Eine Gruppe von zehn jungen Leuten - sieben Frauen und drei Männer - entflieht der Pest in Florenz und erzählt sich in zehn Tagen jeweils zehn Geschichten. So entsteht eine Sammlung von hundert Novellen, die unter dem Titel Decameron das erste große Erzählwerk der neueren Welt darstellt. Als das Buch 1350 erschien, war es ein Skandal. Kurt Flasch hat in dieser neuen Übersetzung den alten Text entstaubt und so lesen sich die Geschichten um Liebe und Verrat wie neu. Ein Buch des Lachens und Nie-mehr-Vergessens!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.1997Alle Lust will Gedankenarbeit
Endlich der Moralphilosoph: Kurt Flasch übersetzt Boccaccio
Kurt Flaschs neuer Boccaccio verdankt sich dem Ärger des Philosophen über die Philologen. War da doch bei dem berühmten Francesco De Sanctis zu lesen: "Boccaccio . . . ist durchaus der Außenwelt zugekehrt, lebt in den Freuden, Zerstreuungen und Geschäftigkeiten der Welt und ist von diesen ausgefüllt und befriedigt; nie wendet er sich auf sich selbst zurück, senkt nie nachdenklich das Haupt. Denkerfalten haben nie diese Stirn gezeichnet, und kein Schatten ist auf sein Gewissen gefallen." Schlichtweg dreist nennt Flasch das Aperçu von der glatten Stirn. Immoralismus, Aufstand und Karneval der Sinne oder, drastischer, Herrenlektüre? Für beschränkt hält er eine solche Sicht, für ahnungs- und harmlos.
Eher noch unwilliger geht er die "Mittelalter-Legende" an, die das "Decameron" in einen "gotischen Rahmen" einfassen möchte. Aufstieg aus den Tiefen der Sinnlichkeit zu den Höhen der Tugend, ein religiöses Erbauungsbuch, ein Lehrstück der christlich-scholastischen Moral? Da muß sich Vittore Branca, der renommierte Editor und Kommentator, schon sagen lassen, er sei den schwachen Stellen des großen Étienne Gilson erlegen. Auch die Rede vom "Realismus" (Erich Auerbach) will Flasch nicht recht gefallen, verkenne sie doch den Konstruktivismus des "Decameron", der keine Unwahrscheinlichkeit scheue. Keine laszive Renaissance also, kein gotisches Mittelalter und auch keine pralle Mimesis. Was aber dann?
Es sei leicht, Boccaccio zu lesen, schwer hingegen, die Bücher über ihn. So beginnt Flasch sein Buch "Poesie nach der Pest. Der Anfang des ,Decameron'" (1992), das die Grundlage für die jetzt vorgelegte Auswahlübersetzung bildet. Und natürlich kehrt der professionelle Historiker der mittelalterlichen Philosophie den Spieß um. Der glänzende Stilist macht es dem Leser leicht, über Boccaccio zu lesen - und sorgt doch zugleich dafür, daß die Boccaccio-Lektüre schwerer wird. Denn Kurt Flasch hat nicht weniger vor, als Boccaccio in die Geschichte der Philosophie einzugemeinden, als einen Moralphilosophen in der Krisen- und Umbruchsphase des Mittelalters.
Zu lachen gibt es jedenfalls lange nichts, wenn Flasch sich ans Werk macht. Gute hundertneunzig Seiten widmet er in seinem früheren Buch dem Eingang des "Decameron", dem Vorwort, der Einleitung des ersten Tages und, vor allem, der ersten Novelle des ersten Tages. Schon mit dem Titel meldet Boccaccio die kühnsten Ansprüche an: Das Zehntagewerk tritt in Konkurrenz zum Sechstagewerk (Hexaemeron) der Schöpfung nicht nur, sondern auch zu Dantes Universalgemälde - der Untertitel "prencipe Galeotto" stellt die konterkarierende Beziehung zu Dantes Liebesgeschichte von Francesca da Rimini und Paolo Malatesta ausdrücklich her. Konklusion: Es handelt sich um den poetischen Entwurf einer "neuen ethisch-politischen Welt" nach der apokalyptischen Pest von 1348. Die große Pestschilderung setzt an die Stelle von Dantes Hölle eine irdische Realität als Hintergrund, ein Debakel nicht zuletzt der Theologie und der herkömmlichen Wissenschaft.
