»Ein beeindruckender, leidenschaftlicher Roman über das Leben schwarzer britischer Familien, ihre Kämpfe, Schmerzen, ihr Lachen, ihre Sehnsüchte und Lieben.«
Jury des Booker-Preises
In »Mädchen, Frau etc.« verwebt Bernardine Evaristo die Geschichten schwarzer Frauen über ein Jahrhundert zu einem einzigartigen und vielstimmigen Panorama unserer Zeit. Ein beeindruckender Roman über Herkunft und Identität, der daran erinnert, was uns zusammenhält.
Die Dramatikerin Amma steht kurz vor dem Durchbruch. In ihrer ersten Inszenierung am Londoner National Theatre setzt sie sich mit ihrer Identität als schwarze, lesbische Frau auseinander. Ihre gute Freundin Shirley hingegen ist nach jahrzehntelanger Arbeit an unterfinanzierten Londoner Schulen ausgebrannt. Carole hat Shirley, ihrer ehemaligen Lehrerin, viel zu verdanken, sie arbeitet inzwischen als erfolgreiche Investmentbankerin. Caroles Mutter Bummi will ebenfalls auf eigenen Füßen stehen und gründet eine Reinigungsfirma. Sie ist in Nigeria in armen Verhältnissen aufgewachsen und hat ihrer Tochter Carole aus guten Gründen einen englischen Vornamen gegeben.
Auch wenn die Frauen, ihre Rollen und Lebensgeschichten in Bernardine Evaristos Mädchen, Frau etc. sehr unterschiedlich sind, ihre Entscheidungen, ihre Kämpfe, ihre Fragen stehen niemals nur für sich, sie alle erzählen von dem Wunsch, einen Platz in dieser Welt zu finden.
Stimmen zum Buch:
»Komplex, scharfsinnig, schmerzhaft, witzig, aufschlussreich und vor allem unterhaltsam.«
The Boston Globe
»Evaristos Fähigkeit, zwischen den Stimmen, Orten und Stimmungen zu wechseln, erinnert an eine außergewöhnliche Dirigentin und ihr Orchester.«
The Paris Review
»Sprüht vor Vitalität«
Financial Times
»Der Roman des Jahres.«
Washington Review of Books
Jury des Booker-Preises
In »Mädchen, Frau etc.« verwebt Bernardine Evaristo die Geschichten schwarzer Frauen über ein Jahrhundert zu einem einzigartigen und vielstimmigen Panorama unserer Zeit. Ein beeindruckender Roman über Herkunft und Identität, der daran erinnert, was uns zusammenhält.
Die Dramatikerin Amma steht kurz vor dem Durchbruch. In ihrer ersten Inszenierung am Londoner National Theatre setzt sie sich mit ihrer Identität als schwarze, lesbische Frau auseinander. Ihre gute Freundin Shirley hingegen ist nach jahrzehntelanger Arbeit an unterfinanzierten Londoner Schulen ausgebrannt. Carole hat Shirley, ihrer ehemaligen Lehrerin, viel zu verdanken, sie arbeitet inzwischen als erfolgreiche Investmentbankerin. Caroles Mutter Bummi will ebenfalls auf eigenen Füßen stehen und gründet eine Reinigungsfirma. Sie ist in Nigeria in armen Verhältnissen aufgewachsen und hat ihrer Tochter Carole aus guten Gründen einen englischen Vornamen gegeben.
Auch wenn die Frauen, ihre Rollen und Lebensgeschichten in Bernardine Evaristos Mädchen, Frau etc. sehr unterschiedlich sind, ihre Entscheidungen, ihre Kämpfe, ihre Fragen stehen niemals nur für sich, sie alle erzählen von dem Wunsch, einen Platz in dieser Welt zu finden.
Stimmen zum Buch:
»Komplex, scharfsinnig, schmerzhaft, witzig, aufschlussreich und vor allem unterhaltsam.«
The Boston Globe
»Evaristos Fähigkeit, zwischen den Stimmen, Orten und Stimmungen zu wechseln, erinnert an eine außergewöhnliche Dirigentin und ihr Orchester.«
The Paris Review
»Sprüht vor Vitalität«
Financial Times
»Der Roman des Jahres.«
Washington Review of Books
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Angela Schader ist begeistert von diesem Roman. Sie zählt auf, was alles gegen ein Funktionieren des Konzepts hätte sprechen müssen - und lobt umso mehr die Mittel der Autorin, die dem Buch den Booker Preis einbrachten. Dazu zählt sie vor allem den Stil, zitiert Evaristos eigene Bezeichnung dafür, nämlich "fusion fiction", diese Mischung aus lyrischen und dramatischen Elemente, die die Autorin hier in getragene Rede überführt habe. Auf diese Weise hat Evaristo ein Narrativ und einen Stil für britische schwarze Frauen gefunden, findet die hingerissene Kritikerin, die sich aus den Mustern afroamerikanischer Sensibilität ebenso befreit wie aus denen des weißen Realismus. Ein deutliches Lob geht auch an die Übersetzerin Tanja Handels, die solcherart Feinheiten großartig gemeistert habe. Natürlich könne man hier und da "den Rotstift zücken", es gebe manche allzu knappe, grobe Charakterisierung, auch die Handlungsbögen werden manchmal flach. Dagegen aber stellt die Kritikerin die herausragende Leistung des Ganzen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.2021Im Dutzend besser
Die meisten Dinge gehen tiefer als Hautfarben: Bernardine Evaristos Roman "Mädchen, Frau etc."
Zu sagen, dieses Buch handele von zwölf schwarzen Frauen, trifft es nicht ganz, denn die Grenzen sind fließend. Ist man eine Frau, wenn man sich selbst nicht als solche sieht? Und ist man schwarz, wenn man erst in höherem Alter seine Vorfahren ausfindig macht, weil man als uneheliches, ungewolltes Kind weggegeben wurde - so war das eben damals, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts - und sich immer ein wenig gewundert hat, warum man in der Sonne viel schneller braun wird als alle anderen? Ein Leben lang hielt man sich für eine brave langweilige Engländerin, und dann das. Wenn es um Menschen geht, diese Spezies, bei der die Vielfalt im evolutionären Programm angelegt ist, kommt man mit Dichotomien nicht weit.
