Neues von der Grande Dame der Poesie, nonkonformistisch und unverwechselbar
Plappernder silberner Wind, Hagelschlangen, grüne Kraken im Januargarten - Sarah Kirsch gehört ohne Zweifel zu den Großen der deutschsprachigen Lyrik. Ihre Tagebuchaufzeichnungen sind immer ein Eintauchen in die Welt der Poesie und zeugen von einer tiefen Verbundenheit mit der Natur. Das Leben im Wechsel der Jahreszeiten verbindet sie mit eigenen Assoziationen, die oft mit Witz und Ironie gefärbt sind. Ein idyllischer Kosmos, in den allerdings die Außenwelt einbricht: Die Auswirkungen von 9/11 oder auch Überschwemmungen in Ostdeutschland finden Eingang in die Notate von Dezember 2001 bis Herbst 2002. So werden Sarah Kirschs Tagebücher zu einem schillernden, persönlich kommentierten Zeitdokument, und sie bezeugen das unvermindert hochkarätige Schaffen der großen Lyrikerin.
Plappernder silberner Wind, Hagelschlangen, grüne Kraken im Januargarten - Sarah Kirsch gehört ohne Zweifel zu den Großen der deutschsprachigen Lyrik. Ihre Tagebuchaufzeichnungen sind immer ein Eintauchen in die Welt der Poesie und zeugen von einer tiefen Verbundenheit mit der Natur. Das Leben im Wechsel der Jahreszeiten verbindet sie mit eigenen Assoziationen, die oft mit Witz und Ironie gefärbt sind. Ein idyllischer Kosmos, in den allerdings die Außenwelt einbricht: Die Auswirkungen von 9/11 oder auch Überschwemmungen in Ostdeutschland finden Eingang in die Notate von Dezember 2001 bis Herbst 2002. So werden Sarah Kirschs Tagebücher zu einem schillernden, persönlich kommentierten Zeitdokument, und sie bezeugen das unvermindert hochkarätige Schaffen der großen Lyrikerin.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.03.2012Güllefass
und Vogelmiere
Neue „Tagebruchstücke“ von
Sarah Kirsch: „Märzveilchen“
Warum fühlt man sich beim Lesen der Tagebücher Sarahs Kirschs oft an Arno Schmidts Frühwerk erinnert? Nicht nur wegen der autobiographischen Fäden. Nicht nur wegen flacher Landschaft, morgendlichen Wettermeldungen, Mondmetaphern: „Liebe ist wie der Mond, wenn sie nicht zunimmt nimmt sie ab“, notiert Kirsch. Das Runde, Hellblaue vor ihrem Fenster aber ist ein Ballon.
„Mein Leben?!: ist kein Kontinuum!“, lässt Schmidt in „Aus dem Leben eines Fauns“ sein literarisches Alter Ego Heinrich Düring ausrufen. Als „löcheriges“ Dasein bezeichnet er eine Welt- und Selbstwahrnehmung, die den epischen Fluss nicht kennt: „Auf dem Bindfaden der Bedeutungslosigkeit, der allgegenwärtigen langen Weile, ist die Perlenkette kleiner Erlebniseinheiten, innerer und äußerer, aufgereiht.“ Bei Sarah Kirsch liest sich das so: „Wüstes Wetter. Schwere Sturmböen. Hagelschlangen. Die Katzen dürfen den ganzen Tag in den Betten liegen. Hab was getan, eigentlich bloß im Koppe, zum Aufschreiben ist es noch nicht gekommen. Es macht auch Spaß sich etwas zu sortieren.“ Der Band „Islandhoch“ (2002) nannte solche diaristische Kurzprosa „Tagebruchstücke“. Das trifft auch die Tagebuchstücke von Dezember 2001 bis September 2002, die jetzt unter Anspielung auf ein Gedicht Adelbert von Chamissos unter dem Titel „Märzveilchen“ erschienen sind.
