Afghanistan im Jahr 1000. Mahmud von Ghasni, unrechtmäßiger Sohn eines kleinen Dorffürsten, zieht mit einer Handvoll Männer über den Khyberpaß, um ein großes Reich zu zerstören und neu zu errichten. Die wahre Geschichte des ersten der Mogulkaiser, aber auch eine Geschichte der Wunder, der guten und bösen Lüste, der unerwarteten Schönheiten und knietiefen Schatzhalden, in denen Mahmud am Ende watet. Mahmud bezwingt seinen ersten Widersacher schon in der Wiege, er wird mit Löwenmilch aufgezogen, er wird eine Frau heiraten, die es gar nicht gibt. Zweimal. Er reitet Pferde mit edlen Namen, "Farbe des Windes", "Kaiser der Pferdekaiser", seine Rüstung ist vergrünt, und auf seinem Schild ist eine vertrocknete Feindeshand montiert, als er ins Halbdunkel Indiens hinabzieht. Landschaften der Seele tun sich auf: Lautlos rieselnde Wüsten, unbewacht schlafende Städte, Höhlenlabyrinthe drohen, schwarze Wasser erheben sich, Schlachtkolosse auf feinfühligen Elefantensohlen. Die Märchen des Ostens beginnen immer mit den Worten: Es war und es war nicht. "Mahmud der Bastard" ist gewesen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.11.2003Die nackten Tatsachen
Jenseits des Bretterzauns: Ernst Augustin läßt Blicke wandern
Ein Roman? Wohl doch eher eine Studie zur europäischen Ethnologie; Volkskunde sagt man ja heute nicht mehr. Dabei wird doch in diesem Buch dem Volke intensiv auf den Nabel geschaut - ach was, Nabel! Nabel sieht man doch heute überall und mit geradezu lästiger Häufigkeit; darüber braucht man nun wirklich keine Romane mehr zu schreiben - das ist ein Stoff von so geringer Substanz, so etwas reicht gerade noch für Magisterarbeiten im Fach europäische Ethnologie.
Seien wir also präziser: Es wird in diesem Buche dem Volke intensiv auf ganz andere Teile geschaut. Müssen wir wirklich noch deutlicher werden? Also gut: "Aber das hätte man alles hinnehmen können, wären da nicht die Genitalien gewesen, was hatten sie sich bloß dabei gedacht. Einer trug einen so fürchterlichen Buschen, wie ein Bartträger, und einer hatte sich zwar rasiert, doch offenbar unglücklich. Oh, und ein anderer glücklich, und das sah noch schlimmer aus." Um nur ein Beispiel zu geben.
Das Leben steckt eben voll optischer Zumutungen, und man senkt deren Zahl offenbar nicht, wenn man sich in die sonnige Welt der Freikörperkultur begibt, in der ein großer Glanz von außen auf das sonst Verhüllte fällt. Dessen wird mit vom Föhn geschärfter Wahrnehmungspräzision auch Alexander inne, den seine Freunde Alex nennen: ein wohlsituierter Münchner Single so um die Sechzig. Er ist zwar Frühhistoriker mit Spezialinteressen im vorderasiatischen und indischen Bereich, aber wer sich so nachhaltig für das Eigene im Fremden interessiert ("Tempelprostitution im alten Ninife"!, "Tantrakult an der indischen Ostküste"!), der wird sich irgendwann auch für das Fremde im Eigenen erwärmen. Und so wechselt denn Alex eines schönen Tages in einem Münchner Jahrhundertsommer in dem täglich von ihm aufgesuchten Bad auf die andere Seite: jenseits des Bretterzauns, dorthin, wo die Nackerten liegen.
Der wunderbare Erzähler Ernst Augustin ist ein Spezialist für Grenzüberschreitungen aus dem Alltag in ferne und fremde Welten, mögen sie im Kopfe, in der Geschichte oder in exotischen Ländern liegen, und so folgt man diesem Alexander denn im Geiste mit hellem Entzücken bei seiner Eroberung eines der letzten weißen Flecken in der Kulturgeographie, des nahtlose Bräune gewährenden Nacktbadegeländes, und ist zugleich doch heilfroh, mit dem Leibe nicht dabeizusein. Für letzteres können wir als Grund ein zentrales Kriterium unserer Literaturkritik anführen: Es geht dort so unerotisch zu! Das spürt natürlich auch Alex sofort: "Erotik auf dem Nacktbadegelände ist eine paradoxe Größe. Einerseits besteht das Überangebot blanken Fleisches, andererseits aber fehlt jegliches Gefälle . . . Die nackten Tatsachen sind, wenn man es genau nimmt, zu nackt."