Es ist nicht immer alles so einfach. Bernardine Evaristo selbst ist Tochter einer englischen Lehrerin mit irischen und deutschen Vorfahren und eines nigerianischen Schweißers und ersten schwarzen Stadtrats des Bezirks Greenwich. Der Vater stammt von der brasilianischen Einwanderergruppe der Aguda in Nigeria ab, befreiten Sklaven, die im neunzehnten Jahrhundert zurück nach Afrika migriert sind und einen afrobrasilianischen Kulturmix im Gepäck hatten. Die Familiengeschichte nachzuverfolgen kann ein Ansatz sein, um Menschen und dem, was sie umtreibt, näherzukommen. Und das ist auch der Ansatz, den Evaristo in ihrem Buch "Mädchen, Frau etc." wählt.
Die Figur, die den Roman eröffnet und das Personal erzählerisch bündelt, ist Amma, Regisseurin und Theaterschriftstellerin. Wir begegnen ihr an einem Tag in London, als sie an der Themse entlanggeht, in gespannter Erwartung, denn am Abend soll ihr neues Stück "Die letzte Amazone von Dahomey" Premiere feiern, eine Art Königsdrama aus dem alten Westafrika. Ziemlich viele der Figuren im Buch werden zu diesem Premierenabend erwartet, andere werden nicht erwartet und kommen trotzdem.
Amma hat eine Karriere als Aktivistin und Hausbesetzerin hinter sich - "Protest, glaubten sie, müsse öffentlich sein, penetrant und absolut nervtötend für die, denen er galt" -, bis nach vielen höflichen Absagen der Durchbruch am National Theatre kam. Inzwischen ist Amma eine feste Größe des öffentlichen Kulturlebens. Ihre Latzhosen und Palästinensertücher hat sie durch einen "Verrückte-Alte-Look" ersetzt, wie ihre Tochter indigniert zur Kenntnis nimmt und sie anfleht, zu Marks & Spencer zu gehen wie jede andere normale Mutter auch. Amma definierte sich lange darüber, gegen das Establishment zu kämpfen. Nun ist sie selbst etabliert und muss sich an ihre neue Rolle erst gewöhnen.
Diese eigenwillige Amma hat zwei beste Freundinnen. Einmal die Lehrerin Shirley, die von Ammas Künstlerfreunden immer als bieder und langweilig abgetan wird, aber an ihrer Schule in einem sozial herausgeforderten Viertel in kleinem Rahmen Großes leistet, was ihr nicht immer gedankt wird. Und Dominique, die sich vor Jahren mit einer lesbischen Radikalfeministin einließ, die mit ihr ein unabhängiges, autarkes Leben in der amerikanischen Prärie führen wollte und am Ende manipulativer und brutaler war als die meisten der Patriarchen, die sie eigentlich so verachtet.
Zwölf Menschen also, denen man hier näherkommt, zwölf Biographien, zwölf Leben vom späten neunzehnten Jahrhundert bis ins frühe einundzwanzigste. Evaristo erzählt von Frauen, die in England nie Wurzeln schlagen konnten und stets fremd blieben, und von solchen, die britischer sind als jeder Cockney. Sie sind arm und reich, avantgardistisch im Denken und Handeln oder leben unauffällig vor sich hin und vermeiden jede Aufregung. Sie leben in der Stadt oder auf dem Land, haben Glück oder Pech, sind erfolgreich oder nicht, willensstark oder nicht so sehr. Ein ganzes Kaleidoskop an Figuren und Blickwinkeln also, und jeder Blick bereichert das Gesamtbild um eine neue Facette. Gemeinsam ist den Figuren, dass sie "of colour" sind, also eingewandert oder von Einwanderern abstammend - oder auch von schönen fremden Seeleuten ferner Kontinente und allzu arglosen englischen Mädchen, die sich in einem unvorsichtigen Moment auf sie einließen.
Dass Evaristo diese Szenen mit viel Einfühlung und leichtem Humor erzählen kann, spricht sehr für sie und dieses Buch. Überhaupt ist es in den erzählten Passagen am stärksten und immer dann, wenn es Orte, Zeiten und Soziotope beschreibt, die einem als Leser fremd sind. Etwa das Leben der Seemannstochter Grace, halb Engländerin, halb Abessinierin (vermutlich), mit der das Schicksal es gut meint, obwohl sie im Heim aufwächst und weiß Gott komplizierte Startbedingungen hat. Das Schicksal schickt ihr den rothaarigen Gutsbesitzer Joseph über den Weg, und alles scheint gut, wäre da nicht die Nachwuchsplanung, die erst ihn und dann sie aus der Bahn wirft. Wie die beiden sich zusammenraufen, wie sie die Tochter Hattie aufziehen, das ist mit viel Wärme und Wissen geschrieben und hat wenig mit Hautfarben zu tun, weil manche Dinge, womöglich sogar die meisten, viel tiefer gehen.
Am schwächsten ist das Buch in einigen Dialogen. Mitunter legt Evaristo ihren Figuren Positionen und Diskurse in den Mund und lässt sie darüber allzu hölzern debattieren. Aber das passiert zum Glück selten. Auch erlaubt sich die Übersetzerin einige Ausreißer, etwa den leidigen Vergleich von dunkleren Hauttönen mit Kolonialwaren, was durch das neutraler formulierte Original nicht gedeckt ist. Aber das sind zum Glück Ausnahmen. Tanja Handels, die auch schon Zadie Smith übersetzt hat, gelingt es insgesamt gut, die Sogwirkung von Evaristos eigenwilliger Prosa zu übertragen.
Denn die Form hat es durchaus in sich. Nicht nur das Spiegelkabinett der Kapitel, das sich zu einem Gesamtbild zusammensetzt, ist bemerkenswert, sondern auch die Struktur innerhalb der Kapitel. Sätze gib es nicht, dafür viele Absätze, die den Erzählfluss gliedern und sich meist an eine Satzstruktur anlehnen, aber manchmal eben auch nicht. Manchmal stehen auch Wörter oder Namen isoliert da. Abschrecken lassen sollte man sich davon nicht, denn diese Sprache zieht einen in das Buch hinein wie ein betörender Gesang, und nach spätestens zwei Kapiteln versteht man den Rhythmus und kann sich ihm kaum mehr entziehen.