Krieg gegen Terror und Kampf gegen Sintfluten prägen die Nachrichten. Nur die Eider bleibt ein sehr braver Fluss. Hinter Chamissos Veilchen aber „blühet noch gar / ein blaues ein lächelndes Augenpaar“. Zum Dasein der Tagebuchschreiberin zählt neben den Mosaiksteinchen aus dem simplen Leben hinterm Eiderdeich viel bestenfalls Angedeutetes. Manch Nahestehender tritt unter verschlüsseltem Namen auf: „Die Dame fragte Maxe ob er Moritz sei“, heißt es über den Sohn der Dichterin. Klarnamen hingegen sind nicht immer Ausdruck von Wertschätzung. Stilistisch „isses ganz fürchterlich“, heißt es über das Buch der „Frau Schmitter“, und der „Robert der Schindel mit seinem Don-Juan-Komplex“ macht ein Dichtertreffen nicht erträglicher. Überhaupt gilt Horazens „beatus ille qui procul negotiis“. Fern des Literaturbetriebs hält sich selbst die Panik angesichts pfingstfroher Himmelfahrtskommandos im Zaum.
Diskontinuität ist in Sarah Kirschs Tagebüchern schon durch die Hüpfprozession der Publikationabfolge garantiert: Das „Krähengeschwätz“(2010) umfasste den Zeitraum von März 1985 bis zum Dezember 1987. Die „Sommerhütchen“ (2008) reichten von April bis September 2004. Mögen die oft stürmischen Wetterepisoden, der botanische Jahreslauf und Kirschs „Spazoren zu den Azoren“ den Eindruck einer ländlichen Sinekure erwecken, in der es sich die Autorin auch umgangssprachlich gemütlich macht, so spult sich dieser Lebenslauf alles andere als geradlinig ab und steckt voller Lücken und Tücken. Zwischen Prosastücken hat sich Lyrik eingeschlichen, fährt der Tod Güllefässchen im Zwielicht. Grüne Kraken der Vogelmieren lauern im Januargarten.
Intime Vertrautheit mit einem fremden Leben ist hier eine Illusion, in die man so leicht hineinrutscht wie in einen Urlaub auf dem Lande. Wie bei Schmidt erlaubt bei Sarah Kirsch das Fragmentarische, Löcherige der Tagebruchstücke einen sympathetischen Diffusionsprozess, eine Identifikation, wie man sie bei der Trivialliteratur doch gemeinhin aufs Strengste verdammt: „Abends bei Rosamunde Pilcher ausgeharrt“, gibt die Dichterin ihr Bildschirm-Vergnügen preis, „und siehe! Es gab Cockington zu sehen! Den großen Park und den Rosengarten wo wir doch gingen. Wau war das schön!“ Das ist nebenbei dieselbe Glotze, in der drei Tage zuvor Bin Laden über die „freudige Überraschung“ sprach, die ihm der totale Einsturz beider New Yorker Zwillingstürme beschert habe.
Man kann so verstehen, warum Arno Schmidt, dessen Prosastruktur der Sarah Kirschs oft so ähnelt, von „erbarmungslosen“ Techniken geschrieben hat, die „unseren mangelhaften Sinnesapparat wieder an die richtige ihm gebührende biologische Stelle“ setzten. Bin Ladens Triumph und Pilchers Rosen sind zunächst einmal Gegenstände, die Aufmerksamkeit wecken, sich aus dem tagtäglichen Mancherlei hervorheben, Konturen gewinnen inmitten der Diskontinuität. Reflexion, kritische Distanzierung bleibt oft in statu nascendi stehen – buchstäblich, auf dem Papier. Das Leben erscheint dort am besten getroffen, wo es sich selbst kommentiert: „Allah sei gepriesen Allah sei Dank murmelten alle Anwesenden, und einer hatte einen schaurigen Husten.“ Und irgendwie scheint sich das globale Dorf bis nach Tielenhemme ausgedehnt zu haben: „26. Julius 2002, Freitag. Die Zerkältung ist bei mir angekommen!“ Das ist aber ne ganz andere Zerkältung. Und ist schon Vorgeschmack auf Herbstweh und Schnee und Schluss für diesmal.
