Von Zaubermärchen und Lügenmärchen - eine Gattung im Wandel. Die Volksmärchen der Gebrüder Grimm, Hans Christian Andersens oder die Märchen aus Tausendundeinernacht stehen vielen Menschen lebhaft vor Augen. Wie aber sind sie entstanden? Wie hat sich die Gattung 'Märchen' entwickelt, und wodurch grenzt sie sich von Sage, Legende, Mythos, Fabel und Schwank ab? Max Lüthi, Doyen der Märchenforschung, förderte akribisch alle Feinheiten zu Tage. Seine Einführung avancierte zum Klassiker.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2010Die folgende Geschichte
Wie entsteht ein Märchen? Wer gibt ihm seine gültige Gestalt? Und wieso begegnet es uns in ähnlicher Form in ganz unterschiedlichen Kulturen? Solche Fragen beschäftigen die Märchenforschung, zweihundert Jahre nachdem die Brüder Grimm ihr den entscheidenden Anstoß gegeben haben.
Von Tilman Spreckelsen
Als Cornelia Funke in diesem Herbst ihren Roman "Reckless" veröffentlichte, erntete sie dafür neben viel Lob auch einige Kritik. Funke hatte darin die Brüder Jacob und Will Reckless aus dem New York unserer Gegenwart durch einen magischen Spiegel in eine Art vormodernes Biedermeierland geschickt, in dem es vor Gestalten und Accessoires aus den Märchen der Brüder Grimm nur so wimmelt: Die Brüder kommen zum Hexenhaus im Wald, begegnen Einhörnern und Zwergen, haben es mit Siebenmeilenstiefeln, dem Tischleindeckdich und dem goldenen Ball aus dem "Froschkönig" zu tun. Die enorme Düsternis und Grausamkeit ihrer Märchenwelt, die etwa im Zusammentreffen mit einem mumifizierten, weil immer noch ungeküssten Dornröschen gipfelt, verteidigte Funke in einem Interview mit dem Hinweis auf ebendie enorme Düsternis und Grausamkeit ihrer Vorlage. Und antifeministisch seien die Grimmschen Märchen übrigens auch.
Das sahen manche als dreisten Angriff auf ein unantastbares Stück Weltliteratur, das neben der Lutherbibel das bekannteste Buch deutscher Zunge sein dürfte und jüngst ins Weltdokumentenerbe der Unesco eingegangen ist. Darf so etwas zum Spielmaterial von Autorinnen werden, die es ersichtlich an Ehrfurcht mangeln lassen?
Wer so kämpft, steht schon auf verlorenem Posten. Denn zur Natur von Märchen gehört, ihrer Gattungsherkunft aus dem Mündlichen entsprechend, die Adaption des Gehörten oder eben Gelesenen durch jeden neuen Erzähler. Als sich die Brüder Grimm im frühen neunzehnten Jahrhundert die Märchen für ihre eigene Sammlung vorsagen ließen, machten sie es nicht anders, vor allem in den Bearbeitungen, mit denen sie die Texte in den späteren Ausgaben überzogen. Und allen Beteuerungen der Brüder zum Trotz, die Märchen seien "fast sämtlich aus mündlicher Überlieferung gesammelt", gehen natürlich auch Lektürefrüchte in die Sammlung ein. Das ist selbst mittelbar der Fall, wenn etwa die mündlich erzählten Märchen, wie der Germanist Steffen Martus schreibt, "dabei immer den Filter routinierter Leserinnen" durchliefen, die diese Märchen aufschrieben und nach Kassel zu den Grimms schickten, die ihrerseits die Einsendungen weiter bearbeiteten.
Natürlich liegt darin ein Widerspruch zum erhobenen Anspruch, im Märchensammeln ein diffuses volkstümliches Erbe zu sichten. "Ächt hessisch" und "urdeutsch" seien diese Texte, heißt es in der Vorrede zur Ausgabe von 1815, was verkennt, dass vieles darin französische Ursprünge besitzt, die durch die mit den Grimms befreundeten Kasseler Damen aus hugenottischen Familien an die Brüder vermittelt worden sind.
