"Pentures" erscheint unter dem Titel "Malereien" in deutscher Erstausgabe. es sind darbietungen imaginärer Gemälde, "Malereien in Sprache", die aber doch alle chinesischen Motive und malerischen Gestaltungsformen durchlaufen. Die prosagedichtartigen Texte entziehen sich jeder literarischen Einordnung, spingen zwischen Textlichem und Bildlichem, zwischen zweidimensionaler Fläche und dreidimensionaler Tiefe des Raums hin und her. Verwirrende, verstörende Schauspiele, die bisweilen mit der Ambivalenz des Schauens selber spielen. Was uns im Bild in den Bann schlägt, wird in den hinreißenden "Magischen Malereien" thematisiert; der Mittelteil dieses Text-Triptichons wird von einer erotischen Parade von Völkerschaften bestritten und der Schlussteil, den "Dynastischen Malereien", öffnen sich die Abgründe chinesischer Geschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.2004Der erste Kaiser
Fenster in eine flüchtige Welt: Victor Segalens imaginäre Malereien
Rätselhaft wie sein Leben ist das Schicksal der Bücher Victor Segalens auf dem deutschen Markt. Anfang der achtziger Jahre erschienen mehrere schön aufgemachte Bände im Frankfurter Qumran Verlag und waren leider ebenso schnell vergessen, dann tauchte im Grazer Droschl Verlag vor einigen Jahren ein Buch auf, das wie eine Stele aussah und "Stelen" hieß. Auch dieses merkwürdige, mit chinesischen Schriftzeichen verzierte Werk löste sich alsbald in den Fluten der Bücherströme auf.
Ähnlich erratisch und dem Vergessen zustrebend war das Leben Segalens, der 1878 in Brest geboren wurde und als Marinearzt in die Südsee und nach China kam, dort zum Ethnologen, Archäologen und Schriftsteller wurde und bis an die Grenze von Tibet kam. 1919 jedoch wurde er in einem bretonischen Wald tot aufgefunden, neben ihm ein Exemplar des "Hamlet". Nun liegt wieder einmal ein schön gemachtes Buch von ihm in deutscher Sprache vor, übersetzt von Rainer G. Schmidt, der immer auch mit hilfreichen Anmerkungen aufwartet. "Malereien", das 1916 erstmals erschien, kann fast als Gegenprogramm zu "Stelen" von 1912 gelesen werden. Wo die letzteren Zeichen und Inschriften auf Steine setzen, werfen die "Malereien" Lasuren und Pigmente an transparente Wände, ja Wolken. Flüssige Schriften entstehen so, zwischen Zeichen und Bildern, durch die die Phantasmen und Namen der chinesischen Geschichte ziehen.
Während Segalen die Texte schrieb, konnte er sich keine Gattung für sie vorstellen; das einzige, was ihm einfiel, war "Marktschreierei" oder "Jahrmarktbühne". Der Gestus der Texte ist in der Tat der des Schaustellers, der Moritaten und Balladen entrollen läßt und mit großem Getöse Blutrünstiges und Geschichtsträchtiges ausschreit. Das Visuelle, das wir mit den Worten vor uns aufsteigen lassen, ist akustisch erhöht: Seht her! "Was ihr gleich sehen werdet, ist dagegen unwiderruflich die letzte der magischen Malereien." So ist auch die Geisterbahn nicht weit, der "Reigen der Unsterblichen", da gehen Dynastien unter und feiern sich in perversen Machtspielen, und schließlich gibt es Paraden, Auf- und Umzüge, in denen Trophäen und Tribute der unterworfenen Völker gefeiert werden. Auch aus weiter Ferne sind Gäste da, Japaner, die alles erlernen wollen, oder die rundköpfigen Kurzhaarigen mit den gewaltigen Nasen, die Römer. Menschen auch, die nichts anderes tun, als das Schriftzeichen für zehn zu kommentieren. Die chinesische Zehn gleicht einem Kreuz, und ihre Kommentatoren nennt man Missionare. Segalen imaginiert, mitten in kolonialen Zeiten, an diesen Kreuzungen der Kulturen ein sinozentrisches Weltbild. Doch bietet ihm die chauvinistisch-chinesische Karikatur der anderen die Möglichkeit, einen surrealistischen Karneval zu feiern.
