigt im Porträt eines Hundes das lyrische Ich, "als ich noch klein war". Der Schluß ist eine Kindheitsreminiszenz: "Jeden Mittag aßen wir Makkaroni / außer am Sonntag, wenn eine kleine Wachtel überredet wurde, / uns aufgetragen zu werden. Warum erzähl ich dir das alles? / Du bist nicht einmal da." Was man das absolute Gedicht nannte, das Gedicht ohne Adressaten, ist hier zur Vignette geworden, die alle Prätention fallenläßt und einen heiteren Schmerz, eine kleine schmerzliche Heiterkeit zeigt. Der implizierte Leser bekommt geradezu ein schlechtes Gewissen, daß er sich nicht zu erkennen gab. Ja, möchte er rufen: Ich bin ja da, lieber J.-A. (wie sich der Dichter manchmal nennt). Bin da in diesem wunderbaren Gedicht.
John Ashbery, dieser urbane, diskrete Mann, verabscheut den pathetischen Ton, pflegt das Ostküsten-Understatement. Sartorius erwähnt im Nachwort eine Nebenbeibemerkung seines Freunds: Das Gedicht könne wie eine "Stretchsocke" sein. Ja, Ashberys Gedichte mögen solche Socken sein. Dehnbar. Natürlich von bester Qualität. Sie passen sich den Füßen des Lesers an. Schlüpfen wir hinein.
John Ashbery: "Mädchen auf der Flucht". Ausgewählte Gedichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Joachim Sartorius. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Erwin Einziger, Matthias Göritz, Durs Grünbein, Michael Krüger, Klaus Reichert und Joachim Sartorius. Hanser Verlag, München 2002. 167 S., br. 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Jürgen Brocan ist alles in allem mit diesem Band mit ausgewählten Gedichten von Ashbery, den er als "wichtigsten Lyriker der Postmoderne" nicht nur in Amerika würdigt, sehr zufrieden. Viele Gedichte wurden eigens für diese Auswahl neu übersetzt, teilt der Rezensent mit, und er zeigt sich insbesondere von den Übertragungen durch Michael Krüger sehr angetan. Die Übersetzungen von Durs Grünbein dagegen findet er "nicht immer vollends geglückt", wie er moniert. Er lobt den Herausgeber dafür, mit seiner Auswahl aus 20 bereits veröffentlichten Gedichtbänden einen guten Eindruck des vielfältigen Schaffens des amerikanischen Lyrikers zu geben. Lediglich die vielen "Druckfehler" haben den Rezensenten bei diesem Buch ziemlich "irritiert".
© Perlentaucher Medien GmbH
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