Produktdetails
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Seitenzahl: 248
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 380g
  • ISBN-13: 9783462018189
  • Artikelnr.: 24977124
  • Herstellerkennzeichnung
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2002

Joachim Lottmann: Mai, Juni, Juli
1987 - Ein Buch rennt nach draußen

Das ist kein Buch, das ist das Leben. Das Leben auf der Suche nach dem Buch. Nach dem guten Buch, dem neuen Buch, dem noch nie, noch nie geschriebenen. Es ist ein Buch zwischen 23 Romananfängen, ein Roman der Romanverwerfungen, der Neuentdeckungen, der Verhinderung. Ein Buch gegen die Wiederholung, gegen die Langeweile, gegen das Schreiben als Lebensablenkung, gegen das Lesen als Lebensersatz.

Ein Schriftsteller, der noch kein Schriftsteller ist, weil er noch nichts geschriftstellert hat, sitzt in einer Dachstube und bedenkt das Schreiben. Und er schreibt nicht, erstens, weil er ganz anders schreiben will, anders als alles, was es bislang gegeben hat: "Kein Sex, keine verdammt gute Literatur, keine Monomanie, keine Exzesse, kein Tiefgang, keine Phantasie, Mystik, l'amour fou, Tinnef, Aberglaube, Spökenkiekerei, kein . . ., kein . . ., kein . . ." Der Umschlag von "Mai, Juni, Juli" ist eine unendliche Beschreibung dessen, was alles nicht drin ist, in diesem Buch.

Zweitens schreibt er nicht, weil er so viel zu schreiben hat, weil so unendlich viele interessante potentielle Romananfänge den jungen Schriftsteller bedrängen: Ein DDR-Roman? Eine Trinkergeschichte? Ein Minderheitenroman über Intellektuelle? Eine Erkundung der eigenen Biographie? Alles ist möglich, das macht das Schreiben schwer.

Drittens schreibt er nicht, weil er ja leben muß, leben und das Leben loben und immer wieder begeistert feststellen, daß man am Leben ist: "Schon richtig, daß ich gerade nichts erlebte - aber wenn ich nun NICHT hier auf der Lenkstange des angelehnten Fahrrads sitzen und auf den glühenden Asphalt gucken könnte, weil ich tot wäre?" Das wäre schlecht, das wäre sogar das Schlechteste. Denn Lottmanns Werteskala geht knapp und deutlich so: "Erst das Leben, dann die Literatur, dann der Tod."

Und viertens schreibt er ja doch. Weil jede Sekunde so wertvoll ist, daß sie beschrieben werden muß. Weil eine Welt ohne Buch undenkbar ist (Warum? "Tja, Erziehung, Bürgertum, der ganze Schmock."). Weil die Literatur bislang komplett falsch, gefälscht, erlogen gewesen ist, "komplett ausgedacht. Deswegen mochte ich es nicht lesen." Weil man ja Geld verdienen muß und es im Leben dieses Schriftstellers einen Verleger gibt, der bereit ist, für ein Buch von diesem jungen, hoffnungsvollen Mann Geld zu bezahlen. Und weil man sich Dauer wünscht, für das eigene Erleben. "Ich war doch kein blöder Journalist! Meinen Roman müßte man auch in hundert Jahren noch lesen können."

Doch schon heute, 15 Jahre nach dem Erscheinen von Joachim Lottmanns "Mai, Juni, Juli", kann ihn niemand mehr lesen, der ihn nicht vor langer Zeit gekauft hat. Ausverkauft, wird nicht mehr nachgedruckt, ist in keinem Antiquariat mehr zu bekommen, seit langem schon. Ein Witz. Dieser Roman war der Anfang, der Anfang von vielem, großem, schönem, lebensgenauem, was in den neunziger Jahren zu erleben und zu lesen war, war der Anfang von einer Zeit, in der "Schriftsteller gerade bei der des Barbarentums verdächtigten Generation um die dreißig wieder als erstrebenswerter Beruf galt", wie Willi Winkler einmal schrieb. War der Anfang vom neuen, schönen, großen Lebensschreiben. "Wozu ist ein Buch da, wenn man nicht nach der ersten Seite Lust bekam, nach draußen zu rennen und es dem Buch gleichzutun?" fragt Joachim Lottmann in "Mai, Juni, Juli". Vielleicht sind in den neunziger Jahren zu viele hinaus gerannt und haben es dem Buch gleichgetan. Und das Buch dabei vergessen.

vw

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