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Von 1715 bis 1723 fand in der Bischofsstadt Freising einer der letzten deutschen Hexenprozesse statt. Bettelnde Kinder waren in den Verdacht geraten, Mäuse gezaubert zu haben. Wie ihre Vernehmung und eine langwierige Untersuchung ergaben, sollen sie Gott abgeschworen und sich dem Bösen verschrieben haben. Die meisten von ihnen wurden exekutiert. In ihrem Ringen ums Überleben berichten die Vernommenen von seltsamen dämonischen Erlebnissen und Taten. Wie in einem Vexierspiel vermengen ihre Geständnisse Realität und Imagination zu einer irritierenden Wirklichkeit. Doch dieser undurchsichtige…mehr

Produktbeschreibung
Von 1715 bis 1723 fand in der Bischofsstadt Freising einer der letzten deutschen Hexenprozesse statt. Bettelnde Kinder waren in den Verdacht geraten, Mäuse gezaubert zu haben. Wie ihre Vernehmung und eine langwierige Untersuchung ergaben, sollen sie Gott abgeschworen und sich dem Bösen verschrieben haben. Die meisten von ihnen wurden exekutiert.
In ihrem Ringen ums Überleben berichten die Vernommenen von seltsamen dämonischen Erlebnissen und Taten. Wie in einem Vexierspiel vermengen ihre Geständnisse Realität und Imagination zu einer irritierenden Wirklichkeit. Doch dieser undurchsichtige Entwurf läßt sich entwirren und in seiner Doppelbödigkeit zeigen. Was Hexerei war oder bedeutete, erscheint somit in einem veränderten Licht, sobald man die Geständnisse angeblicher Hexen oder Hexer einer sorgfältigen Analyse unterzieht.
Rainer Beck, der durch seine klassische Studie über Unterfinning bekannt geworden ist, führt die Leser in diesem Buch Schritt für Schritt in bizarre Vorstellungswelten der Vormoderne ein und legt am Beispiel des Freisinger Hexenprozesses eine Kulturgeschichte der konfessionellen Gesellschaft am Vorabend der Aufklärung vor.
Autorenporträt
Rainer Beck, geb. 1950, Historiker, lehrt derzeit Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Konstanz.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.12.2011

Das Böse in uns
Rainer Becks neues Buch über einen historischen Hexenprozess wirft existentielle Fragen über die Gegenwart auf

Das Drama begann wie ein Kinderspiel auf einer Wiese, die Paintl genannt wird und vor der Stadt Freising liegt, an einem Nachmittag im Herbst 1715. Rumrennen, festhalten, angeben, Tricks vorführen und noch etwas mehr. Aber was genau? Das Drama entwickelte sich mit dem Versuch, das zu klären. Kinder hatten gespielt, und eines hatte behauptet, es könne Mäuse machen. Und da krabbelte tatsächlich etwas Schwarzes, das eine Maus gewesen sein mag. Oder es war das Kuscheltier des Teufels. Jahrelang würden die Freisinger Richter, externe Juristen und Hunderte von Zeugen beschäftigt sein, um das zu klären. Letztlich überforderte sie der Kampf gegen das Böse.

Während die meisten Kinderspiele der Geschichte der Menschheit verweht und vergessen sind, fand die Zusammenkunft auf der Paintl also ihren Weg in die Akten, später ins Archiv. Da diese Aktenbestände sehr umfangreich sind, kann man von einem der am besten untersuchten Kindertreffen der deutschen Geschichte schreiben - aber die Freude darüber hat zugleich etwas Makabres. Denn was für Historiker und Leser von Interesse ist, war für die Kinder furchtbar: Zwei Jahre später wurden drei von ihnen öffentlich hingerichtet. Zwei Buben waren da vierzehn, einer erst zwölf Jahre alt, und viel mehr als Fangen spielen hatten sie nicht gemacht. Es war einer der umfangreichsten Kinderhexenprozesse, und ein besonders später: Goethes Vater war damals in dem Alter der auf der Paintl spielenden Kinder.

