Eine eigenartige Entdeckung macht D. H., der Architekt aus dem Westteil Berlins, als er nach der Wende im Osten Deutschlands das Laubengrundstück seiner verstorbenen Großmutter erbt.
Er stößt auf Aufzeichnungen über den Banklehrling Karl Brunke, der in seinem kurzen Leben als verletzter Liebhaber, vorgeblicher Kopfkranker, verhinderter Marineoffizier und verhinderter Theaterschriftsteller, vergeblicher Erfinder einer Liebesmaschine und zuletzt verurteilter Doppelmörder zu einer tragischen Figur des jungen 20. Jahrhunderts wurde. D. H., von einer »wundersamen Besessenheit« ergriffen, gibt seinen Beruf auf, trennt sich von seiner Lebensgefährtin, isoliert sich von seiner Umgebung und kennt nur noch ein Ziel: den Lebenshergang Brunkes während sieben Tagen und Nächten ohne Schlaf und Nahrung zu rekonstruieren. Dies, bis seine eigene Existenz entweder völlig in der Brunkes aufgeht oder aber, sollte dies nicht gelingen, er sich von dieser Welt verabschieden muß.
Thomas Brasch zeichnet auf einfache, klare, unprätentiöse Weise das poetische Bild zweier tragischer Gestalten, deren Berufungen sie hoch hinaus führen und tief fallen lassen.
Er stößt auf Aufzeichnungen über den Banklehrling Karl Brunke, der in seinem kurzen Leben als verletzter Liebhaber, vorgeblicher Kopfkranker, verhinderter Marineoffizier und verhinderter Theaterschriftsteller, vergeblicher Erfinder einer Liebesmaschine und zuletzt verurteilter Doppelmörder zu einer tragischen Figur des jungen 20. Jahrhunderts wurde. D. H., von einer »wundersamen Besessenheit« ergriffen, gibt seinen Beruf auf, trennt sich von seiner Lebensgefährtin, isoliert sich von seiner Umgebung und kennt nur noch ein Ziel: den Lebenshergang Brunkes während sieben Tagen und Nächten ohne Schlaf und Nahrung zu rekonstruieren. Dies, bis seine eigene Existenz entweder völlig in der Brunkes aufgeht oder aber, sollte dies nicht gelingen, er sich von dieser Welt verabschieden muß.
Thomas Brasch zeichnet auf einfache, klare, unprätentiöse Weise das poetische Bild zweier tragischer Gestalten, deren Berufungen sie hoch hinaus führen und tief fallen lassen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.1999Wort und Totschlag
Schuldspruch: Thomas Braschs Moritat vom Mädchenmörder
Zum Thema Liebesmaschine, die elektrisch ist und auf einem Berg steht, hat der Kindermund das Entscheidende gesagt. Wer möchte mit ihm konkurrieren? Thomas Brasch tut es in seinem "Mädchenmörder Brunke" und bietet dazu auf knapp hundert Seiten allerlei Einfälle auf, um Qual und Lust, Mord und Mechanik novellistisch zusammenzuzwingen und auch eine Moral loszuwerden. Nämlich: "wie nah die Gefahr bei der Lust wohnt, wenn man sich auf der Suche nach dem Schönsten in das Schlimmste verrennt".
Der sich verrennt, und zwar gründlich, ist der Architekt D. H., dem nach dem Mauerfall das Laubengrundstück seiner verstorbenen Großmutter zufällt. Von seiner Verlobten im Streit getrennt, vernachlässigt er seine Arbeit völlig, um sich den Nachforschungen über einen gewissen Karl Brunke zu widmen, der anno 1905 in Braunschweig zwei Schwestern auf ihren Wunsch erschoß. Die dritte, die überlebende Schwester - so mutmaßt er - war seine Großmutter, die ihm ein Kistchen mit den alter Prozeßberichten hinterließ.