Da kann sich also erotisch gar nichts entwickeln. Wer nicht handeln darf, kann dafür aber um so besser beobachten. So widmet sich Alex mit Vor- und Umsicht der ethnologischen Erkundung des dunklen lockenden Kontinents jenseits des Bretterzauns und liefert eine dichte Beschreibung des dort vorgefundenen Soziotops und seiner sozialen Semantik, die streckenweise eine Komik von Loriotscher Erhabenheit entfaltet, zumal Alex als gebildeter Mensch die aller sozialen Distinktionsmerkmale entkleideten Objekte seiner Aufmerksamkeit weiterhin bevorzugt als "Damen" und "Herren" kategorisiert.
Wer genau hinschaut, gilt
schon als Spanner
Eine besondere Komik bezieht diese epidermisverliebte Schilderung des nackten Sozialverhaltens aus der Tatsache, daß die zentrale Problematik aller Ethnologie im Akt der Beobachtung selbst steckt: Wer auf diesem Gelände ein wenig zu genau hinschaut, ist ja schon ein Spanner. Dem Spiel mit dieser prekären Beobachterposition gewinnt Augustin eine berückende Beschreibungsakribie ab, und das nicht nur bei jenen Körperteilen, denen oben schon Erwähnung geschah und bei deren Vergegenwärtigung Augustin - "Gottsdonner!" - seiner Neigung zur Hyperbel mit Wonne freien Raum gewährt, sondern zum Beispiel auch bei der zierlichen Nachzeichnung von etwas, was so zierlich wohl noch nie nachgezeichnet worden ist, der Haut einer sehr alten Frau: "Denn unterhalb des Krägelchens setzte sich das delikate Netzwerk der feinen und feinsten Runzeln tausendfach fort, zehntausendfach. Was sage ich, Runzeln? Sie war eine kostbare Klöppelarbeit, jeder Zentimeter. Die Knie, die Oberschenkel, die Bauchhaut waren feinste Brüsseler Spitze, und der Rücken mit dem geraden Gesäß reinstes bestes Kroningen, sogar formal symmetrisch ausgelegt. Ich sehe, ich gerate ins Abstrakte, aber das war es auch, ein wirklich gutes Blatt, würde der Kunstkenner sagen."
So weit, so gut, aber wie wird daraus jetzt ein Roman? Leider nur mühsam. Ein Drittel des Buches ist schon vorüber, da läßt Augustin erst einmal, in Gestalt eines kleinen Mannes mit gewaltigem Kopf und "ungeheuerlichem Glied", im Schwimmbecken Gott Priapos persönlich auftreten, und das wollen wir denn doch einen Wink mit dem Zaunpfahl nennen. Und schon schwebt eine Göttin auf das Nacktbadegelände herab, direkt vor die Augen von Alex, den die Liebe wie ein Blitzschlag trifft: "Eine Astarte war das, eine Shakti, eine cyprische Aphrodite!" Die Göttin ist zwar, wie die meisten Göttinnen heute, Heilgymnastin, überdies in Siegen gebürtig, aber man darf auch vom Leben nicht zu viel verlangen. Der geschichtslose Raum der nackten Körper hat sich in eine mythische Landschaft verwandelt, und dort kann sich eine solche Epiphanie schon mal ereignen. Damit setzt dann allerdings auch die allseits bekannte Geschichte einer Amour fou - Sechzigjähriger liebt Dreißigjährige - ein, und die führt aus den oben genannten Gründen leider rasch heraus aus dem ethnologischen Primärbereich des Nacktbadegeländes.
