Noch nie war es einfacher, etwas über Sex zu erfahren. Das Internet, Fernsehen, Magazine - überall wimmelt es von Pornografie und Erotik. Das heißt aber nicht, dass Jugendliche heute besser informiert sind als früher - ganz im Gegenteil. Wer heute heranwächst, hat es vor allem mit irreführenden Idealen und falscher Perfektion zu tun. Was wirklich wichtig ist - Intimität, Liebe, Kommunikation -, hat keinen Platz in den modernen Medien. Es ist deswegen höchste Zeit für ein neues Aufklärungsbuch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.2012Wie man es tun könnte
Ein Aufklärungsbuch für Jugendliche gibt sich cool
Spätestens seit der zweitgrößte deutsche Buchhändler, die katholische Verlagsgruppe Weltbild, den Verkauf des Aufklärungsbuchs "Make Love" verweigert, umgibt ein Hauch von Verwegenheit diese Neuerscheinung. Kritisiert werden Passagen zur Abtreibung. Für Anstoß sorgen außerdem der leichte Ton und die künstlerisch eindrucksvollen, aber freizügigen Illustrationen des Buchs. Die Autorinnen hätten sich "gründlich in der Generation vergriffen", meint ausgerechnet in der Berliner Tageszeitung "taz" eine Rezensentin, die dem Buch pädagogische Aufdringlichkeit vorwirft und als Alternative ihre eigenen Arbeiten - Elternratgeber - zur Pubertät zitiert. Die pädagogische und in der Sache etwas eigenartige Empfehlung lautet, "die Jugend" habe ein Recht auf "altersgemäße Fehler". Soll also eine Art Nichteinmischungsgebot gelten, welches Aufklärung als Erwachsenenprojekt abqualifiziert, um dann im Namen der Eltern auf das "altersgemäße" Selbstzurechtkommen in jugendlichen peer groups zu setzen?
Das klingt, als gehörte der Sex Jugendlicher in ein möglichst ungestörtes Kinderzimmer. Ein Kommentar der "taz" geht noch einen Schritt weiter. Er suggeriert, die Fotografien in "Make Love" bedienten pädophile Interessen - angesichts der Bilder, die durchweg junge Erwachsene zeigen, ein erstaunlicher Verdacht, der wohl vor allem ein Stück "taz"-eigene Vergangenheit überkompensiert: Das Blatt arbeitet sich seit einiger Zeit ab an den eigenen pro-pädophilen Toleranzpostulaten der siebziger Jahre.
Zunächst und hauptsächlich wird das Buch allerdings gelobt - als "cool" und "unpeinlich" in der Sprache und als überfällig angesichts der Dominanz visueller Medien, denen Jugendliche heute ihr Wissen über Liebe und Sex entnehmen. Tatsächlich versteht sich "Make Love" ausdrücklich als Korrektiv pornographischer Filmbilder. Missverständnisse vom Rein-raus-zack-zack ("in der Realität funktioniert das nicht so") bis hin zu "Pornolügen" über Busengrößen und Spermamenge werden aufs Korn genommen. Eine erlebensnahe Beschreibungsperspektive konterkariert den Blick von außen und auch die Erwartung der Perfektion. Allerlei mag einem durch den Kopf gehen, kann überraschen oder auch schiefgehen. Aber Sex ist lernbar - das ist eine zentrale Botschaft. Und: Das sexuelle Universum lohnt die Erkundung. Ein Muss ist dabei allerdings nichts. Im Mittelpunkt der Erkundungen in Sachen "ob" und "wie" steht daher die Aufgabe, herauszufinden, was man mag und was nicht: In diesem lockeren Angebots-Duktus sind die Einleitung und die Textteile der insgesamt sieben Kapitel zu etwa einem Drittel der Körperkunde gewidmet und zu zwei Dritteln Fragen danach, wie man "es" macht, einschließlich Beziehungsfragen und Drumherum-Informationen: Alkohol und Drogen, Verhütung, Krankheiten, Körperschmuck und Sexspielzeuge.