Viele hatten Evaristo nicht unbedingt auf dem Zettel, als sie im Jahr 2019 zusammen mit Margaret Atwood den Booker-Preis zugesprochen bekam. Dabei ist sie beileibe kein Neuling im Geschäft, sondern Theatermacherin, Professorin für Kreatives Schreiben und Autorin von insgesamt acht Büchern, von denen bislang allerdings noch keines ins Deutsche übersetzt worden war. Womöglich schien die Sprache den Verlagen auf den ersten Blick zu experimentell. Dieses ist das erste, das man hierzulande lesen kann, womöglich das ambitionierteste und sicher erfolgreichste. Das letzte wird es mit Bestimmtheit nicht bleiben.
Hautfarbe, so die Erkenntnis am Ende der gut fünfhundert Seiten, sagt erst einmal noch nicht besonders viel über einen Menschen. Das klingt redundant, ist aber angesichts der kaum auszurottenden stereotypen Darstellungen sogenannter Quotenminderheiten leider immer noch nötig. Wenn diese Einsicht allerdings am Ende eines Buches steht, das weitgehend auf erhobene Zeigefinger verzichtet und stattdessen auf Formwillen, Leichtigkeit, Wärme und Humor setzt, ist das keine ganz schlechte Bilanz.
ANDREA DIENER
Bernardine Evaristo: "Mädchen, Frau etc.". Roman.
Aus dem Englischen von Tanja Handels. Tropen-Verlag, Stuttgart 2021. 512 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die meisten Dinge gehen tiefer als Hautfarben: Bernardine Evaristos Roman "Mädchen, Frau etc."
Zu sagen, dieses Buch handele von zwölf schwarzen Frauen, trifft es nicht ganz, denn die Grenzen sind fließend. Ist man eine Frau, wenn man sich selbst nicht als solche sieht? Und ist man schwarz, wenn man erst in höherem Alter seine Vorfahren ausfindig macht, weil man als uneheliches, ungewolltes Kind weggegeben wurde - so war das eben damals, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts - und sich immer ein wenig gewundert hat, warum man in der Sonne viel schneller braun wird als alle anderen? Ein Leben lang hielt man sich für eine brave langweilige Engländerin, und dann das. Wenn es um Menschen geht, diese Spezies, bei der die Vielfalt im evolutionären Programm angelegt ist, kommt man mit Dichotomien nicht weit.
Es ist nicht immer alles so einfach. Bernardine Evaristo selbst ist Tochter einer englischen Lehrerin mit irischen und deutschen Vorfahren und eines nigerianischen Schweißers und ersten schwarzen Stadtrats des Bezirks Greenwich. Der Vater stammt von der brasilianischen Einwanderergruppe der Aguda in Nigeria ab, befreiten Sklaven, die im neunzehnten Jahrhundert zurück nach Afrika migriert sind und einen afrobrasilianischen Kulturmix im Gepäck hatten. Die Familiengeschichte nachzuverfolgen kann ein Ansatz sein, um Menschen und dem, was sie umtreibt, näherzukommen. Und das ist auch der Ansatz, den Evaristo in ihrem Buch "Mädchen, Frau etc." wählt.
Die Figur, die den Roman eröffnet und das Personal erzählerisch bündelt, ist Amma, Regisseurin und Theaterschriftstellerin. Wir begegnen ihr an einem Tag in London, als sie an der Themse entlanggeht, in gespannter Erwartung, denn am Abend soll ihr neues Stück "Die letzte Amazone von Dahomey" Premiere feiern, eine Art Königsdrama aus dem alten Westafrika. Ziemlich viele der Figuren im Buch werden zu diesem Premierenabend erwartet, andere werden nicht erwartet und kommen trotzdem.
Amma hat eine Karriere als Aktivistin und Hausbesetzerin hinter sich - "Protest, glaubten sie, müsse öffentlich sein, penetrant und absolut nervtötend für die, denen er galt" -, bis nach vielen höflichen Absagen der Durchbruch am National Theatre kam. Inzwischen ist Amma eine feste Größe des öffentlichen Kulturlebens. Ihre Latzhosen und Palästinensertücher hat sie durch einen "Verrückte-Alte-Look" ersetzt, wie ihre Tochter indigniert zur Kenntnis nimmt und sie anfleht, zu Marks & Spencer zu gehen wie jede andere normale Mutter auch. Amma definierte sich lange darüber, gegen das Establishment zu kämpfen. Nun ist sie selbst etabliert und muss sich an ihre neue Rolle erst gewöhnen.
Diese eigenwillige Amma hat zwei beste Freundinnen. Einmal die Lehrerin Shirley, die von Ammas Künstlerfreunden immer als bieder und langweilig abgetan wird, aber an ihrer Schule in einem sozial herausgeforderten Viertel in kleinem Rahmen Großes leistet, was ihr nicht immer gedankt wird. Und Dominique, die sich vor Jahren mit einer lesbischen Radikalfeministin einließ, die mit ihr ein unabhängiges, autarkes Leben in der amerikanischen Prärie führen wollte und am Ende manipulativer und brutaler war als die meisten der Patriarchen, die sie eigentlich so verachtet.
Zwölf Menschen also, denen man hier näherkommt, zwölf Biographien, zwölf Leben vom späten neunzehnten Jahrhundert bis ins frühe einundzwanzigste. Evaristo erzählt von Frauen, die in England nie Wurzeln schlagen konnten und stets fremd blieben, und von solchen, die britischer sind als jeder Cockney. Sie sind arm und reich, avantgardistisch im Denken und Handeln oder leben unauffällig vor sich hin und vermeiden jede Aufregung. Sie leben in der Stadt oder auf dem Land, haben Glück oder Pech, sind erfolgreich oder nicht, willensstark oder nicht so sehr. Ein ganzes Kaleidoskop an Figuren und Blickwinkeln also, und jeder Blick bereichert das Gesamtbild um eine neue Facette. Gemeinsam ist den Figuren, dass sie "of colour" sind, also eingewandert oder von Einwanderern abstammend - oder auch von schönen fremden Seeleuten ferner Kontinente und allzu arglosen englischen Mädchen, die sich in einem unvorsichtigen Moment auf sie einließen.
