Ist es leichter glücklich oder unglücklich zu sein?Von Griechenland bis Niedersachsen, von den Fünfzigerjahren bis in die Gegenwart: In ihrem neuen Roman erzählt Vea Kaiser in ihrem einzigartigen Ton von der Glückssuche einer Familie und deren folgenreichen Katastrophen, von Möchtegern-Helden und Herzensbrechern. Und von der großen Liebe, die man mehrmals trifft. In einer niedersächsischen Kleinstadt wird die Erotik der deutschen Sprache entdeckt. In der österreichischen Provinz sehnt sich ein skurriler Schlagerstar nach einer Frau, die er vor 40 Jahren verlor. In einer Schweizer Metropole macht ein liebeskranker Koch dank pürierter Ameisen Karriere. Und auf einer griechischen Insel sucht ein arbeitsloser Gewerkschafter verzweifelt seinen Ehering, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Doch alles beginnt in einem vom Krieg entzweiten Dorf an der albanisch-griechischen Grenze. Mit einer Großmutter und Kupplerin par excellence, die keine Intrige scheut, um den Fortbestand ihrer Familie zu sichern. Und mit der klugen, sturen, streitbaren Eleni und ihrem Cousin Lefti, der sich nichts sehnlicher wünscht als Frieden. Als Kinder unzertrennlich, entzweien sich die beiden umso stärker als Erwachsene. Und kommen doch nie voneinander los. Mit hinreißender Tragikomik, einem liebevollen Blick für Details und furioser Fabulierlust folgt Vea Kaiser der Geschichte einer unvergesslichen Familie, die auseinandergerissen werden musste, um zusammenzufinden. Ein Roman über das Aushalten von Sehnsucht und Einsamkeit, über Neuanfänge, Sandburgen für die Ewigkeit und die Schönheit des Lebens als Postkartenmotiv.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.05.2015Solang dein Herz noch für mich schlägt
Weibliches Schutzbedürfnis: In ihrem neuen Roman erweist sich Vea Kaiser als Autorin für die ganze Familie
Während im Jahr 2012 die literaturbetrieblichen Reaktionen auf Vea Kaisers Debütroman zwischen Entsetzen (Sigrid Löffler) und Euphorie (Denis Scheck) schillerten, orchestrierten die Freudenstürme von Bloggern, Buchhändlern und Frauenzeitschriften eine 160 Stationen umfassende Lesereise und rekordverdächtige Umsätze: "Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam" wurde 90 000 Mal verkauft. Knapp drei Jahre später erscheint nun "Makarionissi oder Die Insel der Seligen" und spielt das bewährte Erfolgsrezept wieder aus: opulenter Titel, opulentes Cover, eine Handlung, die in den fünfziger Jahren einsetzt und in die Gegenwart mündet, und eine jugendliche Hauptfigur, die mit ihrem heimischen Bergdorf hadert.
Das fiktive Bergdorf in Kaisers Erstling hieß St. Peter am Anger und trug unverkennbar österreichische Züge; sein Nachfolger heißt Varitsi und liegt nahe der albanisch-griechischen Grenze. Die kleine Eleni ist schon vor ihrer Geburt ihrem Cousin Lefti versprochen worden, damit das Familienerbe gesichert werden kann. Dass die Achtjährige jedoch nicht heiraten, sondern lieber als alleinstehende Heldin durch die Welt ziehen und Bestien bekämpfen will, nimmt man ihr übel: In Varitsi sind eigenständige Entscheidungen nicht gern gesehen.
Wie schon in Kaisers Debütroman werden auch in "Makarionissi" verstockten Dorfbewohnern Herzen aus Gold angedichtet, leuchtend gute Absichten, die aufwiegen sollen, dass Kinder geschlagen und letztlich entmündigt werden. Kaiser lässt ihre Protagonistin zwar rebellieren, präsentiert diese Auflehnung aber letztlich als zu überwindende Charakterschwäche. Auf die Idee, dass sie eine Heldin sei, hat sie ohnehin erst Cousin Lefti gebracht; die Vorstellung, dass sie Rechte habe und Frauen nicht weniger wert seien als Männer, flüstern ihr kommunistische Freunde ein - da kann es kaum verwundern, dass Elenis Emanzipationsversuche sich in lautstarken Beschimpfungen etwaiger "faschistischer Schweine" und im Werfen überreifer Tomaten erschöpfen.
