Erinnern Sie sich noch an den Käse-Igel? An die mit Fleischsalat gefüllten Tomaten? An das erste Gyros, das Sie gegessen haben? Das erste Sushi? Man ist, was man isst! Was auf unseren Tisch kommt, ist nicht einfach nur das, was uns schmeckt. Vielmehr offenbart es unsere Überzeugungen, unsere Lebenseinstellungen. Und es zeigt, in welcher Gesellschaft wir leben. Deshalb erzählen Ingke Brodersen und Rüdiger Dammann die Geschichte der Bundesrepublik (mit kurzen Abstechern in die DDR) im Spiegel ihrer wechselnden Gerichte.
Denn es ist kein Zufall, dass mit dem Gleichberechtigungsgesetz auch die ersten Fertiggerichte wie Ravioli oder Konservengemüse auftauchten. Und mit der aufkommenden Freizeitgesellschaft Häppchen wie Salzstangen und Käsewürfel plus Weintraube. In den fünfziger Jahren träumten die Deutschen beim Italiener vom »dolce vita« und in den Achtzigern bei Döner, Baklava und Gyros von der glücklichen Multikulti-Gesellschaft. Die Öko-Bewegung hat uns das Müsli beschert und die joggende und schlankheitsbesessene Dot-com-Generation die Sushi-Ära eingeläutet. Mahlzeit lässt die zeittypischen Gerichte ebenso an uns vorüberziehen wie die wichtigsten Ereignisse und Personen der vergangenen sechzig Jahre. Es bietet eine Zeitreise der ganz besonderen Art, die uns ein Deutschland zeigt, das im Rückblick bisweilen wirkt wie eine fremde, seltsame Kultur.
Denn es ist kein Zufall, dass mit dem Gleichberechtigungsgesetz auch die ersten Fertiggerichte wie Ravioli oder Konservengemüse auftauchten. Und mit der aufkommenden Freizeitgesellschaft Häppchen wie Salzstangen und Käsewürfel plus Weintraube. In den fünfziger Jahren träumten die Deutschen beim Italiener vom »dolce vita« und in den Achtzigern bei Döner, Baklava und Gyros von der glücklichen Multikulti-Gesellschaft. Die Öko-Bewegung hat uns das Müsli beschert und die joggende und schlankheitsbesessene Dot-com-Generation die Sushi-Ära eingeläutet. Mahlzeit lässt die zeittypischen Gerichte ebenso an uns vorüberziehen wie die wichtigsten Ereignisse und Personen der vergangenen sechzig Jahre. Es bietet eine Zeitreise der ganz besonderen Art, die uns ein Deutschland zeigt, das im Rückblick bisweilen wirkt wie eine fremde, seltsame Kultur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.04.2009So seht nur, was auf ihrem Teller liegt!
Vom Saumagen bis zur Sushi-Platte: Ingke Brodersen und Rüdiger Dammann erzählen die kulinarische Geschichte der beiden deutschen Staaten.
Der schwärzeste Tag in der kulinarischen Geschichte Nachkriegsdeutschlands war der 20. Februar 1953. An diesem Tag nahm im Nordwestdeutschen Rundfunk das zerstörerische Werk des Kleindarstellers Clemens Wilmenrod seinen Anfang, einer korpulenten Quatschbacke mit dem Charme eines Kegelbahnconférenciers, der als Erster im deutschen Fernsehen so tun durfte, als könne er kochen. Er war der Erfinder einer Sendung mit dem sich schamlos selbst widersprechenden Titel "Bitte in zehn Minuten zu Tisch - Kochkunst für eilige Feinschmecker", pflegte seine Zuschauer mit den Worten "Liebe Brüder und Schwestern in Lucullus" zu begrüßen, pries ihnen Ketchup und Mayonnaise als Gipfel der Gourmetküche, donnerte ein paniertes Schnitzel zum "Venezianischen Weihnachtsschmaus" auf, machte Schauerlichkeiten wie Toast Hawaii, "Arabisches Reiterfleisch" oder seine berüchtigte "Blitz"-Gulaschsuppe salonfähig und hinterließ eine schreckliche Erblast im kulinarischen Selbstverständnis der Deutschen - in vielem sind wir immer noch eine Nation "eiliger Feinschmecker".
Mit Schaudern und plötzlicher Appetitlosigkeit liest man dieses dunkle Kapitel und ist froh, dass sich Ingke Brodersen und Rüdiger Dammann bald erfreulicheren Dingen zuwenden. In sechzig Episoden rekapitulieren sie den kulinarischen Werdegang der beiden deutschen Staaten vom Kaugummi der Luftbrücke bis zum Resteessen "Armer Ritter" aus eingeweichten Brotkanten, das sie Steuersündern wie Klaus Zumwinkel ans Herz und auf den Teller legen.