Vom Anspruch aber, durch das Sammeln mündlich tradierter Geschichten Einblicke in Epochen zu erhalten, aus denen keine schriftlichen Zeugnisse existieren, geht in der Folge ein mächtiger Impuls aus, der bis weit ins zwanzigste Jahrhundert reicht: "Wie die systematische Sammlung, so hat auch die systematische Erforschung des Märchens ihren eigentlichen Ursprung in der Arbeit und in Anregungen der Brüder Grimm", schreibt Max Lüthi in seiner Einführung "Märchen". Denn die "Vorreden, Anmerkungen und Briefe" der Brüder Grimm "stellen schon die entscheidenden Fragen nach Wesensart, Bedeutung, Lebensweise und Ursprung der Volksmärchen und legten so die Grundlage zu einer umfassenden Märchentheorie". Überall in Europa gehen Philologen, angeregt durch die Brüder Grimm, über die Dörfer und lassen sich Geschichten erzählen, je älter und wunderlicher, desto besser. Kein Ethnologe, der etwas auf sich hält, verzichtet um 1900 darauf, die Märchen der besuchten Völker aufzuzeichnen und dabei mehr oder weniger zu bearbeiten. Und was allein in dieser Zeit weltweit an Quellentexten erhoben und publiziert wurde, ist kaum zu überschauen.
Dabei kommt schon früh der Gedanke auf, dass man all dies Gesammelte miteinander in Beziehung setzen müsse. Wenn ein bestimmtes Motiv in einem sibirischen Märchen so gut erscheint wie in einem südafrikanischen - was sagt uns das? Hat hier der eine Erzähler den anderen beeinflusst? Wann? Und über wie viele Stationen? Oder haben hier vielleicht zwei europäische Märchensammler auf Feldforschung in Asien und Afrika mit demselben literarischen Hintergrund das Ihre dazu beigetragen, dass sich die Märchen so gleichen?
Um wenigstens einen ungefähren Maßstab für Vergleiche zu haben, steht der am Motiv interessierten Märchenforschung seit exakt hundert Jahren ein Index zur Verfügung, in dem einzelne Inhalte nach groben Rastern geordnet und mit je einer Nummer versehen worden sind. 1910 veröffentlichte der finnische Forscher Antti Aarne auf der Grundlage von deutschen, finnischen und dänischen Märchen ein Typensystem des Märchens, das in der Folge ständig erweitert wurde, zuletzt vor sechs Jahren in der gründlichen Überarbeitung des deutschen Erzählforschers Hans-Jörg Uther.
Dieses sogenannte Aarne-Thompsonsche Typenverzeichnis umfasst die Gruppen "Tiermärchen" (Nr. 1 bis 299), "Zaubermärchen (300 bis 749), "Legendenartige Märchen (750 bis 849)", "Novellenartige Märchen" (850 bis 999), "Märchen vom dummen Teufel/Riesen" (1000 bis 1199), "Schwänke" (1200 bis 1999), "Formelmärchen" (200 bis 2400) und "Unklassifizierte Märchen" (2401 bis 2500).
Nicht alle diese Nummern sind vergeben, so dass noch Platz für Texte wäre, die sich keinem der bisher vorhandenen Einträge zuordnen lassen. Wie aber will man überhaupt entscheiden, ob ein Text in diesen eher großzügig und angelegten Index gehört?
"Die Grundlage vieler Mythen, Märchen und Sagen", schreibt Hans-Jörg Uther, "besteht darin, dass Tiere und Menschen sich unterhalten können, alles mit allem verbunden ist und die Abenteuer in einer einzigen Welt spielen, gleich ob in der Unterwelt, im Himmel oder auf der Erde."
Zudem gehört zum Märchen, dass erzählt wird, ohne allzu viel zu begründen. Man springt in einen Brunnen und landet auf einer Wiese? Sei's drum. Aus dem erschlagenen, gekochten und vom eigenen Vater verspeisten kleinen Jungen wird ein Vogel? Warum denn nicht? Und wenn ein Frosch erst an die Wand geworfen werden muss, damit daraus ein Prinz wird, ist das eine schöne Sache, die nicht groß hinterfragt werden muss. So laufen im Märchen die Protagonisten durch ihre Welt, ohne sich zu wundern, und in jenem Protagonisten, "der auszog, das Fürchten zu lernen", zeigt sich diese Haltung vielleicht am reinsten.