ULRICH BARON
SARAH KIRSCH: Märzveilchen. Deutsche Verlagsanstalt, München 2012. 240 Seiten, 19,99 Euro.
Sarah Kirsch
Foto: Isolde Ohlbaum
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und Vogelmiere
Neue „Tagebruchstücke“ von
Sarah Kirsch: „Märzveilchen“
Warum fühlt man sich beim Lesen der Tagebücher Sarahs Kirschs oft an Arno Schmidts Frühwerk erinnert? Nicht nur wegen der autobiographischen Fäden. Nicht nur wegen flacher Landschaft, morgendlichen Wettermeldungen, Mondmetaphern: „Liebe ist wie der Mond, wenn sie nicht zunimmt nimmt sie ab“, notiert Kirsch. Das Runde, Hellblaue vor ihrem Fenster aber ist ein Ballon.
„Mein Leben?!: ist kein Kontinuum!“, lässt Schmidt in „Aus dem Leben eines Fauns“ sein literarisches Alter Ego Heinrich Düring ausrufen. Als „löcheriges“ Dasein bezeichnet er eine Welt- und Selbstwahrnehmung, die den epischen Fluss nicht kennt: „Auf dem Bindfaden der Bedeutungslosigkeit, der allgegenwärtigen langen Weile, ist die Perlenkette kleiner Erlebniseinheiten, innerer und äußerer, aufgereiht.“ Bei Sarah Kirsch liest sich das so: „Wüstes Wetter. Schwere Sturmböen. Hagelschlangen. Die Katzen dürfen den ganzen Tag in den Betten liegen. Hab was getan, eigentlich bloß im Koppe, zum Aufschreiben ist es noch nicht gekommen. Es macht auch Spaß sich etwas zu sortieren.“ Der Band „Islandhoch“ (2002) nannte solche diaristische Kurzprosa „Tagebruchstücke“. Das trifft auch die Tagebuchstücke von Dezember 2001 bis September 2002, die jetzt unter Anspielung auf ein Gedicht Adelbert von Chamissos unter dem Titel „Märzveilchen“ erschienen sind.
Krieg gegen Terror und Kampf gegen Sintfluten prägen die Nachrichten. Nur die Eider bleibt ein sehr braver Fluss. Hinter Chamissos Veilchen aber „blühet noch gar / ein blaues ein lächelndes Augenpaar“. Zum Dasein der Tagebuchschreiberin zählt neben den Mosaiksteinchen aus dem simplen Leben hinterm Eiderdeich viel bestenfalls Angedeutetes. Manch Nahestehender tritt unter verschlüsseltem Namen auf: „Die Dame fragte Maxe ob er Moritz sei“, heißt es über den Sohn der Dichterin. Klarnamen hingegen sind nicht immer Ausdruck von Wertschätzung. Stilistisch „isses ganz fürchterlich“, heißt es über das Buch der „Frau Schmitter“, und der „Robert der Schindel mit seinem Don-Juan-Komplex“ macht ein Dichtertreffen nicht erträglicher. Überhaupt gilt Horazens „beatus ille qui procul negotiis“. Fern des Literaturbetriebs hält sich selbst die Panik angesichts pfingstfroher Himmelfahrtskommandos im Zaum.
Diskontinuität ist in Sarah Kirschs Tagebüchern schon durch die Hüpfprozession der Publikationabfolge garantiert: Das „Krähengeschwätz“(2010) umfasste den Zeitraum von März 1985 bis zum Dezember 1987. Die „Sommerhütchen“ (2008) reichten von April bis September 2004. Mögen die oft stürmischen Wetterepisoden, der botanische Jahreslauf und Kirschs „Spazoren zu den Azoren“ den Eindruck einer ländlichen Sinekure erwecken, in der es sich die Autorin auch umgangssprachlich gemütlich macht, so spult sich dieser Lebenslauf alles andere als geradlinig ab und steckt voller Lücken und Tücken. Zwischen Prosastücken hat sich Lyrik eingeschlichen, fährt der Tod Güllefässchen im Zwielicht. Grüne Kraken der Vogelmieren lauern im Januargarten.