Was also ist zu tun, wenn man nicht resignieren will oder beten kann? Die sieben jungen Frauen und drei Männer, die sich zufällig in Santa Maria Novella treffen, zeigen es. Ohne karitative Skrupel proklamieren sie das Recht auf Selbstbehauptung, verlassen die Stadt und stiften, mit den Regularien ihres Zusammenlebens, eine Gegengesellschaft gegen das in jeder Hinsicht verseuchte Florenz, die sich auf Heiterkeit, Lebensfreude, Liebe und Poesie gründet, onestamente freilich das alles, con ordine e con piacere. Erzählen gegen die Pest wird zum entschlossenen antiasketischen Memento vivere. Je deftiger erzählt wird, auch von den jungen Damen, je mehr sie erröten und stumme Wünsche eingestehen, desto schwereloser und keuscher die Moral der zehn. Denn auch dem Kecksten unter ihnen, dem privilegierten Dioneo, bescheinigt Flasch gleichermaßen Sinnesfreude wie "radikale Gedankenarbeit". Ohne diese jedenfalls ist Boccaccio nicht zu haben.
Wie sie aussieht, wie man also die Denkerfalten auf Boccaccios Stirn entdecken kann, demonstriert Flasch an seiner Lieblings- und "Schlüsselnovelle", der allerersten von der Metamorphose des Ser Cepparello, des schlechtesten Menschen der Welt, in einen san Ciappelletto. Auf dem Sterbebett täuscht ein Schurke seinen Beichtiger, einen ausnahmsweise heiligen Mönch, so raffiniert, daß er zum Heiligen ausgerufen und als solcher verehrt wird. Scherz, Satire, tiefere Bedeutung? Mit allen Regeln der Kunst, der spätmittelalterlichen Philosophie und Theologie, plädiert Flasch für das letztere, so daß dem Leser das Lachen bald vergeht. Kann man einen Heiligen überhaupt erkennen, gibt es die autoritative, von der Kirche beanspruchte Wahrheit über ihn? So lautet das Problem. Flasch spitzt es zu, indem er der Novelle eine Pariser Disputation des Thomas von Aquin zu dieser Frage gegenüberstellt. Hundert Jahre vor Boccaccio: eine mehr oder weniger überschwengliche Wahrheitsgewißheit. Jetzt: der "Hiat zwischen Verborgenem und Erscheinendem" ist aufgebrochen, Boccaccios Panfilo verfügt über ein neues Problembewußtsein, das dem des Thomas überlegen ist.
Flasch liest dekonstruktivistisch, wo es vielleicht zum erstenmal historisch angebracht ist. Denn, so seine Pointe, "ockhamistisches Salz" ist es, das die Musternovelle würzt, der Nominalismus des Wilhelm von Ockham, das Mißverhältnis mithin von Wörtern und Sachen. Nordischer Nebel in toskanischen Gefilden? Flasch kann nachweisen, daß Boccaccio den Dialektiker Ockham gekannt und geschätzt hat - so wie er auch den Kommentar des Thomas von Aquin zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles eigenhändig abgeschrieben und mit Randbemerkungen versehen hat. Der Thomas-Kommentar tritt an die Stelle der Geliebten aus dem Hause Aquino, die man Boccaccio in Neapel angedichtet hat. Kein schlechter Ersatz - stellt er doch Boccaccios philosophischer Bildung ein hervorragendes Zeugnis aus.
Boccaccio als "Sprachdenker". Nichts Geringeres hat die erste Novelle im Sinn als die "epistemologische und linguistische Krise" des späten Mittelalters. Nicht weniger einschneidend ist die moralische Krise, die Krise der asketischen Ideale, mit denen es der Moralphilosoph Boccaccio aufnimmt, zugunsten der Frauen. Denn für sie schreibt er, für die Eingesperrten und Gelangweilten, um ihnen die Melancholie auszutreiben. "Für werdende Moralphilosophinnen", die nicht selbst in Paris oder Bologna studieren können. "Frauenphilosophie" liefert er, eine "elementare Unterrichtung in Moralphilosophie". Versteht sich, daß dabei sexuelle Tabus gebrochen und auch grobe Heikligkeiten in Kauf genommen werden müssen. Das gehört zur "allumfassenden Lebensorientierung".