Anders als Sagen zielen Märchen aber auch nicht auf reale Begebenheiten ab, und lägen sie noch so fern zurück. Umso kurioser sind dann auch die Versuche einiger Forscher, einen ominösen "wahren Kern" aus ihnen heraus zu fördern, etwa indem der Hintergrund von "Sneewittchen" und ihren sieben Zwergen im hessischen Bergbau und der Heiratspolitik der Waldecker Fürsten im 16. Jahrhundert gesucht und gefunden wird (siehe F.A.Z. vom 8. 10. 2005).
Vielversprechender scheint da die Disziplin mit dem hübschen Namen Märchenbiologie. Die Forschungsrichtung bemühe sich, schreibt Lüthi, "um das Märchen selber: Entstehungs- und Wachstumsbedingungen, Verfalls- und Regenerationserscheinungen, Modifikationen durch Vermischung mit anderen Erzählungen und Erzähltypen". Von da aus geht der märchenbiologisch orientierte Blick aber weiter und untersucht, wer da eigentlich erzählt, welche Rolle die Erzählerpersönlichkeit spielt und seine Zuhörer und wie daraus das jeweils mündlich entstehende Märchen seine besonderen Züge erhält - an diesem Punkt ist es nicht mehr weit zu einer Soziologie des Märchens.
Eine Märchenforschung, die den Namen verdient, wird sich den Fragen der freien Adaption von Märchen nicht verschließen können. Sie wird sich der enormen Anzahl von Fantasy-Filmen annehmen müssen, die mit Märchenmotiven spielen oder das Leben von Märchensammlern wie den Brüdern Grimm darstellen. Sie wird sich mit Funkes "Reckless" ebenso beschäftigen wie mit Christopher Marzis jetzt erschienenem Jugendbuch "Grimm". Man wird jedenfalls von Funke in "Reckless" auf erhellende Weise über die Schattenseiten der Märchenwelt belehrt: Denn die Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat, ist eine Zeit ohne Penicillin.
Literatur: Max Lüthi, "Märchen". Metzler Verlag, Stuttgart 2004. - Steffen Martus, "Die Brüder Grimm". Rowohlt Berlin, Berlin 2009. Im Internet: Europäische Märchengesellschaft e. V. (www.maerchen-emg.de).
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Wie entsteht ein Märchen? Wer gibt ihm seine gültige Gestalt? Und wieso begegnet es uns in ähnlicher Form in ganz unterschiedlichen Kulturen? Solche Fragen beschäftigen die Märchenforschung, zweihundert Jahre nachdem die Brüder Grimm ihr den entscheidenden Anstoß gegeben haben.
Von Tilman Spreckelsen
Als Cornelia Funke in diesem Herbst ihren Roman "Reckless" veröffentlichte, erntete sie dafür neben viel Lob auch einige Kritik. Funke hatte darin die Brüder Jacob und Will Reckless aus dem New York unserer Gegenwart durch einen magischen Spiegel in eine Art vormodernes Biedermeierland geschickt, in dem es vor Gestalten und Accessoires aus den Märchen der Brüder Grimm nur so wimmelt: Die Brüder kommen zum Hexenhaus im Wald, begegnen Einhörnern und Zwergen, haben es mit Siebenmeilenstiefeln, dem Tischleindeckdich und dem goldenen Ball aus dem "Froschkönig" zu tun. Die enorme Düsternis und Grausamkeit ihrer Märchenwelt, die etwa im Zusammentreffen mit einem mumifizierten, weil immer noch ungeküssten Dornröschen gipfelt, verteidigte Funke in einem Interview mit dem Hinweis auf ebendie enorme Düsternis und Grausamkeit ihrer Vorlage. Und antifeministisch seien die Grimmschen Märchen übrigens auch.
Das sahen manche als dreisten Angriff auf ein unantastbares Stück Weltliteratur, das neben der Lutherbibel das bekannteste Buch deutscher Zunge sein dürfte und jüngst ins Weltdokumentenerbe der Unesco eingegangen ist. Darf so etwas zum Spielmaterial von Autorinnen werden, die es ersichtlich an Ehrfurcht mangeln lassen?