Intime Vertrautheit mit einem fremden Leben ist hier eine Illusion, in die man so leicht hineinrutscht wie in einen Urlaub auf dem Lande. Wie bei Schmidt erlaubt bei Sarah Kirsch das Fragmentarische, Löcherige der Tagebruchstücke einen sympathetischen Diffusionsprozess, eine Identifikation, wie man sie bei der Trivialliteratur doch gemeinhin aufs Strengste verdammt: „Abends bei Rosamunde Pilcher ausgeharrt“, gibt die Dichterin ihr Bildschirm-Vergnügen preis, „und siehe! Es gab Cockington zu sehen! Den großen Park und den Rosengarten wo wir doch gingen. Wau war das schön!“ Das ist nebenbei dieselbe Glotze, in der drei Tage zuvor Bin Laden über die „freudige Überraschung“ sprach, die ihm der totale Einsturz beider New Yorker Zwillingstürme beschert habe.
Man kann so verstehen, warum Arno Schmidt, dessen Prosastruktur der Sarah Kirschs oft so ähnelt, von „erbarmungslosen“ Techniken geschrieben hat, die „unseren mangelhaften Sinnesapparat wieder an die richtige ihm gebührende biologische Stelle“ setzten. Bin Ladens Triumph und Pilchers Rosen sind zunächst einmal Gegenstände, die Aufmerksamkeit wecken, sich aus dem tagtäglichen Mancherlei hervorheben, Konturen gewinnen inmitten der Diskontinuität. Reflexion, kritische Distanzierung bleibt oft in statu nascendi stehen – buchstäblich, auf dem Papier. Das Leben erscheint dort am besten getroffen, wo es sich selbst kommentiert: „Allah sei gepriesen Allah sei Dank murmelten alle Anwesenden, und einer hatte einen schaurigen Husten.“ Und irgendwie scheint sich das globale Dorf bis nach Tielenhemme ausgedehnt zu haben: „26. Julius 2002, Freitag. Die Zerkältung ist bei mir angekommen!“ Das ist aber ne ganz andere Zerkältung. Und ist schon Vorgeschmack auf Herbstweh und Schnee und Schluss für diesmal.
ULRICH BARON
SARAH KIRSCH: Märzveilchen. Deutsche Verlagsanstalt, München 2012. 240 Seiten, 19,99 Euro.
Sarah Kirsch
Foto: Isolde Ohlbaum
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2012Die Auswahl der Wolle beim Stricken
Jaguar, Zebra, Nerz, Mandrill: In ihren Tagebuchaufzeichnungen erzählt Sarah Kirsch von Zugvögeln, Lindenblüten und sommerlichen Bädern im Fluss - und gibt en passant Einblick in ihre Poetologie.
In den neun Monaten zwischen Dezember 2001 und September 2002 ist vieles in der Welt passiert: Die Suche nach dem Terroristen Bin Ladin und die Furcht vor neuen Anschlägen dominierten die amerikanische Politik, in Europa wurde eine neue Währung eingeführt, und im Sommer überfluteten schwere Hochwasser Teile der Dresdner Altstadt. Im Fernsehprogramm gab es hingegen in dieser Zeit viel Erfreuliches, vor allem in den Kultursendern: alte Spielfilme und Dokumentationen über die Fauna der Tiefsee, gelungene Theaterinszenierungen und Konzertübertragungen.
Von all dem berichtet Sarah Kirsch in ihren Tagebuchaufzeichnungen, und sie trennt dabei nicht zwischen der großen Weltpolitik und den kleinen Ereignissen ihres zurückgezogenen Lebens auf dem Land. In ihrem Haus an der Eider fühlt sich die Dichterin, wie man seit langem weiß, besonders wohl, und so finden sich in diesem Band viele genaue Schilderungen der schleswig-holsteinischen Natur im Wechsel der Jahreszeiten. Die Ankunft der ersten Zugvögel wird ebenso freudig begrüßt wie die Blüten von Weißdorn und Linde; das Quaken einer Unke vor dem Haus ertönt als angenehmer Wohlklang. Kleine Naturgedichte, in ihrer Verknappung oft Haikus ähnlich, gehören denn auch zu den eindrücklichsten Passagen des Buches.