Da Kommunismus in Varitsi als ähnlich unangenehm und ansteckend wie Tuberkulose gilt, lässt Kaiser ihre Protagonistin kurzerhand verhaften und straft sie mit einem niederschmetternden Szenario ab: Nach ein paar Tagen Gefängnis sind Elenis Locken "keine lustigen Spiralen mehr". Der zornige Generalinspektor brummt Eleni zudem eine Heirat als Bewährungsstrafenäquivalent auf; entgegen aller Überzeugung gibt sie Lefti das Jawort und zieht mit ihm nach Deutschland, ins verschlafene Hildesheim der siebziger Jahre, welches dem heutigen betrüblich ähnlich sieht: vergebliche Bemühungen, mit Hilfe eines Betongroßaufgebots nach Großstadt auszusehen, grimmig-verbohrte Einwohner und Busse, die so selten fahren, dass man lieber gleich zu Fuß geht.
Ausgerechnet in Hildesheim finden Eleni und Lefti ihr Glück: Eleni verliebt sich in den Sänger Otto, Lefti bändelt mit Deutschlehrerin Trudi an. Bis zum Happy End wird es allerdings noch diverse Geburten, Hochzeiten und Todesfälle in St. Pölten und Chicago sowie auf Makarionissi brauchen - doch all diese Schauplätze nehmen sich letztlich nur wie Varianten des Bergdorfs Varitsi aus; die Handlung erschöpft sich in immer wiederkehrenden Beziehungskonstellationen und -motiven, die auch nach der x-ten Wiederholung noch akribisch auserklärt werden. Dieser Roman will einfach nicht aufhören, obwohl schon auf halber Strecke alles gesagt und verstanden ist: Eleni ist bockig und muss gezähmt werden. Lefti hat ein gutes Herz. Ein "echter Mann" muss dominieren, darf fremdgehender "Schlingel" und "um die Mitte des Leibes überaus gut gebaut" sein. Eine "echte Frau" ist schutzbedürftig und achtet auf ihre Linie, lächelt zart und schüchtern, statt beim Lachen den Mund aufzureißen, "als wäre sie beim Zahnarzt".
Kaiser reproduziert in ihren Büchern veraltete Geschlechtskonzepte und erschafft Heimeligkeitsszenarien wie Johanna Spyri. Während ihr Debütroman ganz literarischer Heimatfilm war, dessen Protagonist Herodot predigte und sich gleichzeitig von der Wirklichkeit außerhalb seines Dorfes abwandte, widmet sich der neue, wenngleich maximal wattiert, einem politisch relevanten Thema: Am Beispiel des fiktiven griechischen Bergdorfs erzählt Vea Kaiser vom Kampf zwischen Royalisten und Kommunisten, der auch die Bürger Varitsis entzweit, arbeitet sich von Obristenputsch und Militärdiktatur über den studentischen Aufstand im Athener Polytechnikum im Jahr 1975 bis zur gegenwärtigen Krise Griechenlands vor. Während des Schreibprozesses, rekapituliert sie etwas ungeschickt in einem Interview, habe sie stets befürchtet, dass vor Abschluss ihres Romans "das alles wieder passé" sei und es in Griechenland wieder aufwärtsgehe.