Wie kommt eine Gesellschaft dazu, spielende Kinder einzufangen und umzubringen? Das ist die simple Frage, die ein langes, aber stets klares Buch stellt: "Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen". Zehn Jahre lang hat sie den in Konstanz lehrenden Historiker Rainer Beck beschäftigt, der mit seinem Buch über das Dorf Unterfinning bekannt wurde. Die Dauer, die Gründlichkeit hat dem Buch gutgetan, der Forscher konnte sich in das Material vertiefen - und auch wieder auftauchen. So lässt sich sein Buch auch ohne Vorkenntnisse verstehen, obwohl es sich um eine sehr komplizierte Materie handelt, die keine Abkürzung verzeiht.

Kinderspiele und Mäuse

Denn die Freisinger haben es sich nicht leichtgemacht, das zeigt schon der immense Fleiß, mit dem der Prozess durchgeführt wurde. Alle haben sich unendliche Mühen gegeben, um sicher zu gehen, das Richtige zu tun. Sie wähnten sich in einem verzweifelten Kampf gegen den Teufel, und darin sahen sie es eben als ihre Pflicht, diese Kinder zu verhören, immer wieder zu verhören, mit geweihten Ruten schlagen zu lassen und schließlich hinzurichten. Und dass sie darin dem Recht, der Theologie und der Wissenschaft folgten, das sollte auch die Nachwelt noch studieren können. Unter anderem sind 350 Verhörprotokolle überliefert, von denen manche 250 Fragen umfassen.

Was dachten sich diese gebildeten und reflektierten Männer? Was dachten die Kinder?

Wie einzelne Personen, so erzählen sich auch Gesellschaften ihre eigene Geschichte. So entstehen Konstrukte, mit denen sie ihre widerstrebenden Charakterzüge zusammenhalten, die Welt deuten. Doch es ist kein harmonischer Prozess, es gibt einen Widerstreit der Erzählungen. Und bei der intensiven Analyse der Geschichten, die in jener Gesellschaft in Umlauf waren, bei der Lektüre dieses umfangreichen, doch nie verrätselten oder abweisenden Werks, denken wir, wie in einem parallelen Laufwerk, an unsere heutigen Geschichten, die, mit denen wir durchhalten und auf Abwege geraten. Wir glauben nicht mehr, dass Kinder Mäuse machen können und dass dies der Beginn einer unseligen Entwicklung sein kann, aber das gibt uns kaum eine größere Sicherheit. Die Erkenntnis nach der Lektüre liegt nicht in einer narzisstischen Zufuhr für den Leser, dem als zivilisiertem Nachgeborenen so etwas nie passieren kann, auch nicht in einer Negierung des Fortschritts, sondern in der Energie, die aus der Gegenüberstellung der Geschichten freigesetzt wird. Darum muss man es ganz lesen, die entscheidende Reaktion stellt sich erst am Ende ein - auf den allerletzten Zeilen, die in die Geschichte der Geschichtsschreibung eingehen werden, die aber nicht zitiert werden sollen, um ihren Effekt nicht zu verraten.