Daneben aber ist viel von Alltäglichem die Rede. Dazu gehört die Auswahl der Wolle beim Strümpfestricken wie die Nachricht über seltene Besucher oder über die Bäder, die Kirschs dreiunddreißig Jahre alter Sohn in der sommerlichen Eider nimmt. Und dass Mutter und Sohn in diesem Frühjahr 2002 zusammen genau 100 Jahre alt sind, ist ebenfalls Anlass für eine freundliche Betrachtung. Von Kirschs künstlerischer Tätigkeit, ihrem Schreiben und Malen, ist dabei nur am Rande die Rede, und sogar häufiger noch als von ihren Gedichten und Prosatexten von ihren "Akwarellern", die jeweils in Serien entstehen. Eines dieser Aquarelle, dessen intensive Farben an eine Mohnblüte erinnern, macht den Buchumschlag zum leuchtenden Blickfang.
Nun wissen wir spätestens seit den Tagebüchern von Thomas Mann, dass das Alltagsleben gerade der Kreativen und Produktiven häufig mit Routinen und banalem Kleinkram ausgefüllt ist - eine Einsicht, die von Sarah Kirschs Aufzeichnungen anschaulich bestätigt wird. Man mag sich fragen, warum die Dichterin dieses Tagebuch überhaupt veröffentlicht hat, zumal sie, wie sie deutlich zu verstehen gibt, wenig Zutrauen in den Literaturbetrieb hat und die "schlappohrigen Kritiker", die mit ihren jüngsten Büchern wenig anfangen konnten, mit - immerhin freundlichem - Spott bedenkt. Auch über ihre schreibenden Kollegen fällt Kirsch gern pointierte Urteile. So wird rasch deutlich, was sie von den damals aktuellen Büchern von Günter Grass, Peter Handke, Christa Wolf und Elke Schmitter hält (nämlich rein gar nichts), während sie V. S. Naipaul, Wislawa Szymborska, und Josef Guggenmos hoch achtet, ja geradezu bewundert.
So sind an verschiedenen Stellen dieser Aufzeichnungen doch Bruchstücke einer Poetik der Sarah Kirsch zu erkennen, die die Lektüre über die Alltagsnachrichten hinaus lohnenswert erscheinen lassen. Nur schade, dass Kirsch immer wieder in einen forciert burschikosen Ton verfällt, der schnell penetrant wirkt und in seltsamem Kontrast zum fein kalibrierten Stil ihrer Lyrik steht. Dass die Monatsnamen gern im Stil von Christian Morgenstern verdreht werden - Jaguar, Zebra, Nerz, Mandrill - kann ja noch als literarisches Spiel erfreuen, schnell langweilig wird es aber, wenn auch die Wochentage in ähnlich verdrehter Form erscheinen: Mohntach oder Montauk, Donner und Freitach. In der Wiederholung liegt dabei das eigentliche Problem, denn spätestens bei der dritten oder vierten Erwähnung wird der "Mistwoch" zum schalen Witz, dem kein poetischer Mehrwert und auch keine Originalität mehr abzugewinnen sind.
Ganz ähnlich steht es mit der Darmstädter Akademie für "Strafe und Richtung", deren Sitzung Sarah Kirsch in jenem Frühjahr fröhlich ferngeblieben ist. Und warum muss sie gleich mehrfach das Bundesland, in dem sie zu Hause ist, als "Schließlich-Holzbein" bezeichnen, auf den Ort ihrer Kindheit - Halberstadt - als "Halftown" verweisen und wiederholt erwähnen, dass sie nach "Rendsborough" zum "Glatzenschneider" fährt? Solche Wortverdrehungen und Zitate veralteter Jugendsprache mögen ihren angemessenen Platz in der vertrauten mündlichen Kommunikation haben, bei der Lektüre ermüden sie die Leser jedoch schnell. So bleibt am Ende die Einsicht, dass es in diesen Aufzeichnungen viel rhetorische Spreu gibt, unter der die gewichtigen Passagen verborgen sind. Oder um es mit Sarah Kirsch selbst zu sagen: "Am schönsten ist es wenn es schön ist."