Dass Evaristo diese Szenen mit viel Einfühlung und leichtem Humor erzählen kann, spricht sehr für sie und dieses Buch. Überhaupt ist es in den erzählten Passagen am stärksten und immer dann, wenn es Orte, Zeiten und Soziotope beschreibt, die einem als Leser fremd sind. Etwa das Leben der Seemannstochter Grace, halb Engländerin, halb Abessinierin (vermutlich), mit der das Schicksal es gut meint, obwohl sie im Heim aufwächst und weiß Gott komplizierte Startbedingungen hat. Das Schicksal schickt ihr den rothaarigen Gutsbesitzer Joseph über den Weg, und alles scheint gut, wäre da nicht die Nachwuchsplanung, die erst ihn und dann sie aus der Bahn wirft. Wie die beiden sich zusammenraufen, wie sie die Tochter Hattie aufziehen, das ist mit viel Wärme und Wissen geschrieben und hat wenig mit Hautfarben zu tun, weil manche Dinge, womöglich sogar die meisten, viel tiefer gehen.
Am schwächsten ist das Buch in einigen Dialogen. Mitunter legt Evaristo ihren Figuren Positionen und Diskurse in den Mund und lässt sie darüber allzu hölzern debattieren. Aber das passiert zum Glück selten. Auch erlaubt sich die Übersetzerin einige Ausreißer, etwa den leidigen Vergleich von dunkleren Hauttönen mit Kolonialwaren, was durch das neutraler formulierte Original nicht gedeckt ist. Aber das sind zum Glück Ausnahmen. Tanja Handels, die auch schon Zadie Smith übersetzt hat, gelingt es insgesamt gut, die Sogwirkung von Evaristos eigenwilliger Prosa zu übertragen.
Denn die Form hat es durchaus in sich. Nicht nur das Spiegelkabinett der Kapitel, das sich zu einem Gesamtbild zusammensetzt, ist bemerkenswert, sondern auch die Struktur innerhalb der Kapitel. Sätze gib es nicht, dafür viele Absätze, die den Erzählfluss gliedern und sich meist an eine Satzstruktur anlehnen, aber manchmal eben auch nicht. Manchmal stehen auch Wörter oder Namen isoliert da. Abschrecken lassen sollte man sich davon nicht, denn diese Sprache zieht einen in das Buch hinein wie ein betörender Gesang, und nach spätestens zwei Kapiteln versteht man den Rhythmus und kann sich ihm kaum mehr entziehen.
Viele hatten Evaristo nicht unbedingt auf dem Zettel, als sie im Jahr 2019 zusammen mit Margaret Atwood den Booker-Preis zugesprochen bekam. Dabei ist sie beileibe kein Neuling im Geschäft, sondern Theatermacherin, Professorin für Kreatives Schreiben und Autorin von insgesamt acht Büchern, von denen bislang allerdings noch keines ins Deutsche übersetzt worden war. Womöglich schien die Sprache den Verlagen auf den ersten Blick zu experimentell. Dieses ist das erste, das man hierzulande lesen kann, womöglich das ambitionierteste und sicher erfolgreichste. Das letzte wird es mit Bestimmtheit nicht bleiben.
Hautfarbe, so die Erkenntnis am Ende der gut fünfhundert Seiten, sagt erst einmal noch nicht besonders viel über einen Menschen. Das klingt redundant, ist aber angesichts der kaum auszurottenden stereotypen Darstellungen sogenannter Quotenminderheiten leider immer noch nötig. Wenn diese Einsicht allerdings am Ende eines Buches steht, das weitgehend auf erhobene Zeigefinger verzichtet und stattdessen auf Formwillen, Leichtigkeit, Wärme und Humor setzt, ist das keine ganz schlechte Bilanz.
ANDREA DIENER
Bernardine Evaristo: "Mädchen, Frau etc.". Roman.
Aus dem Englischen von Tanja Handels. Tropen-Verlag, Stuttgart 2021. 512 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2021Geschencke für den Kopf (Fortsetzung von Seite 22)
Jörg Häntzschel
EINE HERAUSFORDERUNG
B. Rosenberger Rosenberg hält sich für einen epochalen Filmkritiker, doch der echte Durchbruch fehlt noch. Umso größer sein Jubel, als er auf ein Jahrhundertwerk stößt: den drei Monate dauernden Stop-Motion-Film eines steinalten Outsider-Künstlers. Ein Genie entdecken ist fast so gut, wie selbst eines sein, erkennt Rosenberg listig. Doch dann geht es bergab. Der Drehbuchautor Charlie Kaufman („Being John Malkovich“) hat mit „Ameisig“ den seltsamsten Roman seit „Infinite Jest“ geschrieben. Charlie Kaufman: Ameisig. Hanser Verlag. 864 Seiten, 34 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Die Tage werden kürzer, der Lockdown rückt näher, und Netflix und Amazon drängen einem jeden Abend dieselben leergeglotzten Gassenhauer auf. Dabei gibt es ja Alternativen. Die beste ist der Arthouse-Streamingdienst Mubi, wo eine Christian-Petzold-Werkschau mit den Filmen von Romy Schneider konkurriert und das südkoreanische Kino von 2021 mit dem ukrainischen von 1968: The gift that keeps on giving.
Mubi-Jahresabo. 69,99 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Josef Parzefall und Richard Oehmann alias „Doktor Döblingers geschmackvolles Kasperltheater“ haben endlich wieder eine CD gemacht, „Kasperl und der Kornkreis“. Es geht u.a. um Aliens im Freibad, das ist der Eskapismus, der jetzt hilft, Kindern und Erwachsenen gleichermaßen. Kasperl und der Kornkreis. Verlag Antje Kunstmann.
Helmut Mauró
EIN GROSSER SPASS
Bachs „Kunst der Fuge“ fasziniert Pianisten, ist aber auch gefürchtet. Schafft man es nicht, die einzelnen Stimmen gleichberechtigt auftreten zu lassen, verliert das Werk seinen Kern. Daniil Trifonov spielt es als hochvirtuoses, sinnliches Mitdenkstück. Dabei beginnt das Album mit scheinbar harmlosen Stücken von Bach-Söhnen, darunter Johann Christian – nicht nur für Mozart ein bedeutender Komponist.
Daniil Trifonov: The Art of Life. Deutsche Grammophon.
EINE WIEDERENTDECKUNG
In Wien erinnert eine Ausstellung an den Maler Amedeo Modigliani. Seine Verbindungen zu Picasso und Brâncuși sind hier belegt, auch Bezüge zur afrikanischen Kunst. Modiglianis Porträts überraschen: Erst erscheinen sie ausdruckslos, bei konzentrierter Betrachtung werden sie lebendig.