Alle Beteiligten sind Produzenten ihrer eigenen Geschichte, und das Buch braucht jede dieser rund tausend Seiten, um jene Dimension der historischen Subjekte überzeugend zu entfalten, um dem Leser auch Material zu geben, damit er sich ein eigenes Urteil bilde. In diesem Sinne ist es Geschichtswissenschaft 2.0 - der Nutzer muss mitarbeiten und kann jederzeit nachvollziehen und beurteilen, welchen Weg der Autor wählt. An dieser Stelle muss man etwas zum Stil von "Mäuselmacher" bemerken, weil hier das Risiko eingegangen wurde, ein cooles Buch über ein heißes Thema zu schreiben. Denn kaum etwas wurde so sehr mit unseren Zivilisations- und Erlösungsphantasmen überfrachtet wie die wissenschaftliche Behandlung von Hexerei und Zauberei, in nahezu allen Disziplinen, in Literatur, Wissenschaft, Drama und Film. Bei diesem Thema kreuzen sich kindliche Erinnerungen an Märchen, den Knecht Ruprecht und spätere Erkenntnisse über den Fortschritt der Zivilisation und die Entzauberung der Welt, bis hin zu politischen Deutungen wie in Arthur Millers "Hexen von Salem". Doch Rainer Beck schafft es, den Vorhang frisch und schwungvoll aufzuziehen, auf jene Spielwiese vor Freising. Dazu trägt vor allem bei, dass dieses Buch ganz ohne akademisch absichernde, jargonbeschwerte Einleitung auskommt, in der sich Professoren so gerne selbst auf die Brust trommeln. Es ist eine, bis auf die Quellentexte, weitgehend zitatfreie Lektüre, dabei operiert Beck auf einem avantgardistischen Stand der Forschung, er schreibt es nur nicht dauernd selbst. Wenn er einmal Victor Turner erwähnt, so folgt der achtsame Einschub: ein Ethnologe.

Hexenwahn und Teufelspakt

Sind uns die Freisinger von damals nun ähnlich oder fremd? Es gibt Elemente von beidem. Über die Werke von Goethe und viele andere kulturelle Traditionslinien sind sie uns vertraut. Fundamentale Differenzen lassen sich aber nicht leugnen: Die Freisinger Richter sahen in den Kindern so etwas wie Gefäße, die bereits vom Bösen kontrolliert wurden, und wollten lieber einen Unschuldigen zu viel bestrafen, als einen Teufelspaktler entkommen zu lassen. Die inhaftierten Kinder stammten aus dem Bettler- und Waisenmilieu, jedenfalls die erste Fuhre. Hier widerspricht Beck der möglichen Einschätzung, es habe einen einfachen, vielleicht sogar plausiblen Grund für die Verfolgung gegeben, etwa die Sozialdisziplinierung, oder, anderes beliebtes Argument, der Hexenwahn habe irgendwie jeden befallen können. Beides trifft die Sache - aber nur halb. Die aufgegriffenen Kinder waren schon besondere Kinder, die auch ihren Freunden, ihrer sozialen Umgebung aufgefallen waren. Einer von ihnen hatte den Spitznamen Trudenfänger, weil er nachts oft umherlief, schrie und mit den Armen um sich schlug. Einmal sagte er, er habe etwas Weißes in der Stube umherziehen sehen. Das hätte eine Trud gewesen sein können, eine tief in der Volkskultur verankerte, geisterhafte Gestalt einer alten Frau, die knapp unter Hexen und Teufeln angesiedelt war, wenn ich die komplizierten Klassifikationen laienhaft zusammenfasse. Die Angst vor ihr war weit verbreitet, denn sie hatte die problematische Angewohnheit, das Blut von Säuglingen zu trinken. Zum Schutz vor ihr wurde daher über Kinderbetten oft das Pentagramm angebracht, der berühmte Trudenfuß, den wir aus dem "Faust" kennen. Begeistert scheint der Junge über seinen Spitznamen nicht gewesen zu sein. In den Vernehmungen sagen andere Kinder aus, er habe sie, als sie ihn vor dem Kirchgang einmal singend so nannten, mit Steinen beworfen. Der nachtaktive Vollwaise hielt sich mit Betteln über Wasser, es gab aber auch ein Netzwerk der Barmherzigkeit und gegenseitiger Unterstützung. Das war manchem der Stadtväter suspekt, aber es hätte nicht gereicht, um einen Hexereiprozess anzustrengen und zu vollenden. Vielmehr war es der Junge selbst, der das Verfahren in diese Richtung lenkte. Hier besteht eine der größten Herausforderungen einer solchen Arbeit: Wie deutet man diese detaillierten, langen Geschichten, in denen die Kinder sich buchstäblich um Kopf und Kragen reden? Vieles kommt zusammen: Es gab in der damaligen christlichen Kultur durchaus die Figur des geständigen Sünders, dem es besser ergeht als dem verstockten. Es gab die naive Erwartung, es werde schneller vorüber sein, wenn man den Herren erzählt, was sie ohnehin hören wollen. Womöglich spielte auch die Beobachtung eine Rolle, dass Zweifel, ein Zögern oder gar eine Korrektur einmal gemachter Aussagen eine verschärfte Prüfung durch Rutenschläge nach sich ziehen, also gab es da nur einen Weg, nämlich vorwärts in die Schilderung der dämonischen Umtriebe.