SABINE DOERING
Sarah Kirsch: "Märzveilchen".
Deutsche Verlagsanstalt, München 2012. 240 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jaguar, Zebra, Nerz, Mandrill: In ihren Tagebuchaufzeichnungen erzählt Sarah Kirsch von Zugvögeln, Lindenblüten und sommerlichen Bädern im Fluss - und gibt en passant Einblick in ihre Poetologie.
In den neun Monaten zwischen Dezember 2001 und September 2002 ist vieles in der Welt passiert: Die Suche nach dem Terroristen Bin Ladin und die Furcht vor neuen Anschlägen dominierten die amerikanische Politik, in Europa wurde eine neue Währung eingeführt, und im Sommer überfluteten schwere Hochwasser Teile der Dresdner Altstadt. Im Fernsehprogramm gab es hingegen in dieser Zeit viel Erfreuliches, vor allem in den Kultursendern: alte Spielfilme und Dokumentationen über die Fauna der Tiefsee, gelungene Theaterinszenierungen und Konzertübertragungen.
Von all dem berichtet Sarah Kirsch in ihren Tagebuchaufzeichnungen, und sie trennt dabei nicht zwischen der großen Weltpolitik und den kleinen Ereignissen ihres zurückgezogenen Lebens auf dem Land. In ihrem Haus an der Eider fühlt sich die Dichterin, wie man seit langem weiß, besonders wohl, und so finden sich in diesem Band viele genaue Schilderungen der schleswig-holsteinischen Natur im Wechsel der Jahreszeiten. Die Ankunft der ersten Zugvögel wird ebenso freudig begrüßt wie die Blüten von Weißdorn und Linde; das Quaken einer Unke vor dem Haus ertönt als angenehmer Wohlklang. Kleine Naturgedichte, in ihrer Verknappung oft Haikus ähnlich, gehören denn auch zu den eindrücklichsten Passagen des Buches.
Daneben aber ist viel von Alltäglichem die Rede. Dazu gehört die Auswahl der Wolle beim Strümpfestricken wie die Nachricht über seltene Besucher oder über die Bäder, die Kirschs dreiunddreißig Jahre alter Sohn in der sommerlichen Eider nimmt. Und dass Mutter und Sohn in diesem Frühjahr 2002 zusammen genau 100 Jahre alt sind, ist ebenfalls Anlass für eine freundliche Betrachtung. Von Kirschs künstlerischer Tätigkeit, ihrem Schreiben und Malen, ist dabei nur am Rande die Rede, und sogar häufiger noch als von ihren Gedichten und Prosatexten von ihren "Akwarellern", die jeweils in Serien entstehen. Eines dieser Aquarelle, dessen intensive Farben an eine Mohnblüte erinnern, macht den Buchumschlag zum leuchtenden Blickfang.
Nun wissen wir spätestens seit den Tagebüchern von Thomas Mann, dass das Alltagsleben gerade der Kreativen und Produktiven häufig mit Routinen und banalem Kleinkram ausgefüllt ist - eine Einsicht, die von Sarah Kirschs Aufzeichnungen anschaulich bestätigt wird. Man mag sich fragen, warum die Dichterin dieses Tagebuch überhaupt veröffentlicht hat, zumal sie, wie sie deutlich zu verstehen gibt, wenig Zutrauen in den Literaturbetrieb hat und die "schlappohrigen Kritiker", die mit ihren jüngsten Büchern wenig anfangen konnten, mit - immerhin freundlichem - Spott bedenkt. Auch über ihre schreibenden Kollegen fällt Kirsch gern pointierte Urteile. So wird rasch deutlich, was sie von den damals aktuellen Büchern von Günter Grass, Peter Handke, Christa Wolf und Elke Schmitter hält (nämlich rein gar nichts), während sie V. S. Naipaul, Wislawa Szymborska, und Josef Guggenmos hoch achtet, ja geradezu bewundert.