Nach den ersten vier Novellen bricht Flaschs Buch von 1992 ab. Die Spuren zu einem neuen Boccaccio sind gelegt. Der lachende Leser sieht sich gefordert. Er wird sich in einen denkenden Leser verwandeln müssen. Gelegenheit dazu gibt die neue Übersetzung. Vierundzwanzig Geschichten hat Flasch ausgewählt. Die ersten vier natürlich, die Falkenerzählung, die Geschichte vom Philosophen Cavalcanti ebenso wie die vom Frate Cipolla, eine bunte Mischung, Bett- und Mönchsgeschichten ebenso wie die Geschichten heroischer Tugend. Erklärtermaßen hat aber Flasch mit seiner Auswahl die "Bewegungsrichtung auf weibliche Größe" nachzeichnen wollen. Seine besondere Sympathie gehört so Ghismonda (IV, 1) und namentlich Griselda (X, 10). Diese ist für ihn die "Weise" schlechthin, die Geschichte ihrer unerhörten Geduldsproben, merkwürdigerweise, der "Höhepunkt von Boccaccios anschaulicher Moralphilosophie". Ein dichtes Nachwort resümiert die früheren Boccaccio-Studien. Man sollte es zuerst lesen; hier steckt der neue Boccaccio.
Die Übersetzungen wollen entstauben und auffrischen. Vor saloppen Modernismen scheuen sie nicht zurück: Macken, anmachen, Sächelchen, Knutschfleck, armes Schwein, trudeln, Was is'n los? Prüderie liegt ihnen noch ferner als Boccaccio. Aus "santo Cresci" und "san Cresci in Valcava" wird gleich überdeutlich ein "heiliger ,Er-Wächst-Unter-Der-Hand'" oder der "Heilige ,Wachse, Kleiner' in Valcava". Pointen kommen gut heraus. Eine gewisse Sprödigkeit sperrt sich gegen die routinierte Glätte, die etwa Karl Wittes weitverbreitete Übertragung kennzeichnet.
Da unterlaufen dann freilich auch Härten und Holprigkeiten (insbesondere in der Ghismonda-Erzählung): "Dadurch, daß ich schon verheiratet gewesen bin"; "und ich, ich als Frau und als junge Frau, habe beschlossen"; "es war meine und seine wohldurchdachte Ausdauer, mein leidenschaftliches Begehren so anhaltend mit Genuß zu befriedigen"; "daß meine Seele sich verbinde mit der, die du, als du noch schlugst, so liebevoll behütet hast"; "Seine süße Verträumtheit war unterbrochen". Man muß andere Übersetzungen also nicht gleich wegwerfen. Aber man wird das "Decameron" mit neu belehrtem Vergnügen lesen. Da gibt Kurt Flasch keinen Pardon. HANS-JÜRGEN SCHINGS
Giovanni Boccaccio: "Männer und Frauen. Geschichten aus dem Decameron". Aus dem Italienischen übersetzt von Kurt Flasch. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1997. 323 S., geb., 49,80 DM.
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Endlich der Moralphilosoph: Kurt Flasch übersetzt Boccaccio
Kurt Flaschs neuer Boccaccio verdankt sich dem Ärger des Philosophen über die Philologen. War da doch bei dem berühmten Francesco De Sanctis zu lesen: "Boccaccio . . . ist durchaus der Außenwelt zugekehrt, lebt in den Freuden, Zerstreuungen und Geschäftigkeiten der Welt und ist von diesen ausgefüllt und befriedigt; nie wendet er sich auf sich selbst zurück, senkt nie nachdenklich das Haupt. Denkerfalten haben nie diese Stirn gezeichnet, und kein Schatten ist auf sein Gewissen gefallen." Schlichtweg dreist nennt Flasch das Aperçu von der glatten Stirn. Immoralismus, Aufstand und Karneval der Sinne oder, drastischer, Herrenlektüre? Für beschränkt hält er eine solche Sicht, für ahnungs- und harmlos.
Eher noch unwilliger geht er die "Mittelalter-Legende" an, die das "Decameron" in einen "gotischen Rahmen" einfassen möchte. Aufstieg aus den Tiefen der Sinnlichkeit zu den Höhen der Tugend, ein religiöses Erbauungsbuch, ein Lehrstück der christlich-scholastischen Moral? Da muß sich Vittore Branca, der renommierte Editor und Kommentator, schon sagen lassen, er sei den schwachen Stellen des großen Étienne Gilson erlegen. Auch die Rede vom "Realismus" (Erich Auerbach) will Flasch nicht recht gefallen, verkenne sie doch den Konstruktivismus des "Decameron", der keine Unwahrscheinlichkeit scheue. Keine laszive Renaissance also, kein gotisches Mittelalter und auch keine pralle Mimesis. Was aber dann?