Die Bilder der Fotografin Heji Shin setzen auf eine Bildästhetik, die auf pornographische Massenware anspielt, aber ebenfalls die Alternative sucht. Shin hat junge Paare beim Liebesspiel aufgenommen und die Szenen durch einfühlsame Einzelporträts ergänzt: Menschen mit Körpern und Gesichtern. Weggelassen ist nichts, von Zungenküssen über phantasiereiche Umschlingungen bis zum erigierten Glied, jedoch zeugen alle Bilder von einem zärtlichen Respekt für Liebesszenen, wie ihn schon handelsübliche Fernsehprogramme selten aufbringen.
Information im engeren Sinn gibt es aber auch. Hier bietet das Buch ein Element, das gesondert gelobt werden muss. In zwanzig hervorragend gemachten und gewitzt gestalteten Infographiken erstreckt sich der Aufklärungsanspruch ins Soziologische hinein. Da finden sich übersichtliche Darstellungen nicht nur zu Erfolgsquoten von Verhütungsmethoden, sondern auch Forschungsergebnisse zu Fragen wie "Mit wem redet man über Sex?", zur schichtspezifischen Verbreitung von Tattoos und Piercing, zu Gründen für die Entfernung von Körperhaaren, zum Verhütungsverhalten mit zunehmender sexueller Erfahrung oder zur Frage "Welche Schulen besuchen Mütter unter 18 Jahren - und die Väter?". Denkanreize jenseits der bekanntermaßen heiklen Worte oder Bilder. Betrachtet man "Make Love" als das, was es in jedem Fall ist, ein gut gemachtes Sachbuch, so findet sich womöglich gerade in diesen Elementen seine besondere Qualität.
PETRA GEHRING
Ann-Marlene Henning und Tina Bremer-Olszewski: "Make Love". Ein Aufklärungsbuch.
Mit Fotografien von Heji Shin. Rogner & Bernhard Verlag, Berlin 2012. 256 S., br., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Aufklärungsbuch für Jugendliche gibt sich cool
Spätestens seit der zweitgrößte deutsche Buchhändler, die katholische Verlagsgruppe Weltbild, den Verkauf des Aufklärungsbuchs "Make Love" verweigert, umgibt ein Hauch von Verwegenheit diese Neuerscheinung. Kritisiert werden Passagen zur Abtreibung. Für Anstoß sorgen außerdem der leichte Ton und die künstlerisch eindrucksvollen, aber freizügigen Illustrationen des Buchs. Die Autorinnen hätten sich "gründlich in der Generation vergriffen", meint ausgerechnet in der Berliner Tageszeitung "taz" eine Rezensentin, die dem Buch pädagogische Aufdringlichkeit vorwirft und als Alternative ihre eigenen Arbeiten - Elternratgeber - zur Pubertät zitiert. Die pädagogische und in der Sache etwas eigenartige Empfehlung lautet, "die Jugend" habe ein Recht auf "altersgemäße Fehler". Soll also eine Art Nichteinmischungsgebot gelten, welches Aufklärung als Erwachsenenprojekt abqualifiziert, um dann im Namen der Eltern auf das "altersgemäße" Selbstzurechtkommen in jugendlichen peer groups zu setzen?
Das klingt, als gehörte der Sex Jugendlicher in ein möglichst ungestörtes Kinderzimmer. Ein Kommentar der "taz" geht noch einen Schritt weiter. Er suggeriert, die Fotografien in "Make Love" bedienten pädophile Interessen - angesichts der Bilder, die durchweg junge Erwachsene zeigen, ein erstaunlicher Verdacht, der wohl vor allem ein Stück "taz"-eigene Vergangenheit überkompensiert: Das Blatt arbeitet sich seit einiger Zeit ab an den eigenen pro-pädophilen Toleranzpostulaten der siebziger Jahre.