Die Ausschmückung mit historischen Ereignissen erweist sich bei belletristischen Werken traditionsgemäß als Bestseller- oder Literaturpreisgarantie; eine konkrete, streitbare Haltung jedoch nimmt Kaiser nicht ein. "Makarionissi" schneidet ernste Themen an, nur um sie kurz darauf im Klamauk oder hinter Scheuklappen verschwinden zu lassen: Differenzen politischer Gegner werden mit Hilfe eines schunkeligen Tanzabends ausgeräumt, und Sympathieträger Lefti betont im Laufe des Romans immer wieder, dass Politik nur Feindseligkeiten bedeute und daher zu vermeiden sei. Der Roman setzt den Rückzug ins Private mit Heldentum gleich und macht kompensatorisch den stagnationsgeprägten Alltag zum Märchen: Während in "Blasmusikpop" Johannes Irrweins im Herodotschen Gestus verfasste Dorfchronik eine zweite Erzählebene konstituierte, sind es in "Makarionissi" wiedererzählte Mythen, eingeführt von Sätzen wie: "Ordne folgenden Mythos in den Kosmos der bereits gelernten Mythen ein." So verkommt der politische Hintergrund schnell zum inhaltsarmen Relevanzmarker und wird von zwischenmenschlichen Konflikten überstrahlt.
In ihren engmaschig aufgefädelten bösen Omen und humoristischen Einschüben (ein Betrunkener radelt frontal in einen Esel; eine Jungfrau hält den Penis ihres Mannes für einen dämonisch verlängerten Darm) scheint Kaisers Vorbild John Irving mit seinen skurrilitätsdurchsetzten Handlungskonstruktionen auf; während bei Irving jedoch niedliche Zuckrigkeiten nur die Brutalität des Lebens abmildern sollen, steht bei Kaiser die beschauliche Putzigkeit ganz im Vordergrund und mündet im literarischen Schlager.
Die Sechsundzwanzigjährige schickt sich an, die Helene Fischer der Literatur zu werden, eine Autorin für die ganze Familie, die im österreichischen Küchenradio Mama Juttas Heringssalat zubereitet, in Frauenzeitschriften den Wert des Glücks betont und auf ihrer Facebook-Fanpage unermüdlich ihre liebevolle Aufnahme in Kleinstädten lobt, kurz: die zahllose Leser für sich einnimmt, die sich vom hundertsten Berlin-Roman nicht gesehen fühlen.
DANA BUCHZIK
Vea Kaiser: "Makarionissi oder Die Insel der Seligen". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 464 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weibliches Schutzbedürfnis: In ihrem neuen Roman erweist sich Vea Kaiser als Autorin für die ganze Familie
Während im Jahr 2012 die literaturbetrieblichen Reaktionen auf Vea Kaisers Debütroman zwischen Entsetzen (Sigrid Löffler) und Euphorie (Denis Scheck) schillerten, orchestrierten die Freudenstürme von Bloggern, Buchhändlern und Frauenzeitschriften eine 160 Stationen umfassende Lesereise und rekordverdächtige Umsätze: "Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam" wurde 90 000 Mal verkauft. Knapp drei Jahre später erscheint nun "Makarionissi oder Die Insel der Seligen" und spielt das bewährte Erfolgsrezept wieder aus: opulenter Titel, opulentes Cover, eine Handlung, die in den fünfziger Jahren einsetzt und in die Gegenwart mündet, und eine jugendliche Hauptfigur, die mit ihrem heimischen Bergdorf hadert.
Das fiktive Bergdorf in Kaisers Erstling hieß St. Peter am Anger und trug unverkennbar österreichische Züge; sein Nachfolger heißt Varitsi und liegt nahe der albanisch-griechischen Grenze. Die kleine Eleni ist schon vor ihrer Geburt ihrem Cousin Lefti versprochen worden, damit das Familienerbe gesichert werden kann. Dass die Achtjährige jedoch nicht heiraten, sondern lieber als alleinstehende Heldin durch die Welt ziehen und Bestien bekämpfen will, nimmt man ihr übel: In Varitsi sind eigenständige Entscheidungen nicht gern gesehen.