So sind an verschiedenen Stellen dieser Aufzeichnungen doch Bruchstücke einer Poetik der Sarah Kirsch zu erkennen, die die Lektüre über die Alltagsnachrichten hinaus lohnenswert erscheinen lassen. Nur schade, dass Kirsch immer wieder in einen forciert burschikosen Ton verfällt, der schnell penetrant wirkt und in seltsamem Kontrast zum fein kalibrierten Stil ihrer Lyrik steht. Dass die Monatsnamen gern im Stil von Christian Morgenstern verdreht werden - Jaguar, Zebra, Nerz, Mandrill - kann ja noch als literarisches Spiel erfreuen, schnell langweilig wird es aber, wenn auch die Wochentage in ähnlich verdrehter Form erscheinen: Mohntach oder Montauk, Donner und Freitach. In der Wiederholung liegt dabei das eigentliche Problem, denn spätestens bei der dritten oder vierten Erwähnung wird der "Mistwoch" zum schalen Witz, dem kein poetischer Mehrwert und auch keine Originalität mehr abzugewinnen sind.
Ganz ähnlich steht es mit der Darmstädter Akademie für "Strafe und Richtung", deren Sitzung Sarah Kirsch in jenem Frühjahr fröhlich ferngeblieben ist. Und warum muss sie gleich mehrfach das Bundesland, in dem sie zu Hause ist, als "Schließlich-Holzbein" bezeichnen, auf den Ort ihrer Kindheit - Halberstadt - als "Halftown" verweisen und wiederholt erwähnen, dass sie nach "Rendsborough" zum "Glatzenschneider" fährt? Solche Wortverdrehungen und Zitate veralteter Jugendsprache mögen ihren angemessenen Platz in der vertrauten mündlichen Kommunikation haben, bei der Lektüre ermüden sie die Leser jedoch schnell. So bleibt am Ende die Einsicht, dass es in diesen Aufzeichnungen viel rhetorische Spreu gibt, unter der die gewichtigen Passagen verborgen sind. Oder um es mit Sarah Kirsch selbst zu sagen: "Am schönsten ist es wenn es schön ist."
SABINE DOERING
Sarah Kirsch: "Märzveilchen".
Deutsche Verlagsanstalt, München 2012. 240 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Viel sprachliche Spreu und wenig wortgewaltigen Weizen entdeckt Sabine Doering in diesem neuen Tagebuchband von Sarah Kirsch, der die Monate zwischen Dezember 2001 und September 2002 abdeckt. Dass diese Zeit durchaus bewegt gewesen ist (Euroeinführung, Terrorkampf, Elbe-Hochwasser usw.), vermag Doering anhand der Anekdoten und eingestreuten Naturlyrik im Band allerdings kaum zu erkennen. Dafür gibt es jede Menge "freundliche Betrachtungen" (banale, dürfte man auch sagen) übers Strümpfestricken, Eiderbaden und das Quaken der Unken. Zum Glück stößt Doering immerhin auf einige kritische und pointierte Äußerungen zu Schriftstellerkollegen, wie Grass oder Handke, die ihr als Bruchstücke einer Poetik der Autorin dienen. Bedauerlich findet sie den burschikosen Ton der Aufzeichnungen, der ihr auf Dauer auf die Nerven geht. Die ständigen Wortverdrehungen a la "Mistwoch" oder "Schließlich-Holzbein" findet sie so originell dann auch wieder nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Schillernde, persönlich kommentierte Zeitdokumente.«
»Bei Sarah Kirsch erlaubt das Fragmentarische, Löcherige der Tagebruchstücke einen sympathetischen Diffusionsprozess, eine Identifikation, wie man sie bei der Trivialliteratur doch gemeinhin aufs Strengste verdammt.« Süddeutsche Zeitung, 23.03.2012