Modigliani. Revolution des Primitivismus. Hirmer Verlag. 216 Seiten, 39,90 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Der Begriff des Querdenkers war vor Kurzem noch durchweg positiv besetzt. So muss man auch Johann Georg Hamann verstehen, der mit polemischen Essays zu Aufklärung und Erkenntnismechanik seine Freundschaften mit Kant, Moses Mendelssohn und Friedrich Jacobi auf eine harte Probe stellte.
Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Wolken. Felix Meiner Verlag. 335 Seiten, 48 Euro.
Lothar Müller
EIN GROSSER SPASS
Wo Männer am Fuß einer waldigen Berglandschaft aus trichterförmig-ovalen Zinkbadewannen in den Himmel blicken, ist Ror Wolf nicht weit. Die Collagen des 2020 gestorbenen Schriftstellers in einem Kalender zu versammeln, ist eine gute Idee. Die Bilder ziehen den Blick von den Datenleisten am unteren Bildrand ab, locken ihn aus der Zeit heraus, hinein in Räume und vor allem Landschaften, in denen Termine nicht zählen. Die Figuren schweben über Ror Wolfs Prosafragmenten und kleinen Gedichten wie über Trampolinen. Ein ganzes Jahr lang.
Ror Wolf Kalender 2022. Verlag Schöffling & Co., 34 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Der Geldverleiher, der diesem Roman aus dem Jahr 1842 den Titel gibt, heißt Abednego Osalez und entstammt einer jüdischen Familie aus dem spanischen Cadiz. Die judenfeindlichen Tiraden und Vorurteile, denen er in London ausgesetzt ist, haben ihr historisches Vorbild in den Attacken auf das Bankhaus Rothschild. Catherine Gore, im frühviktorianischen England eine bekannte Autorin, hat den jüdischen Geldverleiher erfunden, um mit den Mitteln eines Unterhaltungsromans voller Geheimnisse und Abenteuer Einspruch gegen den Antisemitismus ihrer Zeitgenossen einzulegen.
Catherine Gore: Der Geldverleiher. Die Andere Bibliothek. 470 Seiten, 44 Euro.
Laura Hertreiter
EINE WIEDERENTDECKUNG
Das Buch zum Jahr 2021, im Jahr 2010 veröffentlicht. Der Schriftsteller James Salter erzählt in „Dämmerung“ Geschichten von enttäuschten Hoffnungen, von Anwälten und Au-Pairs, Schauspielern und Verunfallten, Verlassenen und Kaputten in ihren verletzlichsten Momenten. Für alle, denen Melancholie Trost sein kann. James Salter: Dämmerung. Piper. 176 Seiten, antiquarisch verfügbar.
EIN LIEBESBEWEIS
Das Magazin „13 Gedichte“. Klassiker und aktuelle Poesie. Post-its rein, fertig. Dreizehn Gedichte. 146 Seiten, 10 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Die entscheidenden Tage vor der Machtübernahme Hitlers versetzen die Berliner Kulturszene in Aufruhr. Eine große Collage aus den Erinnerungen von Theaterleuten, Reportern, Schriftstellern, so fesselnd erzählt, als wäre das Ende nicht klar. Uwe Wittstock, Februar 33, Der Winter der Literatur. C. H. Beck. 288 Seiten, 24 Euro.
Nils Minkmar
EIN LIEBESBEWEIS
Der Titel des neuen Albums ist Zustandsbeschreibung und Versprechen in einem: Überwältigt und aufgehoben darf man sich fühlen, wenn man die neuen Kompositionen des italienischen Meisters hört. Das Erscheinungsdatum ist erst im Januar, an Weihnachten kann es also nur den Gutschein geben. Aber das passt, denn der Januar ist ein Monat, in dem es besonders guttun wird, von den Klängen und Lichtern unter Wasser zu träumen. Ludovico Einaudi: Underwater. Decca (Universal).
EINE WIEDERENTDECKUNG
Wenn man diesen Roman des Literaturnobelpreisträgers von 2014 beendet hat, gibt es nur eines: ihn wieder von vorne zu beginnen. Das tastende, flüchtige Spätwerk Modianos ist eine Leseerfahrung der ganz eigenen Art: Sie gleicht einem Spaziergang durch eine große Stadt, hier ist es Paris, der zunächst kein Ziel hat, dann aber doch. Plötzlich steht man vor einem Haus, einer Ecke, die einem etwas sagt. Aber was? Modiano lehrt die Verwandtschaft zwischen dem urbanen Gehen und der Übung des Schreibens und empfiehlt sie uns, um überhaupt klarzukommen in dieser Welt. Patrick Modiano: Unsichtbare Tinte. Hanser. 144 S., 19 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
In Zeiten wie diesen empfiehlt es sich, Tagebuch zu führen. Als ermutigendes, einladendes Geschenk zu dieser seelenrettenden Tätigkeit eignen sich besonders die schönen Bücher von Letterwish. Letterwish Journal. www.letterwish.de.
Susan Vahabzadeh
EINE WIEDERENTDECKUNG
Es ist fast ein Wunder, dass dieses Buch überhaupt noch vertrieben werden darf, es sieht aus wie eine sehr große Packung Zigaretten: „Buntspecht: So was wie eine Liebesgeschichte“ von Tom Robbins, erschienen 1980, durfte lange in keinem Rucksack auf Reisen fehlen. Vielleicht braucht man Robbins’ leicht abgedriftete Geschichte über ein Paar, das diverse Hindernisse überwinden muss, um herauszufinden, wie die Liebe bleibt, in Zeiten des legalisierten Cannabis-Genusses nicht mehr – aber „Buntspecht“ hat immer noch einen der schönsten Schlusssätze aller Zeiten: Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit. Tom Robbins: Buntspecht. So was wie eine Liebesgeschichte. Rowohlt. 348 Seiten, 12 Euro.