Am Anfang stehen eher nachvollziehbare Szenen, etwa dass ein unbekannter schwarzer Mann ihnen zugerufen habe, weniger zu beten, sondern mehr zu spielen. Später wurde es schon detaillierter: Die Kinder schildern nächtliche Jagdgesellschaften, geheime Bankette, feuerspeiende Pferde und vieles mehr. Manchmal verlieren die Verhörenden den Überblick, aber den brauchen sie unbedingt. Denn es galt ja, diese Schilderungen von bloßen Träumen und Wahnvorstellungen zu unterscheiden.

Recht und Gewissen

Am Ende des zweiten Prozesses wird es paradoxerweise gerade der Wille zu einer strengen Bekämpfung des Bösen sein, der manche Kinder rettet, denn der Kampf gegen den Teufel erforderte Präzision, und die fehlte dem Richter plötzlich: Hatte der "böse Feind" nun ein goldenes Wams an oder eine rote Jacke? Nahm er das Blut für die Unterschrift unter den Seelenverkaufsvertrag nun aus einem Finger der rechten oder der linken Hand? Da die Kinder es nicht so genau wussten, konnten sie auch keine wirklichen Paktgänger sein. Man sprach sie frei, ließ sie aber nicht frei, sondern wies sie in ein Internat ein. Andere Kinder, und das sind die berührendsten Passagen des Buches, rebellierten. Denn irgendwann wird ihnen der Ernst der Lage bewusst, und sie bestreiten alles. Einer sagt, dass der Teufel "ihn nicht interessiere". Man schlägt sie immer wieder mit Ruten - in der kleinen Stadt wird nicht übersehen, wie der Henker mit seinen Rutenbündeln unterm Mantel zu den Franziskanern schleicht, um die brüchigen Folterinstrumente bündelweise weihen zu lassen. Die Buben artikulieren ihren Protest mit Taten, zerstören etwa ihre Zelle, oder mit Worten bei ihren Beichtvätern. Zwei bringen sich in der Zelle um, darunter auch der sogenannte Trudenfänger. Durch die Widerrufe, die Selbstmorde und die lange Dauer der Verfahren wurden die Kinderhexenprozesse von Freising zu einer Qual für alle Beteiligten - für manche freilich etwas mehr. Ein Bub schafft es sogar, einen Brief aufzusetzen, indem er seine ganze Lage, das Elend schildert: Die Widerrufe, die man ihm nicht glaubt, die körperlichen Qualen, die Ausweglosigkeit der juristischen Situation und die Reinheit seines Gewissens. Es ist ein knapper Text, dessen Lektüre einem das Herz bricht. Rainer Beck gibt hier seine reflektierende Zurückhaltung mit einem einzigen Satz auf, indem er schreibt, diesen Brief aus dem Kerker müsse er in Gänze wiedergeben, ihn zu kürzen "wäre unangemessen".