Juliane ist entschiedene Tantra-Anhängerin, aber auf dem Gebiet kennt Alex sich ja auch gut aus, und so versucht er sie mit allen Alt- und Neumünchner Mitteln zu verführen, was Anlaß zu vielen heiteren und einigen traurigen Szenen gibt, aber die heiteren überwiegen doch entschieden. Das Ganze kulminiert in der Schilderung eines einwöchigen Tantra-Intensivkurses, dessen zwanzig Teilnehmer weitere Lektionen in der Schule der Nacktheit zu absolvieren haben: "Die Traudl, Frau Fetter, mein Gott, war sie nackt! Sie war viel nackter, als es eigentlich möglich sein sollte, sehr beklommen" - so daß der ihr als Partner zugeteilte Alex ihrer Lieblichkeit so erbarmungsvoll begegnet, "wie man einen völlig verängstigten grünen Rasen betritt". Das sind die Sätze, um derentwillen man Augustins Prosa liebt.
Die spätzivilisatorischen
Bedingungen der Nacktheit
Im übrigen aber sind, trotz aller Kraft zur parodistischen Pointierung ("Großer Gott, was hatten wir da angerichtet, Orgasmus ist bei diesen kontemplativen Übungen gar nicht vorgesehen"), die für Alex katastrophalen Abläufe dieser Veranstaltung einigermaßen vorhersehbar; die deutsche Literatur hat schließlich schon oft Parodien auf die gruppendynamischen Bedürfnisse unserer Landsleute geliefert, und was Ernst Augustin auf diesem Gebiet leisten kann, hat er bereits 1982 in "Eastend" in einer fulminant bösen Satire auf die Gruppentherapeutik gezeigt.
Mit von Haß auf den Guru und Eifersucht umnebeltem Hirn spielt Alex das schwarze Schaf und muß gerade deshalb beim Kampf um die vergötterte Juliane unterliegen. Daß er sie dann am Ende doch noch ins Bett - genauer: in ein Sandbett - kriegt, fordert einen gewaltigen technischen Aufwand, wirkt psychologisch wenig überzeugend und gerade deshalb gewollt märchenhaft. Hier hat Augustin ein rabiater Wille zum guten Ausgang die Feder geführt.
Denn daß alles auch ganz anders hätte kommen können, macht Augustin, dieser Flaneur zwischen den Zeiten und Welten, mit einer raffiniert in die Geschichte eingebauten Parallelerzählung deutlich: Alex' Traum von Gautama und der schönhüftigen Sita, deren Reinkarnationen Alex und Juliane sein mögen; diese Geschichte aber geht auf höchst plausible Weise tödlich aus.
So werden Augustins erzählerische Variationen auf die Erprobung der Nacktheit unter spätzivilisatorischen Bedingungen von dem Moment an, da die Liebesgeschichte knirschend in Fahrt kommt, zwar episodenreich, aber doch nicht wirklich überraschungsvoll fortgeführt, bis die Geschichte am Ende knirschend zum Stehen gelangt. Wer sich zuvor noch einmal von den Wundern der Einbildungskraft, die Augustin 1992 in "Mahmud der Schlächter oder Der feine Weg" entfesselte, hat bezaubern lassen, der wird sein neues Buch ein wenig matt finden. Der frühere Roman ist übrigens soeben unter dem angemesseneren Titel "Mahmud der Bastard" neu bei C. H. Beck herausgekommen, und daß der Verlag auch Augustins weitere frühere Werke neu herausbringen wird, ist überaus erfreulich.
Augustin hat aus seinen hinreißenden erzählerischen Miniaturen zum nackten Sozialverhalten eine Episode ausgewählt, und die verselbständigt sich dann, ohne doch wirklich letzte psychologische Plausibilität zu gewinnen. Das abundante Spiel mit den München-Klischees schafft da auch keinen Ausgleich. "Die Schule der Nackten" ist offensichtlich ein Alterswerk - eines freilich, das auf jeder Seite von dem unwiderstehlichen Zauber des Augustin-Sounds durchtränkt ist: der virtuosen Inszenierung aller Effekte eines mündlichen Erzählens, das noch das Alltäglichste zum großen Abenteuer auszugestalten vermag. Autoren, die sich neben den großen Erzähler Ernst Augustin zu stellen getrauen, müssen jedenfalls schwer aufpassen, in dieser Nachbarschaft nicht schlagartig als Träger von des Kaisers neuen Kleidern identifiziert zu werden.