Was Braschs Architekten, der sich nicht ohne Anlaß über das "Elend zwischen den Geschlechtern" erregt, an diesem Fall fasziniert und zur Identifikation mit dem Mädchenmörder führt, ist die von Brunke erfundende Liebesmaschine, die den Menschen Liebesschmerz und -trennung ersparen sollte. Eine Erfindung, deren Bedeutung der Architekt den Entdeckungen Freuds und Einsteins gleichsetzt. Über solche Exzentrik verwundern wir uns nicht weiter, denn wir kennen bereits sein Ende. D. H. ist jener in einem Waldstück aufgefundene Tote auf einem Holzgestell, das als "Exekutions- oder Erektionsstuhl" bezeichnet wird. Und das zwischen seinen Beinen deponierte, von Regen und Sperma gezeichnete Manuskript ist ebendas, was wir lesen: die Geschichte Brunkes, nachgefühlt und nachgeschrieben von seinem Imitator, der die Liebesmaschine noch einmal erfinden wollte.
Soweit die Moritat. Brasch hat sich mit ihr nicht begnügen, sondern sie zur Novelle erheben wollen. Da wird die Liebesmaschine zum Anlaß tiefsinniger Reflexionen über die Vertreibung aus dem Paradies. Da schwärmt der Architekt vom anderen, vom Unnennbaren, "das all dies zeigt, aber gleichzeitig verbirgt, und doch ein drittes anderes sein muß, aber gleichzeitig verbirgt, und doch ein drittes anderes sein muß, aber verschollen scheint wie in dem Märchen vom dritten Wunsch oder dem verschlossenen Zimmer". Da sieht der Autor den einen seiner Helden als "in den Gynäkologenstuhl gekreuzigten" Architekten und den anderen, dem die Irrenärzte aus Königslutter nachstellen, offenbar als einen neuen Lenz oder Woyzeck. Und zur politischen Aktualisierung der Sache raunt Brasch vom dunklen deutschen Wald, vom "Gefängnis unseres ängstlichen und traurigen Volkes" und von der Zelle, "in der seine Verbesserer hausen".
Zu solchen angestrengten Bedeutsamkeiten paßt die krude Liebesmaschine denn doch nicht so recht. Also wird sie im Schlußkapitel "Wort und Totschlag" zur "Zeit- und Ortsmaschine" erhoben, und endlich wird uns reiner Wein eingegossen, rein wie Meßwein, nämlich die Botschaft: "Denn es gibt keine Liebesmaschine, außer man ist selbst eine andere, eine aus Fleisch, Lust und Hoffnung."
Ganz zuletzt wird noch eine Erklärung nachgeschoben. In einer, freilich durchgestrichenen, Verfügung überläßt der Architekt sein beflecktes 2000-Seiten-Manuskript einem Schriftsteller zur Restaurierung, "der eine Pause braucht beim Herstellen künstlicher Charaktere". Der pausenbedürftige Restaurator, der uns nur knappe hundert Seiten mitteilt, erscheint dafür auf dem Titel. Ein schönes Paradox: Thomas Brasch, von dem wir lange nichts lesen konnten, ist der Füller seiner Pausen. Des Architekten Verfügung, wonach der Restaurator die entstehende Veröffentlichung zwar "der erbarmungslosen Kritik des Lesers aussetzen", nicht aber in das "Gefängnis der Buchdeckel" spannen dürfe, hat der Verlag freilich ignoriert. HARALD HARTUNG
Thomas Brasch: "Mädchenmörder Brunke". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 99 S., geb. 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schuldspruch: Thomas Braschs Moritat vom Mädchenmörder
Zum Thema Liebesmaschine, die elektrisch ist und auf einem Berg steht, hat der Kindermund das Entscheidende gesagt. Wer möchte mit ihm konkurrieren? Thomas Brasch tut es in seinem "Mädchenmörder Brunke" und bietet dazu auf knapp hundert Seiten allerlei Einfälle auf, um Qual und Lust, Mord und Mechanik novellistisch zusammenzuzwingen und auch eine Moral loszuwerden. Nämlich: "wie nah die Gefahr bei der Lust wohnt, wenn man sich auf der Suche nach dem Schönsten in das Schlimmste verrennt".
