Das Buch zeichnet den Lebensweg des Schweizer Fotografen Marcel Chassot anhand einer Auswahl seiner eindrücklichsten Bilder nach. Seine fotografischen Kompositionen sind, so charakterisierte sie ein Publizist auf prägnante Weise, "von jener einschneidend schönen, von jener schmerzhaft klaren Ästhetik, wie sie nur die Erinnerung ans Paradies hervorbringt" (Henri R. Paucker).Bilder floraler Skulpturen und Makrofotografien leiten ein Wechselspiel von Farben und Formen ein, das, unterstützt durch die subtile Lichtführung, den ganzen Bildband durchzieht.Straßenszenen lassen menschliche Befindlichkeiten und Abgründe erahnen und deuten - wenngleich nur als Schatten kahler Bäume - auf Scheidewege hin.Was bei den Blumenstillleben erst ansatzweise als skulpturales Element zum Ausdruck kommt, wird Jahre später zum konstituierenden Merkmal unzähliger Architekturaufnahmen. Durch entsprechende Wahl des Ausschnitts und der Perspektive wird die vom Architekten konzipierte skulpturale Architekturneu interpretiert und als architektonische Skulptur zum eigenständigen Kunstwerk. Aufgrund der oft ungewöhnlichen Perspektive entstehen Bilder, die bisweilen irritieren, in jedem Fall aber durch die enorme Formenvielfalt und ihre Ästhetik begeistern. Unter dem Titel "Ästhetik des Zerfalls" überrascht das letzte Kapitel mit einer Art Gegenwelt zu den glatt gestrichenen Wänden, zu den Glasflächen und zum Stahlgeflecht moderner Architektur. Das Nachspiel, als solches erscheint es, führt den Betrachter auf einen historischen Autofriedhof in der Schweiz. Hier sind es verrottende Autowracks, die den Fotografen auf der Suche nach dem Schönen noch einmal zum Verweilen auffordern. Ein Widerspruch? Keineswegs. Nur eine Frage der Perspektive, der Farben, Formen und des Lichts.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2024Mit Licht bauen
Die Fotografie ist ein Feld, das ambitionierten Autodidakten Karrierechancen bietet. Manchmal tun sich diese erst auf, auch wenn ein Brotberuf ergriffen wurde, aber der Drang, die Welt fotografisch zu erkunden, einfach nicht nachlassen will. Der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Marcel Chassot ist so ein Fall. 1947 in Zürich geboren, war er viele Jahre am Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der Universität Zürich tätig.
Seine ersten Erinnerungen an Bilder sind düster: Röntgenaufnahmen, immer wieder Röntgenaufnahmen. Im Alter von vier Jahren erhielt Marcel Chassot eine Krebsdiagnose. Nach überstandener Krankheit begleitet er als Heranwachsender den Vater in die Dunkelkammer, ist fasziniert von der Geburt der Bilder, vom Geruch der Chemikalien. Nach dem Abitur kauft er sich eine Spiegelreflexkamera und lässt nie mehr von seiner Leidenschaft ab. Heute ist Chassot international bekannt, vor allem wegen seiner Architekturfotografie, auf die wir uns bei unserer Bildauswahl auf dieser Seite konzentrieren. Ein Band dokumentiert nun das Werk der Schweizers, der sich in seinen Anfängen der späten Sechzigerjahre ganz auf die Makrofotografie konzentrierte. Er setzte Orchideen, Mohnblumen, Tulpen, Krokusse ins Bild, jedes Blatt, jeder Flügel penibel ausgeleuchtet. Wir sehen Libellen, Schnecken, Marienkäfer, Bienen als Riesen in ihrer "schönen, kleinen Welt". Danach rückten Menschen im Zürcher Hauptbahnhof in den Blick des Fotografen: Passanten und Wartende jeden Alters, jeder Abstammung und unterschiedlichster Aufmachung. Dabei offenbart Chassot ein Auge für subtile Komik, für Intimität und Leid im Gewusel eines Verkehrsknotenpunkts, an dem sich Gottes Tierpark über den Weg läuft. Parallel zur Leidenschaft für Ballettfotografie entwickelte Chassot von 1979 an, nach der Geburt der ersten von drei Töchtern, einen teilnehmenden, aber kompositorisch ambitionierten Blick auf Kinder.
In seiner bislang anhaltendsten Werkphase widmet sich Chassot gebauten Spielräumen, Gebäuden, die, wie er sagt, "als heterogene Formenkonglomerate konzipiert sind". Zunächst auf Schweizer Architektur konzentriert, griff Chassot dann auf ganz Europa aus. Wie ein Jäger umkreise er manchmal den ganzen Tag lang Gebäude, weil sie ihm bei jedem Rundgang buchstäblich in neuem Licht erschienen. Zu den Architekten, für die Chassot brennt, zählen Mario Botta, Frank Gehry, Jean Nouvel, Peter Zumthor, Santiago Calatrava, Herzog & De Meuron, Daniel Libeskind. Aber es gehe ihm nicht um Prominenz, sondern einzig um die Bildmöglichkeit, die ihm deren Bauten offerierten. Die setzt er bevorzugt vor wolkenlosem Himmel in Szene, zeigt mit harten Kontrasten und schimmernden Oberflächen ihre spektakulär ausgezogenen Linien. Manche Bilder sind dabei rätselhaft, müssen erst dechiffriert werden. So wie ein Wohn- und Geschäftshaus in Schlieren, geplant vom Zürcher Architekturbüro EM2N Müller Niggli. Man muss schon sehr genau hinsehen, um in einem Bild im Bild zu erkennen, dass sich hinter einer Brüstung eine Fassade mit Fenstern verbirgt.