Es ist ein Buch, das Goethe und Marx beschwört, Michel Foucault, Natalie Zemon Davis und Lyndal Roper - und das dennoch etwas Neues darstellt. Es ist keine Mikrohistorie und keine "dichte Beschreibung", sondern eine Analyse von nahezu klassischer Art. Sie führt uns zurück zu Wurzeln, die wir nicht mögen, erschüttert unsere okzidentale Selbstzufriedenheit und schockt uns in eine aktivere Skepsis. Wie wird man in Zukunft über eine Kultur denken, in der sich alle wie verrückt anstrengen, unsichtbare und ungedeckte Geldmengen mit dem Computer zu verschieben, in der irrigen Annahme, sie so zu kontrollieren? Und umgekehrt kann man sich die Frage stellen, ob wir gegenüber neonazistischen Serienmördern und kindermordenden Maskenmännern der Gegenwart nicht dieselbe Hilflosigkeit verspüren wie die Freisinger Richter und nur klüger sind, indem wir wissen, dass es gegen das Böse nicht hilft, Kinder zu köpfen. Wir wissen, was nicht hilft, das ist der kleine Unterschied zu den im Buch vorkommenden Personen, und wir achten den Rechtsstaat, die Menschen- und Kinderrechte. Aber in einer existentiellen Dimension sind wir vom Bösen ebenso überfordert wie sie. "Mäuselmacher" inspiriert den Leser zu philosophischen, sogar poetischen Meditationen und lohnt die Lektüre unbedingt, für solche Bücher gibt es die Geisteswissenschaften.

NILS MINKMAR

Rainer Beck: "Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen". C.H. Beck 2011, 1008 Seiten, 49,95 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.07.2012