EIN GROSSER SPASS
J. B. Lawless schickt seinen Detective Strafford in „Um Mitternacht ab Buckingham Palace“ aus Dublin, um auf zwei junge Damen aufzupassen – es ist 1941, und die englischen Prinzessinnen werden aus dem bombardierten London weggeschafft, um als vermeintliche Diplomatentöchter die irische Provinz unsicher zu machen. Wie im ersten Strafford-Krimi „Tod in der Bibliothek“ ist die Schilderung des bleiernen Nachkriegsirland mit seinen Spannungen, die in der noch jungen Republik partout nicht unter dem Teppich bleiben wollen, unter den sie gekehrt wurden, die Hauptattraktion. J. B. Lawless: Um Mitternacht ab Buckingham Palace. KiWi. 368 Seiten, 11 Euro.
Nele Pollatschek
EIN GROSSER SPASS
Bücher schenken, immer schwierig. Entweder der Beschenkte hat’s längst gelesen oder er weiß genau, warum eben nicht. Deswegen Bücher immer nach dem Cover aussuchen – als Dekoteller für Akademiker. Das schönste Buch des Jahres ist „Das Dämmern der Welt“ von Werner Herzog. Tiefschwarz und dunkelgrün, hochglänzend matt, mit Dschungelpflanzen und kleinem Vogel. Im Buch ein einsamer Krieger, Japan, Männlichkeit. Obendrauf Werner Herzog. What’s not to love?
Werner Herzog: Das Dämmern der Welt. Hanser. 128 Seiten, 19 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Spoiler: Die nächsten Monate werden lang und langweilig. Irgendwann hat man genug gelesen und will endlich mal wieder was spielen. Mit klugen Menschen, die vor allem eins sein müssen: nicht mit einem liiert. Hier hilft „Mimikry: Das Spiel des Lesens“. Die Niederschrift einer Reihe spielerischer Salonabende aus Vor-Corona-Zeiten zum Selber-, Mit- und Nachspielen. Ziel ist es, „echte“ Romananfänge von den brillanten Täuschungen deutscher Kulturschaffender zu unterscheiden. Mit dabei: Feuilletonfavoriten wie Nora Bossong, Jackie Thomae und Ijoma Mangold.
Holm Friebe, Philipp Albers (Hrsg.): Mimikry: Das Spiel des Lesens. Blumenbar Verlag. 400 Seiten, 11,49 Euro.
Laura Weißmüller
LIEBESBEWEIS
Dieser Bildband ist eine Kostbarkeit, denn er schickt den Betrachter nicht nur auf Reisen, sondern er macht ihn zu einem Suchenden des Lichts, um das mal etwas pathetisch auszudrücken. Der Architekt Francis Kéré nimmt den Fotografen Iwan Baan in sein Heimatland Burkina Faso mit und lässt ihn mit seiner Kamera verstehen, wie das Sonnenlicht dort die traditionelle Architektur geformt hat. Ergreifend.
Iwan Baan, Francis Kéré: Momentum of Light. Lars Müller Publishers. 180 Seiten, 75 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Nicht nur, aber auch weil Weihnachten ja etwas mit einer aussichtslosen Quartiersuche zu tun hat: Der Katalog „Who’s Next?“ zeigt, wie die Obdachlosigkeit in den Städten dieser Welt zunimmt, und beleuchtet die Strukturen, die diese Entwicklung befeuern. Trotz des deprimierenden Themas schafft es der Katalog zu motivieren: hinzugucken und sich der eigenen Verantwortung als Stadtbewohner und Nachbar obdachloser Menschen bewusst zu werden. Daniel Talesnik und Andres Lepik: Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt. ArchiTangle. 272 S., 48 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Kann man unterhalten und trotzdem der Diversität weiblicher Biografien gerecht werden? Bernardine Evaristo kann das in ihrer Geschichte über zwölf schwarze Frauen.
Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc. Tropen. 512 Seiten, 25 Euro.
Marlene Knobloch
EINE WIEDERENTDECKUNG
Sein Leben interessiert doch niemanden, prophezeite Marcel Reich-Ranicki und riet dem Verlag 1999 nicht mehr als 50 000 Exemplare zu drucken. Dass selbst er, der große Kritiker der BRD, falsch liegen kann, bewies die Nachfrage und Dauer-Bestseller-Platzierung seiner Autobiografie. Reich-Ranickis Buch erfasst die grausamen und fabelhaften Wahrheiten über dieses Land, vom Warschauer Ghetto bis zu den Gedichten Erich Kästners, die er heimlich dort las. Das Buch erinnert, warum der einzelne Mensch, nicht unbedingt die Gesellschaft, gute Kunst braucht.
Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Pantheon. 565 Seiten, 16 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Zugegeben, das Buch hilft vor allem Menschen, die schreiben. Aber, es hilft auch zu verstehen, warum wir lesen, besser, warum wir weiterlesen. Der Man-Booker-Preisträger George Saunders lehrt kreatives Schreiben an der Syracuse-Universität, auch indem er mit Studenten Kurzgeschichten der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts analysiert. Seine Kursinhalte hat er in ein Buch gepackt. Und stupst damit zur Selbsterkundung an: Warum interessiert uns eine Geschichte?
George Saunders: A Swim in the Pond. Random House. 432 Seiten, 16,59 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Jörg Häntzschel
EINE HERAUSFORDERUNG
B. Rosenberger Rosenberg hält sich für einen epochalen Filmkritiker, doch der echte Durchbruch fehlt noch. Umso größer sein Jubel, als er auf ein Jahrhundertwerk stößt: den drei Monate dauernden Stop-Motion-Film eines steinalten Outsider-Künstlers. Ein Genie entdecken ist fast so gut, wie selbst eines sein, erkennt Rosenberg listig. Doch dann geht es bergab. Der Drehbuchautor Charlie Kaufman („Being John Malkovich“) hat mit „Ameisig“ den seltsamsten Roman seit „Infinite Jest“ geschrieben. Charlie Kaufman: Ameisig. Hanser Verlag. 864 Seiten, 34 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Die Tage werden kürzer, der Lockdown rückt näher, und Netflix und Amazon drängen einem jeden Abend dieselben leergeglotzten Gassenhauer auf. Dabei gibt es ja Alternativen. Die beste ist der Arthouse-Streamingdienst Mubi, wo eine Christian-Petzold-Werkschau mit den Filmen von Romy Schneider konkurriert und das südkoreanische Kino von 2021 mit dem ukrainischen von 1968: The gift that keeps on giving.