Gesamtansichten, die Verankerung der Museen, Hotels, Schulen, Bahnhöfe, Business Center in der Landschaft, ihre Verzahnung mit der Nachbarschaft - sie sind nicht Chassots Ding. Er lenkt lieber den Blick aufs Detail, schafft einen Zugang zur gebauten Inszenierung. "Im Gegensatz zu einer Landschaft, deren Schönheit uns oft geradezu überfällt, will Schönheit bei modernen Bauwerken in sehr viel höheren Maße erarbeitet sein", schreibt er im Vorwort. Und zeigt, wie das geht, bevor er mit Bildern von Autofriedhöfen einen elegischen Schlusspunkt setzt. HANNES HINTERMEIER
Marcel Chassot: "Magie des Augenblicks". 50 Jahre Fotografie 1968-2018. Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg 2024. 312 S., 175 Abb., geb., 79,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Die Fotografie ist ein Feld, das ambitionierten Autodidakten Karrierechancen bietet. Manchmal tun sich diese erst auf, auch wenn ein Brotberuf ergriffen wurde, aber der Drang, die Welt fotografisch zu erkunden, einfach nicht nachlassen will. Der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Marcel Chassot ist so ein Fall. 1947 in Zürich geboren, war er viele Jahre am Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der Universität Zürich tätig.
Seine ersten Erinnerungen an Bilder sind düster: Röntgenaufnahmen, immer wieder Röntgenaufnahmen. Im Alter von vier Jahren erhielt Marcel Chassot eine Krebsdiagnose. Nach überstandener Krankheit begleitet er als Heranwachsender den Vater in die Dunkelkammer, ist fasziniert von der Geburt der Bilder, vom Geruch der Chemikalien. Nach dem Abitur kauft er sich eine Spiegelreflexkamera und lässt nie mehr von seiner Leidenschaft ab. Heute ist Chassot international bekannt, vor allem wegen seiner Architekturfotografie, auf die wir uns bei unserer Bildauswahl auf dieser Seite konzentrieren. Ein Band dokumentiert nun das Werk der Schweizers, der sich in seinen Anfängen der späten Sechzigerjahre ganz auf die Makrofotografie konzentrierte. Er setzte Orchideen, Mohnblumen, Tulpen, Krokusse ins Bild, jedes Blatt, jeder Flügel penibel ausgeleuchtet. Wir sehen Libellen, Schnecken, Marienkäfer, Bienen als Riesen in ihrer "schönen, kleinen Welt". Danach rückten Menschen im Zürcher Hauptbahnhof in den Blick des Fotografen: Passanten und Wartende jeden Alters, jeder Abstammung und unterschiedlichster Aufmachung. Dabei offenbart Chassot ein Auge für subtile Komik, für Intimität und Leid im Gewusel eines Verkehrsknotenpunkts, an dem sich Gottes Tierpark über den Weg läuft. Parallel zur Leidenschaft für Ballettfotografie entwickelte Chassot von 1979 an, nach der Geburt der ersten von drei Töchtern, einen teilnehmenden, aber kompositorisch ambitionierten Blick auf Kinder.
In seiner bislang anhaltendsten Werkphase widmet sich Chassot gebauten Spielräumen, Gebäuden, die, wie er sagt, "als heterogene Formenkonglomerate konzipiert sind". Zunächst auf Schweizer Architektur konzentriert, griff Chassot dann auf ganz Europa aus. Wie ein Jäger umkreise er manchmal den ganzen Tag lang Gebäude, weil sie ihm bei jedem Rundgang buchstäblich in neuem Licht erschienen. Zu den Architekten, für die Chassot brennt, zählen Mario Botta, Frank Gehry, Jean Nouvel, Peter Zumthor, Santiago Calatrava, Herzog & De Meuron, Daniel Libeskind. Aber es gehe ihm nicht um Prominenz, sondern einzig um die Bildmöglichkeit, die ihm deren Bauten offerierten. Die setzt er bevorzugt vor wolkenlosem Himmel in Szene, zeigt mit harten Kontrasten und schimmernden Oberflächen ihre spektakulär ausgezogenen Linien. Manche Bilder sind dabei rätselhaft, müssen erst dechiffriert werden. So wie ein Wohn- und Geschäftshaus in Schlieren, geplant vom Zürcher Architekturbüro EM2N Müller Niggli. Man muss schon sehr genau hinsehen, um in einem Bild im Bild zu erkennen, dass sich hinter einer Brüstung eine Fassade mit Fenstern verbirgt.
Gesamtansichten, die Verankerung der Museen, Hotels, Schulen, Bahnhöfe, Business Center in der Landschaft, ihre Verzahnung mit der Nachbarschaft - sie sind nicht Chassots Ding. Er lenkt lieber den Blick aufs Detail, schafft einen Zugang zur gebauten Inszenierung. "Im Gegensatz zu einer Landschaft, deren Schönheit uns oft geradezu überfällt, will Schönheit bei modernen Bauwerken in sehr viel höheren Maße erarbeitet sein", schreibt er im Vorwort. Und zeigt, wie das geht, bevor er mit Bildern von Autofriedhöfen einen elegischen Schlusspunkt setzt. HANNES HINTERMEIER
Marcel Chassot: "Magie des Augenblicks". 50 Jahre Fotografie 1968-2018. Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg 2024. 312 S., 175 Abb., geb., 79,90 Euro.
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