Es sei leicht, Boccaccio zu lesen, schwer hingegen, die Bücher über ihn. So beginnt Flasch sein Buch "Poesie nach der Pest. Der Anfang des ,Decameron'" (1992), das die Grundlage für die jetzt vorgelegte Auswahlübersetzung bildet. Und natürlich kehrt der professionelle Historiker der mittelalterlichen Philosophie den Spieß um. Der glänzende Stilist macht es dem Leser leicht, über Boccaccio zu lesen - und sorgt doch zugleich dafür, daß die Boccaccio-Lektüre schwerer wird. Denn Kurt Flasch hat nicht weniger vor, als Boccaccio in die Geschichte der Philosophie einzugemeinden, als einen Moralphilosophen in der Krisen- und Umbruchsphase des Mittelalters.
Zu lachen gibt es jedenfalls lange nichts, wenn Flasch sich ans Werk macht. Gute hundertneunzig Seiten widmet er in seinem früheren Buch dem Eingang des "Decameron", dem Vorwort, der Einleitung des ersten Tages und, vor allem, der ersten Novelle des ersten Tages. Schon mit dem Titel meldet Boccaccio die kühnsten Ansprüche an: Das Zehntagewerk tritt in Konkurrenz zum Sechstagewerk (Hexaemeron) der Schöpfung nicht nur, sondern auch zu Dantes Universalgemälde - der Untertitel "prencipe Galeotto" stellt die konterkarierende Beziehung zu Dantes Liebesgeschichte von Francesca da Rimini und Paolo Malatesta ausdrücklich her. Konklusion: Es handelt sich um den poetischen Entwurf einer "neuen ethisch-politischen Welt" nach der apokalyptischen Pest von 1348. Die große Pestschilderung setzt an die Stelle von Dantes Hölle eine irdische Realität als Hintergrund, ein Debakel nicht zuletzt der Theologie und der herkömmlichen Wissenschaft.
Was also ist zu tun, wenn man nicht resignieren will oder beten kann? Die sieben jungen Frauen und drei Männer, die sich zufällig in Santa Maria Novella treffen, zeigen es. Ohne karitative Skrupel proklamieren sie das Recht auf Selbstbehauptung, verlassen die Stadt und stiften, mit den Regularien ihres Zusammenlebens, eine Gegengesellschaft gegen das in jeder Hinsicht verseuchte Florenz, die sich auf Heiterkeit, Lebensfreude, Liebe und Poesie gründet, onestamente freilich das alles, con ordine e con piacere. Erzählen gegen die Pest wird zum entschlossenen antiasketischen Memento vivere. Je deftiger erzählt wird, auch von den jungen Damen, je mehr sie erröten und stumme Wünsche eingestehen, desto schwereloser und keuscher die Moral der zehn. Denn auch dem Kecksten unter ihnen, dem privilegierten Dioneo, bescheinigt Flasch gleichermaßen Sinnesfreude wie "radikale Gedankenarbeit". Ohne diese jedenfalls ist Boccaccio nicht zu haben.
Wie sie aussieht, wie man also die Denkerfalten auf Boccaccios Stirn entdecken kann, demonstriert Flasch an seiner Lieblings- und "Schlüsselnovelle", der allerersten von der Metamorphose des Ser Cepparello, des schlechtesten Menschen der Welt, in einen san Ciappelletto. Auf dem Sterbebett täuscht ein Schurke seinen Beichtiger, einen ausnahmsweise heiligen Mönch, so raffiniert, daß er zum Heiligen ausgerufen und als solcher verehrt wird. Scherz, Satire, tiefere Bedeutung? Mit allen Regeln der Kunst, der spätmittelalterlichen Philosophie und Theologie, plädiert Flasch für das letztere, so daß dem Leser das Lachen bald vergeht. Kann man einen Heiligen überhaupt erkennen, gibt es die autoritative, von der Kirche beanspruchte Wahrheit über ihn? So lautet das Problem. Flasch spitzt es zu, indem er der Novelle eine Pariser Disputation des Thomas von Aquin zu dieser Frage gegenüberstellt. Hundert Jahre vor Boccaccio: eine mehr oder weniger überschwengliche Wahrheitsgewißheit. Jetzt: der "Hiat zwischen Verborgenem und Erscheinendem" ist aufgebrochen, Boccaccios Panfilo verfügt über ein neues Problembewußtsein, das dem des Thomas überlegen ist.