Die Idee dieses Buches ist so zwingend wie einleuchtend, weil die Geschichte der Gerichte eines Landes immer auch seine Mentalitäts- und Sozialgeschichte ist und die Esssitten vielleicht sogar die unmittelbarste Ausdrucksform jedes Wandels sind. Die geistige Verfassung eines Volkes manifestiert sich in der Lebensmittelabteilung, die Kausalitäten liegen auf der Hand: Der Siegeszug der Dosenravioli und die Emanzipation der Hausfrau vom Herd, der beginnende Massentourismus nach Italien und die erwachende Liebe zu Pizza und Spaghetti, der Wunschtraum von einer multikulturellen Gesellschaft und die Döner-Buden-Epidemie, die selbst bayerische Bergdörfer nicht verschont - nichts ist Zufall, alles ist Folge, jedenfalls in Deutschland.
Denn kein anderes Volk reagiert mit solchen extremen Pendelschlägen seiner Küche auf historische Veränderungen wie wir. In Frankreich, Spanien oder Italien wird viel konservativer gegessen, Coq au vin oder Paella gab es schon vor hundert Jahren und wird es auch in hundert Jahren noch geben. Fast alle deutschen Klassiker der Nachkriegszeit dagegen sind von der Speisekarte verschwunden und durch ganze Nationalküchen aus befreundeten Mittelmeerländern ersetzt worden.
Oft gelingt den Autoren die Verknüpfung von Kulinarik und Geschichte, etwa wenn sie die Popularisierung von Sushi als Konsequenz aus der rauschhaften Zeit des Neuen Marktes interpretieren. Alles war damals hip und chic und global, Joggen statt Stammtisch, Workout statt Wohlstandswampe lautete die Devise, und Sushi-Platten wurden bei jeder Gründungsfeier eines Start-up aufgetischt. Die Firmen sind fast alle pleite, Sushi aber gibt es heute im Supermarktregal. Plausibel wird auch die wechselvolle Karriere des pfälzischen Saumagens erzählt. Helmut Kohl servierte ihn den Mächtigen der Welt, Margaret Thatcher, Michail Gorbatschow, Ronald Reagan, François Mitterrand, alle haben ihn gegessen und ihm für ein paar Jahre internationale Reputation verschafft. Doch der Versuch des Kanzlers, seinem Leibgericht dauerhaft zu Weltruhm zu verhelfen, scheiterte - mit seiner eigenen Demontage verschwand auch der Saumagen wieder aus dem Licht der Öffentlichkeit.
Allzu oft freilich misslingt der Versuch, die Geschichte Deutschlands durch das Küchen- oder Restaurantfenster zu betrachten. Zwischen der "Bild"-Zeitung und der Blutwurst gibt es keinen inhaltlichen Zusammenhang, und die innere Logik von Gummibärchen und dem Godesberger Programm der SPD bleibt ebenso rätselhaft wie die Wesensverwandtschaft von Gulasch und Elvis Presleys Erfolg in Deutschland oder Makkaroni und der antiautoritären Erziehung. Hier wird das Buch zur bloßen Nummernrevue. Dann plaudern die Autoren nur noch und kippen so viel Beliebigkeit über die kulinarische Geschichte der beiden deutschen Staaten wie Clemens Wilmenrod einst Ketchup übers Dosengemüse.
JAKOB STROBEL Y SERRA
Ingke Brodersen und Rüdiger Dammann: "Mahlzeit!" 60 Jahre Deutschland - eine kulinarische Zeitreise. Dumont Buchverlag, Köln 2009. 250 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Saumagen bis zur Sushi-Platte: Ingke Brodersen und Rüdiger Dammann erzählen die kulinarische Geschichte der beiden deutschen Staaten.
Der schwärzeste Tag in der kulinarischen Geschichte Nachkriegsdeutschlands war der 20. Februar 1953. An diesem Tag nahm im Nordwestdeutschen Rundfunk das zerstörerische Werk des Kleindarstellers Clemens Wilmenrod seinen Anfang, einer korpulenten Quatschbacke mit dem Charme eines Kegelbahnconférenciers, der als Erster im deutschen Fernsehen so tun durfte, als könne er kochen. Er war der Erfinder einer Sendung mit dem sich schamlos selbst widersprechenden Titel "Bitte in zehn Minuten zu Tisch - Kochkunst für eilige Feinschmecker", pflegte seine Zuschauer mit den Worten "Liebe Brüder und Schwestern in Lucullus" zu begrüßen, pries ihnen Ketchup und Mayonnaise als Gipfel der Gourmetküche, donnerte ein paniertes Schnitzel zum "Venezianischen Weihnachtsschmaus" auf, machte Schauerlichkeiten wie Toast Hawaii, "Arabisches Reiterfleisch" oder seine berüchtigte "Blitz"-Gulaschsuppe salonfähig und hinterließ eine schreckliche Erblast im kulinarischen Selbstverständnis der Deutschen - in vielem sind wir immer noch eine Nation "eiliger Feinschmecker".