Wie schon in Kaisers Debütroman werden auch in "Makarionissi" verstockten Dorfbewohnern Herzen aus Gold angedichtet, leuchtend gute Absichten, die aufwiegen sollen, dass Kinder geschlagen und letztlich entmündigt werden. Kaiser lässt ihre Protagonistin zwar rebellieren, präsentiert diese Auflehnung aber letztlich als zu überwindende Charakterschwäche. Auf die Idee, dass sie eine Heldin sei, hat sie ohnehin erst Cousin Lefti gebracht; die Vorstellung, dass sie Rechte habe und Frauen nicht weniger wert seien als Männer, flüstern ihr kommunistische Freunde ein - da kann es kaum verwundern, dass Elenis Emanzipationsversuche sich in lautstarken Beschimpfungen etwaiger "faschistischer Schweine" und im Werfen überreifer Tomaten erschöpfen.
Da Kommunismus in Varitsi als ähnlich unangenehm und ansteckend wie Tuberkulose gilt, lässt Kaiser ihre Protagonistin kurzerhand verhaften und straft sie mit einem niederschmetternden Szenario ab: Nach ein paar Tagen Gefängnis sind Elenis Locken "keine lustigen Spiralen mehr". Der zornige Generalinspektor brummt Eleni zudem eine Heirat als Bewährungsstrafenäquivalent auf; entgegen aller Überzeugung gibt sie Lefti das Jawort und zieht mit ihm nach Deutschland, ins verschlafene Hildesheim der siebziger Jahre, welches dem heutigen betrüblich ähnlich sieht: vergebliche Bemühungen, mit Hilfe eines Betongroßaufgebots nach Großstadt auszusehen, grimmig-verbohrte Einwohner und Busse, die so selten fahren, dass man lieber gleich zu Fuß geht.
Ausgerechnet in Hildesheim finden Eleni und Lefti ihr Glück: Eleni verliebt sich in den Sänger Otto, Lefti bändelt mit Deutschlehrerin Trudi an. Bis zum Happy End wird es allerdings noch diverse Geburten, Hochzeiten und Todesfälle in St. Pölten und Chicago sowie auf Makarionissi brauchen - doch all diese Schauplätze nehmen sich letztlich nur wie Varianten des Bergdorfs Varitsi aus; die Handlung erschöpft sich in immer wiederkehrenden Beziehungskonstellationen und -motiven, die auch nach der x-ten Wiederholung noch akribisch auserklärt werden. Dieser Roman will einfach nicht aufhören, obwohl schon auf halber Strecke alles gesagt und verstanden ist: Eleni ist bockig und muss gezähmt werden. Lefti hat ein gutes Herz. Ein "echter Mann" muss dominieren, darf fremdgehender "Schlingel" und "um die Mitte des Leibes überaus gut gebaut" sein. Eine "echte Frau" ist schutzbedürftig und achtet auf ihre Linie, lächelt zart und schüchtern, statt beim Lachen den Mund aufzureißen, "als wäre sie beim Zahnarzt".
Kaiser reproduziert in ihren Büchern veraltete Geschlechtskonzepte und erschafft Heimeligkeitsszenarien wie Johanna Spyri. Während ihr Debütroman ganz literarischer Heimatfilm war, dessen Protagonist Herodot predigte und sich gleichzeitig von der Wirklichkeit außerhalb seines Dorfes abwandte, widmet sich der neue, wenngleich maximal wattiert, einem politisch relevanten Thema: Am Beispiel des fiktiven griechischen Bergdorfs erzählt Vea Kaiser vom Kampf zwischen Royalisten und Kommunisten, der auch die Bürger Varitsis entzweit, arbeitet sich von Obristenputsch und Militärdiktatur über den studentischen Aufstand im Athener Polytechnikum im Jahr 1975 bis zur gegenwärtigen Krise Griechenlands vor. Während des Schreibprozesses, rekapituliert sie etwas ungeschickt in einem Interview, habe sie stets befürchtet, dass vor Abschluss ihres Romans "das alles wieder passé" sei und es in Griechenland wieder aufwärtsgehe.
