Effektive Hilfe für Betroffene und Angehörige. Anorexie ist eine gefährliche Krankheit. Immer mehr Mädchen und junge Frauen zwischen 15 und 35 Jahren sind heute magersüchtig. Etwa 15 Prozent von ihnen sterben. Die Experten Michael Schulte-Markwort und Sabine Zahn geben komprimiert Antworten auf Fragen wie: Welches Essverhalten ist normal? Welches krank? Wie äußert sich Magersucht und was sind die Ursachen? Die Autoren beschreiben anschaulich, wie Magersüchtige denken und fühlen, und zeigen, wie Betroffene aus dem Teufelskreis der Hungersucht herausfinden.
Ein Comic-Roman und ein Handbuch widmen sich Ursachen, Symptomen und Therapien von Magersucht
Als sie Tyranna das erste Mal auf der Straße begegnet, geht es Anna schon ziemlich schlecht. Angefangen hat es irgendwann in der Pubertät: Die Veränderungen an ihrem Körper machen Anna Angst, sie will ihren jüngeren Körper zurück. Sie kauft eine Kalorientabelle und eine Waage und beginnt eine Diät, die sie erst viele Jahre später in einer Spezialklinik beenden wird. Tyranna, ihr Alter Ego in Gestalt eines überlebensgroßen Skeletts, reitet sie immer tiefer in einen Teufelskreis. Da hat die abgemagerte Anna bereits die Schule geschmissen, den Freund verloren und sich vor elterlicher Kontrolle in eine eigene Wohnung geflüchtet.
Lesley Fairfield, Künstlerin und Kinderbuchillustratorin, litt selbst dreißig Jahre lang an Magersucht und schildert in ihrem Comic-Roman mit knappen Dialogen und eindrücklichen Zeichnungen Annas Kampf ums Überleben. Immer wieder versucht Anna, ihr Leben in den Griff zu bekommen, doch von ihren neuen Freundinnen scheint niemand normal zu essen, und Tyranna tut das Ihre dazu: Um glücklich zu sein, musst du noch dünner werden. Als Annas Mutter endlich beherzt eingreift und sie zum Arzt bringt, ist sie körperlich wie psychisch völlig ausgezehrt. Der folgende Klinikaufenthalt ist erst ein erster Schritt zurück in die Normalität.
Magersucht ist kein Massenphänomen, Forscher gehen davon aus, dass etwa ein Prozent der europäischen Frauen betroffen sind. Doch es ist eine schwere und ernstzunehmende Erkrankung, die chronisch oder tödlich verlaufen kann, und keineswegs eine Marotte, der mit Ermahnungen von der Art "Jetzt iss doch mal was" beizukommen wäre. Nur fünfundvierzig Prozent der Betroffenen können die Magersucht so weit überwinden, dass sie wieder normal essen, so Michael Schulte-Markwort und Sabine Zahn, die sozusagen das Handbuch zum Comic-Roman geschrieben haben: einen knappen und gut verständlichen Ratgeber, der nicht nur die bekannten Fakten darstellt und erklärt, woran man Magersucht erkennt, wie sie entsteht und dass sie keine Erfindung der Moderne ist - man lese nur einige Lebensbeschreibungen von Heiligen.
Die Autoren widmen sich auch "weicheren", für die Betroffenen aber wohl entscheidenden Fragen: Was ist eigentlich normal? Und: Wie fühlt sich die Krankheit an? Denn für Außenstehende hat es nicht nur etwas Erschreckendes, eine Tochter, eine Freundin oder Kollegin abmagern zu sehen, es hat auch etwas Rätselhaftes: Magersüchtige essen eine halbe Kartoffel und versichern, sie seien satt. Oder sie essen gar nicht und versichern, sie hätten keinen Hunger. Sie schauen in die Spiegel und sehen Speckrollen und wabbelige Oberschenkel, wo alle anderen nur ein Gerippe erkennen können. Doch solche Äußerungen sind ehrlich gemeint und keineswegs vorgeschoben. Wahrnehmungsverzerrung und der Verlust des Hungergefühls gehören gerade zum Krankheitsbild und verhindern, dass die Betroffenen erkennen, wie es um sie steht. Die Autoren geben Tipps, was Eltern, Freunde oder Lehrer tun können, machen Vorschläge, wie man vorsichtig nachfragen kann, und verweisen auf Beratungsmöglichkeiten.
Am liebsten würde sie einfach alle zur Magersucht führenden Gedanken aus ihrem Gehirn streichen, berichtet die achtzehnjährige Lisa, doch so einfach ist es nicht. Ganz zentral ist für viele Magersüchtige ein Streben nach Kontrolle. Nicht essen, gerade wenn das Leckerste auf dem Tisch steht. Eine Therapie zu beginnen bedeutet dagegen, Kontrolle aufzugeben. Viele Therapien scheitern, wie aus den Berichten Betroffener deutlich wird, dann auch daran, dass sie als aufgezwungen erlebt werden. Die Autoren zeigen deshalb auf, welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt, und schildern detailliert bis zum Beispielmenü, was die Betroffenen bei einer stationären oder ambulanten Behandlung erwartet.
Anna stellt in der Therapie eine lange Liste mit alldem auf, was die Magersucht ihr vermasselt hat: Schulabschluss, Beziehungen, Gesundheit, Einkommen, Lebenszeit. Der Leser atmet auf, als es ihr endlich gelingt, sich von Tyranna zu befreien. Das Handbuch wie der Comic-Roman bringen es auf den Punkt: Magersucht zu überwinden ist ein hartes Stück Arbeit, aber sie kann gelingen.
MANUELA LENZEN
Lesley Fairfield: "Du musst dünn sein". Anna, Tyranna und der Kampf ums Essen.
Aus dem Englischen von Michael Schmidt. Patmos Verlag, Ostfildern 2011. 114 S., br., 12,90 [Euro].
Michael Schulte-Markwort und Sabine Zahn: "Magersucht". Effektive Hilfe für Betroffene und Angehörige.
Patmos Verlag, Ostfildern 2011. 157 S., br., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dieses Buch der beiden Ärzte Michael Schulte-Markwort und Sabine Zahn ist ein nützlicher Ratgeber für den Umgang mit Magersucht, lobt Rezensent Hubert Filser. Die beiden beschreiben den Verlauf der Krankheit, informieren über Therapieangebote und hilfreiche Webseiten wie www.magersucht.de oder www.hungrig-online.de und geben Tipps, wie man helfen kann. Vor allem aber entlastet das Buch Eltern und Angehörige, so Filser, der dies für einen wichtigen Aspekt hält. Denn nur, wenn keine Schuldvorwürfe im Raum stehen, könne man sich die notwendige Hilfe auch holen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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