Mit Schaudern und plötzlicher Appetitlosigkeit liest man dieses dunkle Kapitel und ist froh, dass sich Ingke Brodersen und Rüdiger Dammann bald erfreulicheren Dingen zuwenden. In sechzig Episoden rekapitulieren sie den kulinarischen Werdegang der beiden deutschen Staaten vom Kaugummi der Luftbrücke bis zum Resteessen "Armer Ritter" aus eingeweichten Brotkanten, das sie Steuersündern wie Klaus Zumwinkel ans Herz und auf den Teller legen.
Die Idee dieses Buches ist so zwingend wie einleuchtend, weil die Geschichte der Gerichte eines Landes immer auch seine Mentalitäts- und Sozialgeschichte ist und die Esssitten vielleicht sogar die unmittelbarste Ausdrucksform jedes Wandels sind. Die geistige Verfassung eines Volkes manifestiert sich in der Lebensmittelabteilung, die Kausalitäten liegen auf der Hand: Der Siegeszug der Dosenravioli und die Emanzipation der Hausfrau vom Herd, der beginnende Massentourismus nach Italien und die erwachende Liebe zu Pizza und Spaghetti, der Wunschtraum von einer multikulturellen Gesellschaft und die Döner-Buden-Epidemie, die selbst bayerische Bergdörfer nicht verschont - nichts ist Zufall, alles ist Folge, jedenfalls in Deutschland.
Denn kein anderes Volk reagiert mit solchen extremen Pendelschlägen seiner Küche auf historische Veränderungen wie wir. In Frankreich, Spanien oder Italien wird viel konservativer gegessen, Coq au vin oder Paella gab es schon vor hundert Jahren und wird es auch in hundert Jahren noch geben. Fast alle deutschen Klassiker der Nachkriegszeit dagegen sind von der Speisekarte verschwunden und durch ganze Nationalküchen aus befreundeten Mittelmeerländern ersetzt worden.
Oft gelingt den Autoren die Verknüpfung von Kulinarik und Geschichte, etwa wenn sie die Popularisierung von Sushi als Konsequenz aus der rauschhaften Zeit des Neuen Marktes interpretieren. Alles war damals hip und chic und global, Joggen statt Stammtisch, Workout statt Wohlstandswampe lautete die Devise, und Sushi-Platten wurden bei jeder Gründungsfeier eines Start-up aufgetischt. Die Firmen sind fast alle pleite, Sushi aber gibt es heute im Supermarktregal. Plausibel wird auch die wechselvolle Karriere des pfälzischen Saumagens erzählt. Helmut Kohl servierte ihn den Mächtigen der Welt, Margaret Thatcher, Michail Gorbatschow, Ronald Reagan, François Mitterrand, alle haben ihn gegessen und ihm für ein paar Jahre internationale Reputation verschafft. Doch der Versuch des Kanzlers, seinem Leibgericht dauerhaft zu Weltruhm zu verhelfen, scheiterte - mit seiner eigenen Demontage verschwand auch der Saumagen wieder aus dem Licht der Öffentlichkeit.
Allzu oft freilich misslingt der Versuch, die Geschichte Deutschlands durch das Küchen- oder Restaurantfenster zu betrachten. Zwischen der "Bild"-Zeitung und der Blutwurst gibt es keinen inhaltlichen Zusammenhang, und die innere Logik von Gummibärchen und dem Godesberger Programm der SPD bleibt ebenso rätselhaft wie die Wesensverwandtschaft von Gulasch und Elvis Presleys Erfolg in Deutschland oder Makkaroni und der antiautoritären Erziehung. Hier wird das Buch zur bloßen Nummernrevue. Dann plaudern die Autoren nur noch und kippen so viel Beliebigkeit über die kulinarische Geschichte der beiden deutschen Staaten wie Clemens Wilmenrod einst Ketchup übers Dosengemüse.
JAKOB STROBEL Y SERRA
Ingke Brodersen und Rüdiger Dammann: "Mahlzeit!" 60 Jahre Deutschland - eine kulinarische Zeitreise. Dumont Buchverlag, Köln 2009. 250 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die "plötzliche Appetitlosigkeit" des Rezensenten ist nach einigen Seiten gegessen. Nach dem Porträt des Ketchup-Kings Clemens Wilmenrod darf Jakob Strobel y Serra in sechzig Kapiteln den deutsch-deutschen kulinarischen Werdegang verfolgen. Die Idee, Tisch- und Mentalitätsgeschichte zu parallelisieren, den Triumphzug der Konserven-Ravioli und die Emanzipation der Hausfrau vom Küchenherd, findet er einleuchtend. Uns Deutsche hält er für extrem magenfühlig, wenns um historische Veränderungen geht. Wie die Beliebtheit des Saumagens mit Kohls Niedergang absackte! Allerdings schießen Ingke Brodersen und Rüdiger Dammann laut Rezensent auch oft übers Ziel hinaus. Gummibärchen und das Godesberger Programm der SPD inhaltlich zusammenzudenken gelingt dem Rezensenten jedenfalls nicht. In solchen Momenten, meint er, gleicht der Band einer Nummernrevue, einer beliebigen Plauderei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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