Die Ausschmückung mit historischen Ereignissen erweist sich bei belletristischen Werken traditionsgemäß als Bestseller- oder Literaturpreisgarantie; eine konkrete, streitbare Haltung jedoch nimmt Kaiser nicht ein. "Makarionissi" schneidet ernste Themen an, nur um sie kurz darauf im Klamauk oder hinter Scheuklappen verschwinden zu lassen: Differenzen politischer Gegner werden mit Hilfe eines schunkeligen Tanzabends ausgeräumt, und Sympathieträger Lefti betont im Laufe des Romans immer wieder, dass Politik nur Feindseligkeiten bedeute und daher zu vermeiden sei. Der Roman setzt den Rückzug ins Private mit Heldentum gleich und macht kompensatorisch den stagnationsgeprägten Alltag zum Märchen: Während in "Blasmusikpop" Johannes Irrweins im Herodotschen Gestus verfasste Dorfchronik eine zweite Erzählebene konstituierte, sind es in "Makarionissi" wiedererzählte Mythen, eingeführt von Sätzen wie: "Ordne folgenden Mythos in den Kosmos der bereits gelernten Mythen ein." So verkommt der politische Hintergrund schnell zum inhaltsarmen Relevanzmarker und wird von zwischenmenschlichen Konflikten überstrahlt.
In ihren engmaschig aufgefädelten bösen Omen und humoristischen Einschüben (ein Betrunkener radelt frontal in einen Esel; eine Jungfrau hält den Penis ihres Mannes für einen dämonisch verlängerten Darm) scheint Kaisers Vorbild John Irving mit seinen skurrilitätsdurchsetzten Handlungskonstruktionen auf; während bei Irving jedoch niedliche Zuckrigkeiten nur die Brutalität des Lebens abmildern sollen, steht bei Kaiser die beschauliche Putzigkeit ganz im Vordergrund und mündet im literarischen Schlager.
Die Sechsundzwanzigjährige schickt sich an, die Helene Fischer der Literatur zu werden, eine Autorin für die ganze Familie, die im österreichischen Küchenradio Mama Juttas Heringssalat zubereitet, in Frauenzeitschriften den Wert des Glücks betont und auf ihrer Facebook-Fanpage unermüdlich ihre liebevolle Aufnahme in Kleinstädten lobt, kurz: die zahllose Leser für sich einnimmt, die sich vom hundertsten Berlin-Roman nicht gesehen fühlen.
DANA BUCHZIK
Vea Kaiser: "Makarionissi oder Die Insel der Seligen". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 464 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.08.2015Buttercremeprosa
Vea Kaiser romantisiert ihre griechische Familie
Zunächst einmal, vor der Lektüre, alles abschütteln: Die Interviews, die die Österreicherin Vea Kaiser im Zusammenhang mit der Veröffentlichung ihres zweiten Romans gegeben hat; die Sätze über die alten Menschen, allen voran Peter Handke, die besser nicht mehr schreiben sollten; die komplizierten Überlegungen, ob es vorteilhafter wäre, sich für ein Zeitschriftencover auf eine Kuh zu setzen oder besser nur an eine Kuh zu lehnen; kurz: all das Außerliterarische, das Vea Kaiser seit dem Erscheinen ihres Debütromans „Blasmusikpop“ 2012 (mehr als 100 000 verkaufte Exemplare) bewusst um sich herum angelagert und das ihr das Image eines Altphilologie studierenden Stadl-Popstars verschafft hat – dieses Begleitrauschen müsste erst einmal ausgeblendet werden.