Ernst Augustin: "Die Schule der Nackten". Roman. Verlag C. H. Beck, München 2003. 255 S., geb., 17,90 [Euro].
Ernst Augustin: "Mahmud der Bastard". Roman. Verlag C. H. Beck, München 2003. 366 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jenseits des Bretterzauns: Ernst Augustin läßt Blicke wandern
Ein Roman? Wohl doch eher eine Studie zur europäischen Ethnologie; Volkskunde sagt man ja heute nicht mehr. Dabei wird doch in diesem Buch dem Volke intensiv auf den Nabel geschaut - ach was, Nabel! Nabel sieht man doch heute überall und mit geradezu lästiger Häufigkeit; darüber braucht man nun wirklich keine Romane mehr zu schreiben - das ist ein Stoff von so geringer Substanz, so etwas reicht gerade noch für Magisterarbeiten im Fach europäische Ethnologie.
Seien wir also präziser: Es wird in diesem Buche dem Volke intensiv auf ganz andere Teile geschaut. Müssen wir wirklich noch deutlicher werden? Also gut: "Aber das hätte man alles hinnehmen können, wären da nicht die Genitalien gewesen, was hatten sie sich bloß dabei gedacht. Einer trug einen so fürchterlichen Buschen, wie ein Bartträger, und einer hatte sich zwar rasiert, doch offenbar unglücklich. Oh, und ein anderer glücklich, und das sah noch schlimmer aus." Um nur ein Beispiel zu geben.
Das Leben steckt eben voll optischer Zumutungen, und man senkt deren Zahl offenbar nicht, wenn man sich in die sonnige Welt der Freikörperkultur begibt, in der ein großer Glanz von außen auf das sonst Verhüllte fällt. Dessen wird mit vom Föhn geschärfter Wahrnehmungspräzision auch Alexander inne, den seine Freunde Alex nennen: ein wohlsituierter Münchner Single so um die Sechzig. Er ist zwar Frühhistoriker mit Spezialinteressen im vorderasiatischen und indischen Bereich, aber wer sich so nachhaltig für das Eigene im Fremden interessiert ("Tempelprostitution im alten Ninife"!, "Tantrakult an der indischen Ostküste"!), der wird sich irgendwann auch für das Fremde im Eigenen erwärmen. Und so wechselt denn Alex eines schönen Tages in einem Münchner Jahrhundertsommer in dem täglich von ihm aufgesuchten Bad auf die andere Seite: jenseits des Bretterzauns, dorthin, wo die Nackerten liegen.
Der wunderbare Erzähler Ernst Augustin ist ein Spezialist für Grenzüberschreitungen aus dem Alltag in ferne und fremde Welten, mögen sie im Kopfe, in der Geschichte oder in exotischen Ländern liegen, und so folgt man diesem Alexander denn im Geiste mit hellem Entzücken bei seiner Eroberung eines der letzten weißen Flecken in der Kulturgeographie, des nahtlose Bräune gewährenden Nacktbadegeländes, und ist zugleich doch heilfroh, mit dem Leibe nicht dabeizusein. Für letzteres können wir als Grund ein zentrales Kriterium unserer Literaturkritik anführen: Es geht dort so unerotisch zu! Das spürt natürlich auch Alex sofort: "Erotik auf dem Nacktbadegelände ist eine paradoxe Größe. Einerseits besteht das Überangebot blanken Fleisches, andererseits aber fehlt jegliches Gefälle . . . Die nackten Tatsachen sind, wenn man es genau nimmt, zu nackt."
Da kann sich also erotisch gar nichts entwickeln. Wer nicht handeln darf, kann dafür aber um so besser beobachten. So widmet sich Alex mit Vor- und Umsicht der ethnologischen Erkundung des dunklen lockenden Kontinents jenseits des Bretterzauns und liefert eine dichte Beschreibung des dort vorgefundenen Soziotops und seiner sozialen Semantik, die streckenweise eine Komik von Loriotscher Erhabenheit entfaltet, zumal Alex als gebildeter Mensch die aller sozialen Distinktionsmerkmale entkleideten Objekte seiner Aufmerksamkeit weiterhin bevorzugt als "Damen" und "Herren" kategorisiert.