Pakt mit dem Bösen
Die Bettelkinder von Freising: Rainer Beck rekonstruiert einen der letzten großen Hexenprozesse im Deutschen Reich
Am Anfang war ein Gerücht. Im Bischofssitz Freising kursierten im Spätherbst des Jahres 1715 Geschichten von Bettelknaben, die vor den Toren der Stadt Mäuse herbeigezaubert haben sollen. Es handelte sich um eine bekannte Praktik. Gelehrte schrieben darüber, Theologen warnten davor, Hexer und Hexen kamen dieser Tätigkeit wegen auf den Scheiterhaufen. Die Freisinger Kriminalbehörden interessierten sich für den Fall. Vermutlich wollte man zunächst die wilden Bettler, die die geordnete Armenfürsorge störten, mit einigen Rutenschlägen abstrafen. Dann aber entwickelte das Verfahren eine eigene Dynamik und führte zu einem der letzten großen Hexenprozesse im Deutschen Reich. Mäuse und anderes Getier spielten bald keine große Rolle mehr. Stattdessen ging es um die Begegnung mit allerlei dämonischen Wechselgestalten, um Hexentänze, um Unzucht mit dem Teufel und schließlich um den Pakt mit dem „Bösen Feind“.
  Am Ende der ersten Phase des Hexenprozesses wurden 1717 drei Kinder im Alter zwischen 12 und 14 Jahren öffentlich hingerichtet, ein drittes hatte sich in seiner Zelle das Leben genommen, ein viertes war im Gefängnis jämmerlich verendet, zwei weitere wurden ihren Familien entrissen und in die Obhut von Pflegeeltern gegeben. Als die Kinder sich nicht ausreichend brav verhielten, wurde 1721 ein neuer Prozess angestrengt, der bis 1723 weiteren zehn Kindern das Leben kostete, aber letztlich mit einem Desaster für die Inquisitoren endete: Der Konsens der unterschiedlichen Behörden zerbröckelte; die Beklagten zeigten sich zunehmend widerborstig und verweigerten Geständnisse; die höheren Instanzen bemerkten – womöglich aufgrund einer veränderten öffentlichen Stimmung – Verfahrensmängel und erklärten das Kindergerede für das, was es offenkundig war: für unglaubwürdig.
  Der Konstanzer Historiker Rainer Beck hat sich als erster durch das gesamte Aktenmaterial gegraben und das Soziogramm und mentale Profil einer Gesellschaft am Rande der Aufklärung erstellt. Die Intensität der Verfolgung erklärt sich vor allem daraus, dass man sich einem ganzen Netzwerk auf der Spur glaubte. Der Verdacht richtete sich zunehmend auf meist mittellose Kinder, die sich der Kontrolle entzogen und offenkundig Sympathisanten in der Stadt hatten. Auf einer Liste fanden sich die Namen von immerhin 132 Verdächtigen. Sollte es nicht zu einer epidemischen Ansteckung durch das Gesindel kommen, so die Überzeugung, musste man mit den Verdächtigen hart ins Gericht gehen. Dabei konstruierten die Ermittler nach und nach aus zufälligen Begegnungen von Kindern eine verschworene Gemeinschaft von bösen Seelen und um diese herum eine immer buntere, konkretere und detailliertere „diabolische Wirklichkeit“. Zwischen dem Kleingetier, das herbeigezaubert wurde, lugte immer deutlicher etwas Schwarzes hervor, ausgestattet mit Hörnern, feurigen Augen und einem Geißbart.
  Im Großen und Ganzen verliefen die beiden Hexenprozesse so schrecklich paranoid und dumm, wie man es sich nur vorstellen kann. Aber unter dieser Oberfläche von geistig-geistlicher Beschränkung, die schon lange von zeitgenössischen Kritikern prinzipiell denunziert worden war, verbarg sich ein Gestrüpp einander widerstreitender Meinungen und eigentümlicher Koalitionen. Geklärt werden musste eine Reihe von ordnungspolitisch zentralen Fragen: Waren die Kinder Opfer von Dämonen oder standen sie mit ihnen im Bund? Wer gehörte dazu? Konnte man einige durch harte Erziehungsarbeit vor dem Schlimmsten bewahren? Zudem sollte die Abrechnung so organisiert werden, dass sie im öffentlichen Strafzeremoniell das Maß und die Art des Vergehens vor Augen führte. Zur Wahl standen Erdrosselung, Enthauptung oder der Tod auf dem Scheiterhaufen. Man konnte den Verurteilten erst enthaupten und dann verbrennen oder auf das Feuer auch ganz verzichten. Als humane Variante galt es, ihm die Adern zu öffnen und ihn verbluten zu lassen.