Flasch liest dekonstruktivistisch, wo es vielleicht zum erstenmal historisch angebracht ist. Denn, so seine Pointe, "ockhamistisches Salz" ist es, das die Musternovelle würzt, der Nominalismus des Wilhelm von Ockham, das Mißverhältnis mithin von Wörtern und Sachen. Nordischer Nebel in toskanischen Gefilden? Flasch kann nachweisen, daß Boccaccio den Dialektiker Ockham gekannt und geschätzt hat - so wie er auch den Kommentar des Thomas von Aquin zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles eigenhändig abgeschrieben und mit Randbemerkungen versehen hat. Der Thomas-Kommentar tritt an die Stelle der Geliebten aus dem Hause Aquino, die man Boccaccio in Neapel angedichtet hat. Kein schlechter Ersatz - stellt er doch Boccaccios philosophischer Bildung ein hervorragendes Zeugnis aus.
Boccaccio als "Sprachdenker". Nichts Geringeres hat die erste Novelle im Sinn als die "epistemologische und linguistische Krise" des späten Mittelalters. Nicht weniger einschneidend ist die moralische Krise, die Krise der asketischen Ideale, mit denen es der Moralphilosoph Boccaccio aufnimmt, zugunsten der Frauen. Denn für sie schreibt er, für die Eingesperrten und Gelangweilten, um ihnen die Melancholie auszutreiben. "Für werdende Moralphilosophinnen", die nicht selbst in Paris oder Bologna studieren können. "Frauenphilosophie" liefert er, eine "elementare Unterrichtung in Moralphilosophie". Versteht sich, daß dabei sexuelle Tabus gebrochen und auch grobe Heikligkeiten in Kauf genommen werden müssen. Das gehört zur "allumfassenden Lebensorientierung".
Nach den ersten vier Novellen bricht Flaschs Buch von 1992 ab. Die Spuren zu einem neuen Boccaccio sind gelegt. Der lachende Leser sieht sich gefordert. Er wird sich in einen denkenden Leser verwandeln müssen. Gelegenheit dazu gibt die neue Übersetzung. Vierundzwanzig Geschichten hat Flasch ausgewählt. Die ersten vier natürlich, die Falkenerzählung, die Geschichte vom Philosophen Cavalcanti ebenso wie die vom Frate Cipolla, eine bunte Mischung, Bett- und Mönchsgeschichten ebenso wie die Geschichten heroischer Tugend. Erklärtermaßen hat aber Flasch mit seiner Auswahl die "Bewegungsrichtung auf weibliche Größe" nachzeichnen wollen. Seine besondere Sympathie gehört so Ghismonda (IV, 1) und namentlich Griselda (X, 10). Diese ist für ihn die "Weise" schlechthin, die Geschichte ihrer unerhörten Geduldsproben, merkwürdigerweise, der "Höhepunkt von Boccaccios anschaulicher Moralphilosophie". Ein dichtes Nachwort resümiert die früheren Boccaccio-Studien. Man sollte es zuerst lesen; hier steckt der neue Boccaccio.
Die Übersetzungen wollen entstauben und auffrischen. Vor saloppen Modernismen scheuen sie nicht zurück: Macken, anmachen, Sächelchen, Knutschfleck, armes Schwein, trudeln, Was is'n los? Prüderie liegt ihnen noch ferner als Boccaccio. Aus "santo Cresci" und "san Cresci in Valcava" wird gleich überdeutlich ein "heiliger ,Er-Wächst-Unter-Der-Hand'" oder der "Heilige ,Wachse, Kleiner' in Valcava". Pointen kommen gut heraus. Eine gewisse Sprödigkeit sperrt sich gegen die routinierte Glätte, die etwa Karl Wittes weitverbreitete Übertragung kennzeichnet.
Da unterlaufen dann freilich auch Härten und Holprigkeiten (insbesondere in der Ghismonda-Erzählung): "Dadurch, daß ich schon verheiratet gewesen bin"; "und ich, ich als Frau und als junge Frau, habe beschlossen"; "es war meine und seine wohldurchdachte Ausdauer, mein leidenschaftliches Begehren so anhaltend mit Genuß zu befriedigen"; "daß meine Seele sich verbinde mit der, die du, als du noch schlugst, so liebevoll behütet hast"; "Seine süße Verträumtheit war unterbrochen". Man muß andere Übersetzungen also nicht gleich wegwerfen. Aber man wird das "Decameron" mit neu belehrtem Vergnügen lesen. Da gibt Kurt Flasch keinen Pardon. HANS-JÜRGEN SCHINGS
Giovanni Boccaccio: "Männer und Frauen. Geschichten aus dem Decameron". Aus dem Italienischen übersetzt von Kurt Flasch. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1997. 323 S., geb., 49,80 DM.
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