Das wiederum ist aber gar nicht so einfach, weil auch der zweite, erneut knapp 500 Seiten starke Roman sich von Beginn an in derart ambitionierte Höhen wagt, dass der Absturz nahezu programmiert ist. Man kann das naiv nennen oder auch anmaßend. „Makarionissi“ ist nicht in Kapitel gegliedert, sondern in Gesänge. In formaler Anlehnung und mit aufdringlichen, weil allzu expliziten Querverweisen auf antike Heldendramen erzählt Vea Kaiser eine weitverzweigte griechische Familiengeschichte von den Fünfzigerjahren bis in die unmittelbare Gegenwart. Und es gibt selbstverständlich eine echte Heldin: Eleni Stefanidis, geboren in einem Bergdorf an der griechisch-albanischen Grenze. In und an Eleni exerziert Vea Kaiser die Zeitläufte, die historischen Wandlungen und politischen Friktionen: Bürgerkrieg und Militärjunta, Patriarchat und Emanzipationsbewegungen, familiäre Unterordnung gegen nicht zu bremsenden Freiheitsdrang.
Um dem Dorf zu entkommen, heiratet Eleni ihren wackeren, pflichtbewussten Cousin Lefti. Gemeinsam gehen die beiden nach Hildesheim (wo die Autorin Vea Kaiser Kreatives Schreiben studiert hat) und führen eine unfrohe Gastarbeiter-Existenz. Schon hier kommen einem die Stereotypen geradezu schreiend entgegen: Klar, Deutschland ist dumpf, kalt, bevölkert von fantasielosen Neinsagern; ein Land, in dem die temperamentvolle, selbstbewusste und selbstverständlich wunderschöne Griechin (die in ihren Wutanfällen permanent Dinge um sich werfen muss) nicht zurechtkommen kann. Eleni verliebt sich in einen Hippie-Musiker, Lefti in seine Sprachlehrerin; die beiden gehen getrennte und weitverzweigte Wege. Die schwangere Eleni verschlägt es zunächst zurück in ihr Heimatdorf, dann nach Chicago und schließlich auf die Insel Makarionissi, wo sie mit ihrem zweiten und wesentlich älteren Mann ein Hotel eröffnet. Lefti geht ebenfalls in die Gastronomie und führt gemeinsam mit seiner neuen Frau in St. Pölten ein Restaurant.
Es wird gehasst und geliebt, gefoltert und gestritten; viele Kinder werden geboren; Brüder, Schwestern oder Ehemänner sterben; Söhne werden verstoßen; Töchter stürzen sich ins Unglück. Das Schicksal, so die Erkenntnis, lässt sich ebenso wenig bändigen wie Elenis Lockenpracht oder ihr störrisches Wesen, das sie von ihrer Großmutter geerbt hat – von wem auch sonst? Dies alles wird erstaunlich konventionell, nämlich streng chronologisch, aber mit einem Höchstmaß an Souveränität erzählt. Technische Probleme oder Selbstzweifel scheint Vea Kaiser nicht zu kennen. Vielmehr installiert sie eine gottgleiche Erzählinstanz, die in der Lage ist, die Dinge in jedem Augenblick nicht nur genau so zu richten, wie sie geschehen sollen, sondern vor allem so, wie wir sie erwarten, selbst wenn es sich um das eigentlich Unerwartbare handelt.
Das ist ein erzählerischer Kniff, der für gewisse Effekte sorgt, sich aber auch bald abnutzt. Ein Beispiel: Da sitzen Eleni und Spiros, ihr Vater, bei Vollmond auf einer Bank vor dem Haus. Spiros kündigt Eleni eine dramatische Geschichte an. Ein Wolf heult. Aber das genügt nicht: „Als ob der einzige Wolf, der weit entfernt von Varitsi den Winter in den Bergen verbrachte, bereits wüsste, welche Geschichte folgte, heulte er in diesem Moment auf.“ „Makarionissi“ ist nicht zuletzt deshalb ein so umfangreicher Roman, weil vieles von dem, was man bereits ahnt oder weiß, noch einmal ausgesprochen werden muss, und auch vor Sätzen wie „Essen war ein Stück Heimat“ oder „Die Schokolade-Nuss-Kreation war die reine Sünde“ wird keineswegs zurückgescheut.