Zunächst und hauptsächlich wird das Buch allerdings gelobt - als "cool" und "unpeinlich" in der Sprache und als überfällig angesichts der Dominanz visueller Medien, denen Jugendliche heute ihr Wissen über Liebe und Sex entnehmen. Tatsächlich versteht sich "Make Love" ausdrücklich als Korrektiv pornographischer Filmbilder. Missverständnisse vom Rein-raus-zack-zack ("in der Realität funktioniert das nicht so") bis hin zu "Pornolügen" über Busengrößen und Spermamenge werden aufs Korn genommen. Eine erlebensnahe Beschreibungsperspektive konterkariert den Blick von außen und auch die Erwartung der Perfektion. Allerlei mag einem durch den Kopf gehen, kann überraschen oder auch schiefgehen. Aber Sex ist lernbar - das ist eine zentrale Botschaft. Und: Das sexuelle Universum lohnt die Erkundung. Ein Muss ist dabei allerdings nichts. Im Mittelpunkt der Erkundungen in Sachen "ob" und "wie" steht daher die Aufgabe, herauszufinden, was man mag und was nicht: In diesem lockeren Angebots-Duktus sind die Einleitung und die Textteile der insgesamt sieben Kapitel zu etwa einem Drittel der Körperkunde gewidmet und zu zwei Dritteln Fragen danach, wie man "es" macht, einschließlich Beziehungsfragen und Drumherum-Informationen: Alkohol und Drogen, Verhütung, Krankheiten, Körperschmuck und Sexspielzeuge.
Die Bilder der Fotografin Heji Shin setzen auf eine Bildästhetik, die auf pornographische Massenware anspielt, aber ebenfalls die Alternative sucht. Shin hat junge Paare beim Liebesspiel aufgenommen und die Szenen durch einfühlsame Einzelporträts ergänzt: Menschen mit Körpern und Gesichtern. Weggelassen ist nichts, von Zungenküssen über phantasiereiche Umschlingungen bis zum erigierten Glied, jedoch zeugen alle Bilder von einem zärtlichen Respekt für Liebesszenen, wie ihn schon handelsübliche Fernsehprogramme selten aufbringen.
Information im engeren Sinn gibt es aber auch. Hier bietet das Buch ein Element, das gesondert gelobt werden muss. In zwanzig hervorragend gemachten und gewitzt gestalteten Infographiken erstreckt sich der Aufklärungsanspruch ins Soziologische hinein. Da finden sich übersichtliche Darstellungen nicht nur zu Erfolgsquoten von Verhütungsmethoden, sondern auch Forschungsergebnisse zu Fragen wie "Mit wem redet man über Sex?", zur schichtspezifischen Verbreitung von Tattoos und Piercing, zu Gründen für die Entfernung von Körperhaaren, zum Verhütungsverhalten mit zunehmender sexueller Erfahrung oder zur Frage "Welche Schulen besuchen Mütter unter 18 Jahren - und die Väter?". Denkanreize jenseits der bekanntermaßen heiklen Worte oder Bilder. Betrachtet man "Make Love" als das, was es in jedem Fall ist, ein gut gemachtes Sachbuch, so findet sich womöglich gerade in diesen Elementen seine besondere Qualität.
PETRA GEHRING
Ann-Marlene Henning und Tina Bremer-Olszewski: "Make Love". Ein Aufklärungsbuch.
Mit Fotografien von Heji Shin. Rogner & Bernhard Verlag, Berlin 2012. 256 S., br., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Sehr gelungen findet Rezensentin Barbara Bollwahn dieses Aufklärungsbuch für Jugendliche von Ann-Marlene Henning und Tina Bremer-Olszewski. Sie lobt den Ton, in dem es geschrieben ist: offen, ohne falsche Scham, ohne Anbiederung und Belehrung. Die Autorinnen informieren und erklären für Bollwahn überzeugend die körperliche und emotionale Seite menschlicher Sexualität und rücken zudem etliche Klischee-Bilder über Sex, mit denen Jugendliche heute aufwachsen, zurecht. Das Fazit der Rezensentin: ein hilfreiches Buch bei der Suche nach Identität und sexueller Erfüllung - nicht nur für Jugendliche.
© Perlentaucher Medien GmbH
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