  Beck untersucht minutiös die kommunikative Aushandlung von Schuld und Unschuld, das Rauschen der Verhöre, die Umwege und Nebensächlichkeiten. Dabei zeigt sich nicht nur die eigentümliche Unbekümmertheit, mit der die Kinder von Zaubereien berichteten, oder der Irrsinn der Inquisition, aus deren Fängen es ab einem bestimmten Punkt aus eigener Kraft kein Entrinnen mehr gab. Schlimmer noch: Man wird Zeuge, wie Ankläger und Angeklagte sich ganz allmählich in einem seltsam tastenden, bisweilen fast behutsamen Hin und Her arrangierten, das nicht umsonst Jahre in Anspruch nahm. Die Kinder versuchten zu erspüren, was die Erwachsenen hören wollten, um sich deren Wohlwollen zu erkaufen, und verstrickten sich dadurch immer weiter in Anschuldigungen. Die Ankläger versuchten auf allen möglichen Wegen, die dämonischen Abgründe der Buben zu ergründen und ans Tageslicht zu bringen, sei es im freundlichen oder harten Verhör, durch Haftverschärfung, den Einsatz von geweihtem Wasser oder geweihten Kerzen, durch Rutenschläge oder andere Foltertechniken.
  Dabei gab es geregelte Verfahren, und bei aller Asymmetrie der Macht stand auch für die Inquisitoren einiges auf dem Spiel. In letzter Konsequenz musste sich der Angeklagte dem frühneuzeitlichen Rechtsverständnis nach für schuldig erklären. Aber dieses Einverständnis war selbst durch die miserablen Haftbedingungen sowie durch die Tortur nicht einfach erpressbar. Und selbst wenn es erpresst wurde, musste ein Geständnis nachweislich aus freien Stücken gemacht worden sein. Weil die Hinrichtungsstätte nicht als Tor zur Hölle, sondern als Wegscheide zwischen ewigem Heil und ewiger Verdammnis gedeutet wurde, hatte der Delinquent weit mehr zu verlieren als nur sein irdisches Leben, und der Inquisitor war immer auf der richtigen Seite. Die Marter eines Unschuldigen wog weniger als die versäumte Marter eines Schuldigen.
  Worum also ging es in diesem Hexenprozess? Die kirchlichen Institutionen verteidigten vordergründig das Seelenheil ihrer Gemeinde gegen die Verführungskünste teuflischer Mächte. Aber das war nicht alles. In den quälend langen Verhören, in den irrlichternden Erzählungen und in der verschwenderisch freigesetzten inquisitorischen Energie wurde noch einmal eine „Weltsicht“ aufgerufen, die im Zeitalter der Aufklärung ihre fraglose Gültigkeit verlieren sollte. Der Teufel und sein Gefolge von Hexen und Hexern traten nicht nur als Gegner der Inquisitoren auf, sondern auch als deren Bündnispartner: Das diabolische Ensemble stand dafür ein, dass es einen so regen wie gefährlichen Austausch zwischen Diesseits und Jenseits gab. Dieser Verkehr musste gesichert und überwacht werden. Schlimmer als jeder Geisterfahrer wäre eine Straßensperrung gewesen.
  Dass die Inquisitoren an einigen Stellen des Prozesses aus einer spielerisch-kindischen Blasphemie veritablen Atheismus machten, war riskant. Sie taten damit das, womit die kirchliche Orthodoxie um 1700 generell die Radikalisierung der Aufklärung vorantrieb: Sie provozierten durch mangelnden Sinn für Scherz, Satire und Ironie dazu, den Gedanken einer Welt ohne Gott auch einmal ernsthaft zu fassen. Rainer Becks faszinierendes Exerzitium an den Quellen zeigt, wie die „Ketzermacher“ die „Mäuselmacher“ vernichteten, aber dabei den Überdruss an einer dogmatischen Weltsicht des Geisterverkehrs erzeugten, der die Vernichtung von Menschen einkalkuliert. Hinter dieser „Imagination des Bösen“ lauert weniger der Teufel als vielmehr die List der Vernunft.
STEFFEN MARTUS
Es endete mit einem Desaster
für die Inquisitoren
Francisco de Goya: Hexenflug
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/ DPA/DPAWEB
  
  
  
Rainer Beck:
Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen. Ein Hexenprozess 1715-1723. Verlag C.H. Beck, München 2011. 1008 Seiten, 49,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Carla Baum bewundert vor allem die große Passion und empathische Haltung, mit der sich Rainer Beck mit seinem Thema, einem der letzten großen Hexenprozesse im Bistum Freising, auseinandergesetzt hat. Zwischen 1715 und 1723 fielen vor allem Kinder und Jugendliche hier dem Vorwurf des "Mäuselmachens" zum Opfer, was ihnen mit Folter und Inhaftierung nachgewiesen werden sollte, erfahren wir von der bestürzten Rezensentin. Akribisch wertet der Autor seine Quellen aus, interpretiert die Vernehmungsprotokolle und rekonstruiert das kulturelle Umfeld, erfahren wir. Mit seinem 1000-seitigen Buch gelingt ihm nicht nur ein erschütterndes Beispiel kirchlicher Verfolgung, sondern eine beeindruckende "Kulturgeschichte" einer Zeit, kurz bevor die Aufklärung solchen Umtrieben ein Ende macht, so Baum beeindruckt, die allerdings durchblicken lässt, dass sich die Lektüre gegen Schluss ein wenig zieht.

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