Mubi-Jahresabo. 69,99 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Josef Parzefall und Richard Oehmann alias „Doktor Döblingers geschmackvolles Kasperltheater“ haben endlich wieder eine CD gemacht, „Kasperl und der Kornkreis“. Es geht u.a. um Aliens im Freibad, das ist der Eskapismus, der jetzt hilft, Kindern und Erwachsenen gleichermaßen. Kasperl und der Kornkreis. Verlag Antje Kunstmann.
Helmut Mauró
EIN GROSSER SPASS
Bachs „Kunst der Fuge“ fasziniert Pianisten, ist aber auch gefürchtet. Schafft man es nicht, die einzelnen Stimmen gleichberechtigt auftreten zu lassen, verliert das Werk seinen Kern. Daniil Trifonov spielt es als hochvirtuoses, sinnliches Mitdenkstück. Dabei beginnt das Album mit scheinbar harmlosen Stücken von Bach-Söhnen, darunter Johann Christian – nicht nur für Mozart ein bedeutender Komponist.
Daniil Trifonov: The Art of Life. Deutsche Grammophon.
EINE WIEDERENTDECKUNG
In Wien erinnert eine Ausstellung an den Maler Amedeo Modigliani. Seine Verbindungen zu Picasso und Brâncuși sind hier belegt, auch Bezüge zur afrikanischen Kunst. Modiglianis Porträts überraschen: Erst erscheinen sie ausdruckslos, bei konzentrierter Betrachtung werden sie lebendig.
Modigliani. Revolution des Primitivismus. Hirmer Verlag. 216 Seiten, 39,90 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Der Begriff des Querdenkers war vor Kurzem noch durchweg positiv besetzt. So muss man auch Johann Georg Hamann verstehen, der mit polemischen Essays zu Aufklärung und Erkenntnismechanik seine Freundschaften mit Kant, Moses Mendelssohn und Friedrich Jacobi auf eine harte Probe stellte.
Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Wolken. Felix Meiner Verlag. 335 Seiten, 48 Euro.
Lothar Müller
EIN GROSSER SPASS
Wo Männer am Fuß einer waldigen Berglandschaft aus trichterförmig-ovalen Zinkbadewannen in den Himmel blicken, ist Ror Wolf nicht weit. Die Collagen des 2020 gestorbenen Schriftstellers in einem Kalender zu versammeln, ist eine gute Idee. Die Bilder ziehen den Blick von den Datenleisten am unteren Bildrand ab, locken ihn aus der Zeit heraus, hinein in Räume und vor allem Landschaften, in denen Termine nicht zählen. Die Figuren schweben über Ror Wolfs Prosafragmenten und kleinen Gedichten wie über Trampolinen. Ein ganzes Jahr lang.
Ror Wolf Kalender 2022. Verlag Schöffling & Co., 34 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Der Geldverleiher, der diesem Roman aus dem Jahr 1842 den Titel gibt, heißt Abednego Osalez und entstammt einer jüdischen Familie aus dem spanischen Cadiz. Die judenfeindlichen Tiraden und Vorurteile, denen er in London ausgesetzt ist, haben ihr historisches Vorbild in den Attacken auf das Bankhaus Rothschild. Catherine Gore, im frühviktorianischen England eine bekannte Autorin, hat den jüdischen Geldverleiher erfunden, um mit den Mitteln eines Unterhaltungsromans voller Geheimnisse und Abenteuer Einspruch gegen den Antisemitismus ihrer Zeitgenossen einzulegen.
Catherine Gore: Der Geldverleiher. Die Andere Bibliothek. 470 Seiten, 44 Euro.
Laura Hertreiter
EINE WIEDERENTDECKUNG
Das Buch zum Jahr 2021, im Jahr 2010 veröffentlicht. Der Schriftsteller James Salter erzählt in „Dämmerung“ Geschichten von enttäuschten Hoffnungen, von Anwälten und Au-Pairs, Schauspielern und Verunfallten, Verlassenen und Kaputten in ihren verletzlichsten Momenten. Für alle, denen Melancholie Trost sein kann. James Salter: Dämmerung. Piper. 176 Seiten, antiquarisch verfügbar.
EIN LIEBESBEWEIS
Das Magazin „13 Gedichte“. Klassiker und aktuelle Poesie. Post-its rein, fertig. Dreizehn Gedichte. 146 Seiten, 10 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Die entscheidenden Tage vor der Machtübernahme Hitlers versetzen die Berliner Kulturszene in Aufruhr. Eine große Collage aus den Erinnerungen von Theaterleuten, Reportern, Schriftstellern, so fesselnd erzählt, als wäre das Ende nicht klar. Uwe Wittstock, Februar 33, Der Winter der Literatur. C. H. Beck. 288 Seiten, 24 Euro.
Nils Minkmar
EIN LIEBESBEWEIS
Der Titel des neuen Albums ist Zustandsbeschreibung und Versprechen in einem: Überwältigt und aufgehoben darf man sich fühlen, wenn man die neuen Kompositionen des italienischen Meisters hört. Das Erscheinungsdatum ist erst im Januar, an Weihnachten kann es also nur den Gutschein geben. Aber das passt, denn der Januar ist ein Monat, in dem es besonders guttun wird, von den Klängen und Lichtern unter Wasser zu träumen. Ludovico Einaudi: Underwater. Decca (Universal).
EINE WIEDERENTDECKUNG
Wenn man diesen Roman des Literaturnobelpreisträgers von 2014 beendet hat, gibt es nur eines: ihn wieder von vorne zu beginnen. Das tastende, flüchtige Spätwerk Modianos ist eine Leseerfahrung der ganz eigenen Art: Sie gleicht einem Spaziergang durch eine große Stadt, hier ist es Paris, der zunächst kein Ziel hat, dann aber doch. Plötzlich steht man vor einem Haus, einer Ecke, die einem etwas sagt. Aber was? Modiano lehrt die Verwandtschaft zwischen dem urbanen Gehen und der Übung des Schreibens und empfiehlt sie uns, um überhaupt klarzukommen in dieser Welt. Patrick Modiano: Unsichtbare Tinte. Hanser. 144 S., 19 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
In Zeiten wie diesen empfiehlt es sich, Tagebuch zu führen. Als ermutigendes, einladendes Geschenk zu dieser seelenrettenden Tätigkeit eignen sich besonders die schönen Bücher von Letterwish. Letterwish Journal. www.letterwish.de.