Wer genau hinschaut, gilt
schon als Spanner
Eine besondere Komik bezieht diese epidermisverliebte Schilderung des nackten Sozialverhaltens aus der Tatsache, daß die zentrale Problematik aller Ethnologie im Akt der Beobachtung selbst steckt: Wer auf diesem Gelände ein wenig zu genau hinschaut, ist ja schon ein Spanner. Dem Spiel mit dieser prekären Beobachterposition gewinnt Augustin eine berückende Beschreibungsakribie ab, und das nicht nur bei jenen Körperteilen, denen oben schon Erwähnung geschah und bei deren Vergegenwärtigung Augustin - "Gottsdonner!" - seiner Neigung zur Hyperbel mit Wonne freien Raum gewährt, sondern zum Beispiel auch bei der zierlichen Nachzeichnung von etwas, was so zierlich wohl noch nie nachgezeichnet worden ist, der Haut einer sehr alten Frau: "Denn unterhalb des Krägelchens setzte sich das delikate Netzwerk der feinen und feinsten Runzeln tausendfach fort, zehntausendfach. Was sage ich, Runzeln? Sie war eine kostbare Klöppelarbeit, jeder Zentimeter. Die Knie, die Oberschenkel, die Bauchhaut waren feinste Brüsseler Spitze, und der Rücken mit dem geraden Gesäß reinstes bestes Kroningen, sogar formal symmetrisch ausgelegt. Ich sehe, ich gerate ins Abstrakte, aber das war es auch, ein wirklich gutes Blatt, würde der Kunstkenner sagen."
So weit, so gut, aber wie wird daraus jetzt ein Roman? Leider nur mühsam. Ein Drittel des Buches ist schon vorüber, da läßt Augustin erst einmal, in Gestalt eines kleinen Mannes mit gewaltigem Kopf und "ungeheuerlichem Glied", im Schwimmbecken Gott Priapos persönlich auftreten, und das wollen wir denn doch einen Wink mit dem Zaunpfahl nennen. Und schon schwebt eine Göttin auf das Nacktbadegelände herab, direkt vor die Augen von Alex, den die Liebe wie ein Blitzschlag trifft: "Eine Astarte war das, eine Shakti, eine cyprische Aphrodite!" Die Göttin ist zwar, wie die meisten Göttinnen heute, Heilgymnastin, überdies in Siegen gebürtig, aber man darf auch vom Leben nicht zu viel verlangen. Der geschichtslose Raum der nackten Körper hat sich in eine mythische Landschaft verwandelt, und dort kann sich eine solche Epiphanie schon mal ereignen. Damit setzt dann allerdings auch die allseits bekannte Geschichte einer Amour fou - Sechzigjähriger liebt Dreißigjährige - ein, und die führt aus den oben genannten Gründen leider rasch heraus aus dem ethnologischen Primärbereich des Nacktbadegeländes.
Juliane ist entschiedene Tantra-Anhängerin, aber auf dem Gebiet kennt Alex sich ja auch gut aus, und so versucht er sie mit allen Alt- und Neumünchner Mitteln zu verführen, was Anlaß zu vielen heiteren und einigen traurigen Szenen gibt, aber die heiteren überwiegen doch entschieden. Das Ganze kulminiert in der Schilderung eines einwöchigen Tantra-Intensivkurses, dessen zwanzig Teilnehmer weitere Lektionen in der Schule der Nacktheit zu absolvieren haben: "Die Traudl, Frau Fetter, mein Gott, war sie nackt! Sie war viel nackter, als es eigentlich möglich sein sollte, sehr beklommen" - so daß der ihr als Partner zugeteilte Alex ihrer Lieblichkeit so erbarmungsvoll begegnet, "wie man einen völlig verängstigten grünen Rasen betritt". Das sind die Sätze, um derentwillen man Augustins Prosa liebt.