„Makarionissi“ lässt sich ungeheuer gut und widerstandslos lesen, jederzeit, in jeder Passage. Das ist die eigentliche Tragödie. Denn darüber gerät schnell in Vergessenheit, dass es grundsätzlich harter Stoff ist, den Vea Kaiser sich vorgenommen hat, die großen Themen des 20. Jahrhunderts: Krieg, Heimatlosigkeit, Migration, Identitätsverlust, gespiegelt in individuellen Lebensläufen. Für all das hat Vea Kaiser nur einen einzigen, märchengleichen Tonfall. Die Brüche werden zugekleistert mit Buttercremeprosa, mit einem Gute-Laune-Stil, der vor allem eines ausstrahlt: Begeisterung für die eigene Virtuosität. Man lese als Gegengift zur Überdosis an Gefälligkeit Aris Fioretos’ Roman „Der letzte Grieche“ (2011), um den Unterschied zu spüren zwischen Durchdrungenem und nur flott Gemachtem.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Vea Kaiser: Makarionissi oder Die Insel der Seligen. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 464 Seiten, 19,99 Euro, E-Book 17,99 Euro.
Das Schicksal lässt sich so wenig
bändigen wie die Lockenpracht
der störrischen Protagonistin
Vea Kaiser, geboren 1988, studiert Altgriechisch in Wien. „Makarionissi“ ist ihr zweiter Roman.
Foto: ingo pertramer
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Vea Kaiser romantisiert ihre griechische Familie
Zunächst einmal, vor der Lektüre, alles abschütteln: Die Interviews, die die Österreicherin Vea Kaiser im Zusammenhang mit der Veröffentlichung ihres zweiten Romans gegeben hat; die Sätze über die alten Menschen, allen voran Peter Handke, die besser nicht mehr schreiben sollten; die komplizierten Überlegungen, ob es vorteilhafter wäre, sich für ein Zeitschriftencover auf eine Kuh zu setzen oder besser nur an eine Kuh zu lehnen; kurz: all das Außerliterarische, das Vea Kaiser seit dem Erscheinen ihres Debütromans „Blasmusikpop“ 2012 (mehr als 100 000 verkaufte Exemplare) bewusst um sich herum angelagert und das ihr das Image eines Altphilologie studierenden Stadl-Popstars verschafft hat – dieses Begleitrauschen müsste erst einmal ausgeblendet werden.
Das wiederum ist aber gar nicht so einfach, weil auch der zweite, erneut knapp 500 Seiten starke Roman sich von Beginn an in derart ambitionierte Höhen wagt, dass der Absturz nahezu programmiert ist. Man kann das naiv nennen oder auch anmaßend. „Makarionissi“ ist nicht in Kapitel gegliedert, sondern in Gesänge. In formaler Anlehnung und mit aufdringlichen, weil allzu expliziten Querverweisen auf antike Heldendramen erzählt Vea Kaiser eine weitverzweigte griechische Familiengeschichte von den Fünfzigerjahren bis in die unmittelbare Gegenwart. Und es gibt selbstverständlich eine echte Heldin: Eleni Stefanidis, geboren in einem Bergdorf an der griechisch-albanischen Grenze. In und an Eleni exerziert Vea Kaiser die Zeitläufte, die historischen Wandlungen und politischen Friktionen: Bürgerkrieg und Militärjunta, Patriarchat und Emanzipationsbewegungen, familiäre Unterordnung gegen nicht zu bremsenden Freiheitsdrang.
Um dem Dorf zu entkommen, heiratet Eleni ihren wackeren, pflichtbewussten Cousin Lefti. Gemeinsam gehen die beiden nach Hildesheim (wo die Autorin Vea Kaiser Kreatives Schreiben studiert hat) und führen eine unfrohe Gastarbeiter-Existenz. Schon hier kommen einem die Stereotypen geradezu schreiend entgegen: Klar, Deutschland ist dumpf, kalt, bevölkert von fantasielosen Neinsagern; ein Land, in dem die temperamentvolle, selbstbewusste und selbstverständlich wunderschöne Griechin (die in ihren Wutanfällen permanent Dinge um sich werfen muss) nicht zurechtkommen kann. Eleni verliebt sich in einen Hippie-Musiker, Lefti in seine Sprachlehrerin; die beiden gehen getrennte und weitverzweigte Wege. Die schwangere Eleni verschlägt es zunächst zurück in ihr Heimatdorf, dann nach Chicago und schließlich auf die Insel Makarionissi, wo sie mit ihrem zweiten und wesentlich älteren Mann ein Hotel eröffnet. Lefti geht ebenfalls in die Gastronomie und führt gemeinsam mit seiner neuen Frau in St. Pölten ein Restaurant.