Susan Vahabzadeh
EINE WIEDERENTDECKUNG
Es ist fast ein Wunder, dass dieses Buch überhaupt noch vertrieben werden darf, es sieht aus wie eine sehr große Packung Zigaretten: „Buntspecht: So was wie eine Liebesgeschichte“ von Tom Robbins, erschienen 1980, durfte lange in keinem Rucksack auf Reisen fehlen. Vielleicht braucht man Robbins’ leicht abgedriftete Geschichte über ein Paar, das diverse Hindernisse überwinden muss, um herauszufinden, wie die Liebe bleibt, in Zeiten des legalisierten Cannabis-Genusses nicht mehr – aber „Buntspecht“ hat immer noch einen der schönsten Schlusssätze aller Zeiten: Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit. Tom Robbins: Buntspecht. So was wie eine Liebesgeschichte. Rowohlt. 348 Seiten, 12 Euro.
EIN GROSSER SPASS
J. B. Lawless schickt seinen Detective Strafford in „Um Mitternacht ab Buckingham Palace“ aus Dublin, um auf zwei junge Damen aufzupassen – es ist 1941, und die englischen Prinzessinnen werden aus dem bombardierten London weggeschafft, um als vermeintliche Diplomatentöchter die irische Provinz unsicher zu machen. Wie im ersten Strafford-Krimi „Tod in der Bibliothek“ ist die Schilderung des bleiernen Nachkriegsirland mit seinen Spannungen, die in der noch jungen Republik partout nicht unter dem Teppich bleiben wollen, unter den sie gekehrt wurden, die Hauptattraktion. J. B. Lawless: Um Mitternacht ab Buckingham Palace. KiWi. 368 Seiten, 11 Euro.
Nele Pollatschek
EIN GROSSER SPASS
Bücher schenken, immer schwierig. Entweder der Beschenkte hat’s längst gelesen oder er weiß genau, warum eben nicht. Deswegen Bücher immer nach dem Cover aussuchen – als Dekoteller für Akademiker. Das schönste Buch des Jahres ist „Das Dämmern der Welt“ von Werner Herzog. Tiefschwarz und dunkelgrün, hochglänzend matt, mit Dschungelpflanzen und kleinem Vogel. Im Buch ein einsamer Krieger, Japan, Männlichkeit. Obendrauf Werner Herzog. What’s not to love?
Werner Herzog: Das Dämmern der Welt. Hanser. 128 Seiten, 19 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Spoiler: Die nächsten Monate werden lang und langweilig. Irgendwann hat man genug gelesen und will endlich mal wieder was spielen. Mit klugen Menschen, die vor allem eins sein müssen: nicht mit einem liiert. Hier hilft „Mimikry: Das Spiel des Lesens“. Die Niederschrift einer Reihe spielerischer Salonabende aus Vor-Corona-Zeiten zum Selber-, Mit- und Nachspielen. Ziel ist es, „echte“ Romananfänge von den brillanten Täuschungen deutscher Kulturschaffender zu unterscheiden. Mit dabei: Feuilletonfavoriten wie Nora Bossong, Jackie Thomae und Ijoma Mangold.
Holm Friebe, Philipp Albers (Hrsg.): Mimikry: Das Spiel des Lesens. Blumenbar Verlag. 400 Seiten, 11,49 Euro.
Laura Weißmüller
LIEBESBEWEIS
Dieser Bildband ist eine Kostbarkeit, denn er schickt den Betrachter nicht nur auf Reisen, sondern er macht ihn zu einem Suchenden des Lichts, um das mal etwas pathetisch auszudrücken. Der Architekt Francis Kéré nimmt den Fotografen Iwan Baan in sein Heimatland Burkina Faso mit und lässt ihn mit seiner Kamera verstehen, wie das Sonnenlicht dort die traditionelle Architektur geformt hat. Ergreifend.
Iwan Baan, Francis Kéré: Momentum of Light. Lars Müller Publishers. 180 Seiten, 75 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Nicht nur, aber auch weil Weihnachten ja etwas mit einer aussichtslosen Quartiersuche zu tun hat: Der Katalog „Who’s Next?“ zeigt, wie die Obdachlosigkeit in den Städten dieser Welt zunimmt, und beleuchtet die Strukturen, die diese Entwicklung befeuern. Trotz des deprimierenden Themas schafft es der Katalog zu motivieren: hinzugucken und sich der eigenen Verantwortung als Stadtbewohner und Nachbar obdachloser Menschen bewusst zu werden. Daniel Talesnik und Andres Lepik: Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt. ArchiTangle. 272 S., 48 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Kann man unterhalten und trotzdem der Diversität weiblicher Biografien gerecht werden? Bernardine Evaristo kann das in ihrer Geschichte über zwölf schwarze Frauen.
Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc. Tropen. 512 Seiten, 25 Euro.
Marlene Knobloch
EINE WIEDERENTDECKUNG
Sein Leben interessiert doch niemanden, prophezeite Marcel Reich-Ranicki und riet dem Verlag 1999 nicht mehr als 50 000 Exemplare zu drucken. Dass selbst er, der große Kritiker der BRD, falsch liegen kann, bewies die Nachfrage und Dauer-Bestseller-Platzierung seiner Autobiografie. Reich-Ranickis Buch erfasst die grausamen und fabelhaften Wahrheiten über dieses Land, vom Warschauer Ghetto bis zu den Gedichten Erich Kästners, die er heimlich dort las. Das Buch erinnert, warum der einzelne Mensch, nicht unbedingt die Gesellschaft, gute Kunst braucht.
Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Pantheon. 565 Seiten, 16 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Zugegeben, das Buch hilft vor allem Menschen, die schreiben. Aber, es hilft auch zu verstehen, warum wir lesen, besser, warum wir weiterlesen. Der Man-Booker-Preisträger George Saunders lehrt kreatives Schreiben an der Syracuse-Universität, auch indem er mit Studenten Kurzgeschichten der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts analysiert. Seine Kursinhalte hat er in ein Buch gepackt. Und stupst damit zur Selbsterkundung an: Warum interessiert uns eine Geschichte?
George Saunders: A Swim in the Pond. Random House. 432 Seiten, 16,59 Euro.
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»Evaristos Heldinnen sind fehlbar, verletzlich, voller Leben.« Sonja Zekri, SZ, 17./18. Juli 2021 Sonja Zerki Süddeutsche Zeitung 20210717