Wer so kämpft, steht schon auf verlorenem Posten. Denn zur Natur von Märchen gehört, ihrer Gattungsherkunft aus dem Mündlichen entsprechend, die Adaption des Gehörten oder eben Gelesenen durch jeden neuen Erzähler. Als sich die Brüder Grimm im frühen neunzehnten Jahrhundert die Märchen für ihre eigene Sammlung vorsagen ließen, machten sie es nicht anders, vor allem in den Bearbeitungen, mit denen sie die Texte in den späteren Ausgaben überzogen. Und allen Beteuerungen der Brüder zum Trotz, die Märchen seien "fast sämtlich aus mündlicher Überlieferung gesammelt", gehen natürlich auch Lektürefrüchte in die Sammlung ein. Das ist selbst mittelbar der Fall, wenn etwa die mündlich erzählten Märchen, wie der Germanist Steffen Martus schreibt, "dabei immer den Filter routinierter Leserinnen" durchliefen, die diese Märchen aufschrieben und nach Kassel zu den Grimms schickten, die ihrerseits die Einsendungen weiter bearbeiteten.
Natürlich liegt darin ein Widerspruch zum erhobenen Anspruch, im Märchensammeln ein diffuses volkstümliches Erbe zu sichten. "Ächt hessisch" und "urdeutsch" seien diese Texte, heißt es in der Vorrede zur Ausgabe von 1815, was verkennt, dass vieles darin französische Ursprünge besitzt, die durch die mit den Grimms befreundeten Kasseler Damen aus hugenottischen Familien an die Brüder vermittelt worden sind.
Vom Anspruch aber, durch das Sammeln mündlich tradierter Geschichten Einblicke in Epochen zu erhalten, aus denen keine schriftlichen Zeugnisse existieren, geht in der Folge ein mächtiger Impuls aus, der bis weit ins zwanzigste Jahrhundert reicht: "Wie die systematische Sammlung, so hat auch die systematische Erforschung des Märchens ihren eigentlichen Ursprung in der Arbeit und in Anregungen der Brüder Grimm", schreibt Max Lüthi in seiner Einführung "Märchen". Denn die "Vorreden, Anmerkungen und Briefe" der Brüder Grimm "stellen schon die entscheidenden Fragen nach Wesensart, Bedeutung, Lebensweise und Ursprung der Volksmärchen und legten so die Grundlage zu einer umfassenden Märchentheorie". Überall in Europa gehen Philologen, angeregt durch die Brüder Grimm, über die Dörfer und lassen sich Geschichten erzählen, je älter und wunderlicher, desto besser. Kein Ethnologe, der etwas auf sich hält, verzichtet um 1900 darauf, die Märchen der besuchten Völker aufzuzeichnen und dabei mehr oder weniger zu bearbeiten. Und was allein in dieser Zeit weltweit an Quellentexten erhoben und publiziert wurde, ist kaum zu überschauen.
Dabei kommt schon früh der Gedanke auf, dass man all dies Gesammelte miteinander in Beziehung setzen müsse. Wenn ein bestimmtes Motiv in einem sibirischen Märchen so gut erscheint wie in einem südafrikanischen - was sagt uns das? Hat hier der eine Erzähler den anderen beeinflusst? Wann? Und über wie viele Stationen? Oder haben hier vielleicht zwei europäische Märchensammler auf Feldforschung in Asien und Afrika mit demselben literarischen Hintergrund das Ihre dazu beigetragen, dass sich die Märchen so gleichen?
Um wenigstens einen ungefähren Maßstab für Vergleiche zu haben, steht der am Motiv interessierten Märchenforschung seit exakt hundert Jahren ein Index zur Verfügung, in dem einzelne Inhalte nach groben Rastern geordnet und mit je einer Nummer versehen worden sind. 1910 veröffentlichte der finnische Forscher Antti Aarne auf der Grundlage von deutschen, finnischen und dänischen Märchen ein Typensystem des Märchens, das in der Folge ständig erweitert wurde, zuletzt vor sechs Jahren in der gründlichen Überarbeitung des deutschen Erzählforschers Hans-Jörg Uther.
Dieses sogenannte Aarne-Thompsonsche Typenverzeichnis umfasst die Gruppen "Tiermärchen" (Nr. 1 bis 299), "Zaubermärchen (300 bis 749), "Legendenartige Märchen (750 bis 849)", "Novellenartige Märchen" (850 bis 999), "Märchen vom dummen Teufel/Riesen" (1000 bis 1199), "Schwänke" (1200 bis 1999), "Formelmärchen" (200 bis 2400) und "Unklassifizierte Märchen" (2401 bis 2500).