Der sich verrennt, und zwar gründlich, ist der Architekt D. H., dem nach dem Mauerfall das Laubengrundstück seiner verstorbenen Großmutter zufällt. Von seiner Verlobten im Streit getrennt, vernachlässigt er seine Arbeit völlig, um sich den Nachforschungen über einen gewissen Karl Brunke zu widmen, der anno 1905 in Braunschweig zwei Schwestern auf ihren Wunsch erschoß. Die dritte, die überlebende Schwester - so mutmaßt er - war seine Großmutter, die ihm ein Kistchen mit den alter Prozeßberichten hinterließ.
Was Braschs Architekten, der sich nicht ohne Anlaß über das "Elend zwischen den Geschlechtern" erregt, an diesem Fall fasziniert und zur Identifikation mit dem Mädchenmörder führt, ist die von Brunke erfundende Liebesmaschine, die den Menschen Liebesschmerz und -trennung ersparen sollte. Eine Erfindung, deren Bedeutung der Architekt den Entdeckungen Freuds und Einsteins gleichsetzt. Über solche Exzentrik verwundern wir uns nicht weiter, denn wir kennen bereits sein Ende. D. H. ist jener in einem Waldstück aufgefundene Tote auf einem Holzgestell, das als "Exekutions- oder Erektionsstuhl" bezeichnet wird. Und das zwischen seinen Beinen deponierte, von Regen und Sperma gezeichnete Manuskript ist ebendas, was wir lesen: die Geschichte Brunkes, nachgefühlt und nachgeschrieben von seinem Imitator, der die Liebesmaschine noch einmal erfinden wollte.
Soweit die Moritat. Brasch hat sich mit ihr nicht begnügen, sondern sie zur Novelle erheben wollen. Da wird die Liebesmaschine zum Anlaß tiefsinniger Reflexionen über die Vertreibung aus dem Paradies. Da schwärmt der Architekt vom anderen, vom Unnennbaren, "das all dies zeigt, aber gleichzeitig verbirgt, und doch ein drittes anderes sein muß, aber gleichzeitig verbirgt, und doch ein drittes anderes sein muß, aber verschollen scheint wie in dem Märchen vom dritten Wunsch oder dem verschlossenen Zimmer". Da sieht der Autor den einen seiner Helden als "in den Gynäkologenstuhl gekreuzigten" Architekten und den anderen, dem die Irrenärzte aus Königslutter nachstellen, offenbar als einen neuen Lenz oder Woyzeck. Und zur politischen Aktualisierung der Sache raunt Brasch vom dunklen deutschen Wald, vom "Gefängnis unseres ängstlichen und traurigen Volkes" und von der Zelle, "in der seine Verbesserer hausen".
Zu solchen angestrengten Bedeutsamkeiten paßt die krude Liebesmaschine denn doch nicht so recht. Also wird sie im Schlußkapitel "Wort und Totschlag" zur "Zeit- und Ortsmaschine" erhoben, und endlich wird uns reiner Wein eingegossen, rein wie Meßwein, nämlich die Botschaft: "Denn es gibt keine Liebesmaschine, außer man ist selbst eine andere, eine aus Fleisch, Lust und Hoffnung."
Ganz zuletzt wird noch eine Erklärung nachgeschoben. In einer, freilich durchgestrichenen, Verfügung überläßt der Architekt sein beflecktes 2000-Seiten-Manuskript einem Schriftsteller zur Restaurierung, "der eine Pause braucht beim Herstellen künstlicher Charaktere". Der pausenbedürftige Restaurator, der uns nur knappe hundert Seiten mitteilt, erscheint dafür auf dem Titel. Ein schönes Paradox: Thomas Brasch, von dem wir lange nichts lesen konnten, ist der Füller seiner Pausen. Des Architekten Verfügung, wonach der Restaurator die entstehende Veröffentlichung zwar "der erbarmungslosen Kritik des Lesers aussetzen", nicht aber in das "Gefängnis der Buchdeckel" spannen dürfe, hat der Verlag freilich ignoriert. HARALD HARTUNG
Thomas Brasch: "Mädchenmörder Brunke". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 99 S., geb. 28,- DM.
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