Es wird gehasst und geliebt, gefoltert und gestritten; viele Kinder werden geboren; Brüder, Schwestern oder Ehemänner sterben; Söhne werden verstoßen; Töchter stürzen sich ins Unglück. Das Schicksal, so die Erkenntnis, lässt sich ebenso wenig bändigen wie Elenis Lockenpracht oder ihr störrisches Wesen, das sie von ihrer Großmutter geerbt hat – von wem auch sonst? Dies alles wird erstaunlich konventionell, nämlich streng chronologisch, aber mit einem Höchstmaß an Souveränität erzählt. Technische Probleme oder Selbstzweifel scheint Vea Kaiser nicht zu kennen. Vielmehr installiert sie eine gottgleiche Erzählinstanz, die in der Lage ist, die Dinge in jedem Augenblick nicht nur genau so zu richten, wie sie geschehen sollen, sondern vor allem so, wie wir sie erwarten, selbst wenn es sich um das eigentlich Unerwartbare handelt.
Das ist ein erzählerischer Kniff, der für gewisse Effekte sorgt, sich aber auch bald abnutzt. Ein Beispiel: Da sitzen Eleni und Spiros, ihr Vater, bei Vollmond auf einer Bank vor dem Haus. Spiros kündigt Eleni eine dramatische Geschichte an. Ein Wolf heult. Aber das genügt nicht: „Als ob der einzige Wolf, der weit entfernt von Varitsi den Winter in den Bergen verbrachte, bereits wüsste, welche Geschichte folgte, heulte er in diesem Moment auf.“ „Makarionissi“ ist nicht zuletzt deshalb ein so umfangreicher Roman, weil vieles von dem, was man bereits ahnt oder weiß, noch einmal ausgesprochen werden muss, und auch vor Sätzen wie „Essen war ein Stück Heimat“ oder „Die Schokolade-Nuss-Kreation war die reine Sünde“ wird keineswegs zurückgescheut.
„Makarionissi“ lässt sich ungeheuer gut und widerstandslos lesen, jederzeit, in jeder Passage. Das ist die eigentliche Tragödie. Denn darüber gerät schnell in Vergessenheit, dass es grundsätzlich harter Stoff ist, den Vea Kaiser sich vorgenommen hat, die großen Themen des 20. Jahrhunderts: Krieg, Heimatlosigkeit, Migration, Identitätsverlust, gespiegelt in individuellen Lebensläufen. Für all das hat Vea Kaiser nur einen einzigen, märchengleichen Tonfall. Die Brüche werden zugekleistert mit Buttercremeprosa, mit einem Gute-Laune-Stil, der vor allem eines ausstrahlt: Begeisterung für die eigene Virtuosität. Man lese als Gegengift zur Überdosis an Gefälligkeit Aris Fioretos’ Roman „Der letzte Grieche“ (2011), um den Unterschied zu spüren zwischen Durchdrungenem und nur flott Gemachtem.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Vea Kaiser: Makarionissi oder Die Insel der Seligen. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 464 Seiten, 19,99 Euro, E-Book 17,99 Euro.
Das Schicksal lässt sich so wenig
bändigen wie die Lockenpracht
der störrischen Protagonistin
Vea Kaiser, geboren 1988, studiert Altgriechisch in Wien. „Makarionissi“ ist ihr zweiter Roman.
Foto: ingo pertramer
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»Da ist Vea Kaiser ganz nah bei den Wahrheiten der alten Mythen.« Die Rheinpfalz 20151023