Nicht alle diese Nummern sind vergeben, so dass noch Platz für Texte wäre, die sich keinem der bisher vorhandenen Einträge zuordnen lassen. Wie aber will man überhaupt entscheiden, ob ein Text in diesen eher großzügig und angelegten Index gehört?
"Die Grundlage vieler Mythen, Märchen und Sagen", schreibt Hans-Jörg Uther, "besteht darin, dass Tiere und Menschen sich unterhalten können, alles mit allem verbunden ist und die Abenteuer in einer einzigen Welt spielen, gleich ob in der Unterwelt, im Himmel oder auf der Erde."
Zudem gehört zum Märchen, dass erzählt wird, ohne allzu viel zu begründen. Man springt in einen Brunnen und landet auf einer Wiese? Sei's drum. Aus dem erschlagenen, gekochten und vom eigenen Vater verspeisten kleinen Jungen wird ein Vogel? Warum denn nicht? Und wenn ein Frosch erst an die Wand geworfen werden muss, damit daraus ein Prinz wird, ist das eine schöne Sache, die nicht groß hinterfragt werden muss. So laufen im Märchen die Protagonisten durch ihre Welt, ohne sich zu wundern, und in jenem Protagonisten, "der auszog, das Fürchten zu lernen", zeigt sich diese Haltung vielleicht am reinsten.
Anders als Sagen zielen Märchen aber auch nicht auf reale Begebenheiten ab, und lägen sie noch so fern zurück. Umso kurioser sind dann auch die Versuche einiger Forscher, einen ominösen "wahren Kern" aus ihnen heraus zu fördern, etwa indem der Hintergrund von "Sneewittchen" und ihren sieben Zwergen im hessischen Bergbau und der Heiratspolitik der Waldecker Fürsten im 16. Jahrhundert gesucht und gefunden wird (siehe F.A.Z. vom 8. 10. 2005).
Vielversprechender scheint da die Disziplin mit dem hübschen Namen Märchenbiologie. Die Forschungsrichtung bemühe sich, schreibt Lüthi, "um das Märchen selber: Entstehungs- und Wachstumsbedingungen, Verfalls- und Regenerationserscheinungen, Modifikationen durch Vermischung mit anderen Erzählungen und Erzähltypen". Von da aus geht der märchenbiologisch orientierte Blick aber weiter und untersucht, wer da eigentlich erzählt, welche Rolle die Erzählerpersönlichkeit spielt und seine Zuhörer und wie daraus das jeweils mündlich entstehende Märchen seine besonderen Züge erhält - an diesem Punkt ist es nicht mehr weit zu einer Soziologie des Märchens.
Eine Märchenforschung, die den Namen verdient, wird sich den Fragen der freien Adaption von Märchen nicht verschließen können. Sie wird sich der enormen Anzahl von Fantasy-Filmen annehmen müssen, die mit Märchenmotiven spielen oder das Leben von Märchensammlern wie den Brüdern Grimm darstellen. Sie wird sich mit Funkes "Reckless" ebenso beschäftigen wie mit Christopher Marzis jetzt erschienenem Jugendbuch "Grimm". Man wird jedenfalls von Funke in "Reckless" auf erhellende Weise über die Schattenseiten der Märchenwelt belehrt: Denn die Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat, ist eine Zeit ohne Penicillin.
Literatur: Max Lüthi, "Märchen". Metzler Verlag, Stuttgart 2004. - Steffen Martus, "Die Brüder Grimm". Rowohlt Berlin, Berlin 2009. Im Internet: Europäische Märchengesellschaft e. V. (www.maerchen-emg.de).
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"Wie man in diesem Buch erfährt, sind Märchen viel mehr, als nur Geschichten. Es gibt nämlich mehrere Typen dieser Gattung, die man ausmachen kann und es ist wichtig, dass der Autor auf Wesenszüge, wie den Handlungsverlauf, das Personal oder die Art der Darstellung achtet. In diesem Buch geht es also nicht um bestimmte Märchen als solche, sondern um dessen Aufbau und dessen Art." - lehrerbibliothek.de