Die spätzivilisatorischen
Bedingungen der Nacktheit
Im übrigen aber sind, trotz aller Kraft zur parodistischen Pointierung ("Großer Gott, was hatten wir da angerichtet, Orgasmus ist bei diesen kontemplativen Übungen gar nicht vorgesehen"), die für Alex katastrophalen Abläufe dieser Veranstaltung einigermaßen vorhersehbar; die deutsche Literatur hat schließlich schon oft Parodien auf die gruppendynamischen Bedürfnisse unserer Landsleute geliefert, und was Ernst Augustin auf diesem Gebiet leisten kann, hat er bereits 1982 in "Eastend" in einer fulminant bösen Satire auf die Gruppentherapeutik gezeigt.
Mit von Haß auf den Guru und Eifersucht umnebeltem Hirn spielt Alex das schwarze Schaf und muß gerade deshalb beim Kampf um die vergötterte Juliane unterliegen. Daß er sie dann am Ende doch noch ins Bett - genauer: in ein Sandbett - kriegt, fordert einen gewaltigen technischen Aufwand, wirkt psychologisch wenig überzeugend und gerade deshalb gewollt märchenhaft. Hier hat Augustin ein rabiater Wille zum guten Ausgang die Feder geführt.
Denn daß alles auch ganz anders hätte kommen können, macht Augustin, dieser Flaneur zwischen den Zeiten und Welten, mit einer raffiniert in die Geschichte eingebauten Parallelerzählung deutlich: Alex' Traum von Gautama und der schönhüftigen Sita, deren Reinkarnationen Alex und Juliane sein mögen; diese Geschichte aber geht auf höchst plausible Weise tödlich aus.
So werden Augustins erzählerische Variationen auf die Erprobung der Nacktheit unter spätzivilisatorischen Bedingungen von dem Moment an, da die Liebesgeschichte knirschend in Fahrt kommt, zwar episodenreich, aber doch nicht wirklich überraschungsvoll fortgeführt, bis die Geschichte am Ende knirschend zum Stehen gelangt. Wer sich zuvor noch einmal von den Wundern der Einbildungskraft, die Augustin 1992 in "Mahmud der Schlächter oder Der feine Weg" entfesselte, hat bezaubern lassen, der wird sein neues Buch ein wenig matt finden. Der frühere Roman ist übrigens soeben unter dem angemesseneren Titel "Mahmud der Bastard" neu bei C. H. Beck herausgekommen, und daß der Verlag auch Augustins weitere frühere Werke neu herausbringen wird, ist überaus erfreulich.
Augustin hat aus seinen hinreißenden erzählerischen Miniaturen zum nackten Sozialverhalten eine Episode ausgewählt, und die verselbständigt sich dann, ohne doch wirklich letzte psychologische Plausibilität zu gewinnen. Das abundante Spiel mit den München-Klischees schafft da auch keinen Ausgleich. "Die Schule der Nackten" ist offensichtlich ein Alterswerk - eines freilich, das auf jeder Seite von dem unwiderstehlichen Zauber des Augustin-Sounds durchtränkt ist: der virtuosen Inszenierung aller Effekte eines mündlichen Erzählens, das noch das Alltäglichste zum großen Abenteuer auszugestalten vermag. Autoren, die sich neben den großen Erzähler Ernst Augustin zu stellen getrauen, müssen jedenfalls schwer aufpassen, in dieser Nachbarschaft nicht schlagartig als Träger von des Kaisers neuen Kleidern identifiziert zu werden.
Ernst Augustin: "Die Schule der Nackten". Roman. Verlag C. H. Beck, München 2003. 255 S., geb., 17,90 [Euro].
Ernst Augustin: "Mahmud der Bastard". Roman. Verlag C. H. Beck, München 2003. 366 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Unter angemessenerem Titel neu herausgekommen sind den Informationen von Rezensent Ernst Osterkamp zufolge jene "Wunder der Einbildungskraft", die 1992 von Ernst Augustin zuerst unter der Überschrift "Mahmud der Schlächter oder Der feine Weg" entfesselt wurden. Der Rezensent feiert Augustin als wunderbaren Erzähler und Spezialisten für Grenzüberschreitungen aus dem Alltag in ferne und fremde Welten. Ihren für Osterkamp unwiderstehlichen Zauber verdankt diese Prosa einer virtuosen Inszenierung der Effekte des mündlichen Erzählens, die noch das Alltäglichste zum großen Abenteuer auszugestalten vermöge.
© Perlentaucher Medien GmbH
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