Borges hat uns in einem seiner anmutigen Essays auf den Gelben Kaiser aufmerksam gemacht, Shi Huangdi, der die Bücher verbrennen und die Chinesische Mauer bauen ließ. Kein Zufall, daß auch Segalen sich von diesem Herrscher angezogen fühlte, der sich zum Ursprung erklärt, "zum Kaiser EINS". Er "knetet die Königreiche zu einem einzigen Brot". Er ist Begründer und Schlächter zugleich, zwei Funktionen, die sich bei Segalen ergänzen. Der Gelbe Kaiser leugnet alle Vorläufer und macht aus Büchern wie Lesern einen einzigen Scheiterhaufen. 1914 entdeckte Segalen den Tumulus seines Grabes nordöstlich von Xi'an und beschrieb die Lokalität in einem archäologischen Artikel. Der Hügel ist bis heute nicht geöffnet worden, doch Segalen stellt sich das Innere vor.
Er malt sich den jungen Kaiser aus, der mit dreizehn Jahren beginnt, sich ein Grabmal zu bauen, der größenwahnsinnig ist, Steine auspeitschen läßt. Segalen sieht auch "Tausende von Figürchen", eins neben dem anderen in drei Registern übereinander. Nicht weit vom Tumulus entfernt hat man 1974 die berühmten Terrakotta-Krieger entdeckt. Segalen übernahm historische Quellen aus einer französischen Sammlung von 1903, die in vielerlei Hinsicht kritisch zu betrachten ist. Aber darin sah er nicht seine Aufgabe. Die historischen Texte sind Sprungschanzen in eine weiße Welt der Imagination, die sich schnell mit Blut und Himmelsblau anfüllt und in deren leerem Zentrum immer wieder der Kaiser erscheint.
Als Segalen 1909 in China ankam, hatte er eine Gewißheit: Die alles überragende Gestalt seines ersten Buches über China würde der Kaiser sein. Die Revolution von 1911 sah er als eine "Gedankenpest", die eine der wundervollsten Fiktionen der Welt hinraffen würde, den Sohn des Himmels. Dieses flimmernde Kaiserbild ist mit langsamer, ständig überbelichtender Kamera aufgenommen, es flackert als Stimme über den Phonographen, es ist das andere des modernen Menschen, eine rimbaudsche Halluzination.
Segalens Denken kreiste immer wieder um den Begriff des Exotischen, in dem er jene Andersartigkeit suchte, jene Diversität, die der Moderne, dem Tourismus, der Demokratie, der Globalisierung zum Opfer fallen mußte. Er wurde kein Gold- oder Sklavenhändler in Äthiopien wie Rimbaud, aber er bewegte sich als Ethnologe und Schriftsteller in ähnlichen Randgebieten und wurde von der Profession genausowenig ernst genommen wie der Schriftsteller-Ethnologe Michel Leiris. Beide haben sich Zwischenbereiche zu eigen gemacht, in denen das Objektive und das Subjektive zu oszillieren beginnen.
Segalens Texte sind dennoch Teil zweier französischer Traditionen, der des Prosagedichtes und des des literarischen und philosophischen Orientalismus. Das Malen in Worten, die poetische Erfassung der Übergänge zwischen Bild und Sprache, das Erkunden imaginärer Räume stehen in einer Linie, die von Baudelaire und Rimbaud bis hin zu Henri Michaux, René Daumal und Roger Caillois' "Steinen" reicht. Zugleich konnten französischsprachige Autoren sich in einem orientalistischen Diskurs wiederfinden, der von großen Ethnologen und Philosophen wie Henri Maspéro, Marcel Granet oder Henry Corbin gespeist wurde, esoterische Ableger wie René Guenon eingeschlossen - eine Diskussionswelt, die hierzulande kaum denkbar wäre.
Segalen war zwar nie Mitglied solcher Zirkel, aber er verkörpert in einer Person diesen befruchtenden Dialog, in dem Europa auf eine aperspektivische Welt vorbereitet wird. Diese Welt besteht aus wechselnden Blickpunkten wie die Stellschirme eines Ming-Fürsten: "In diesem isometrischen Raum brauchen wir nicht zu fürchten, von den Vordergründen gebremst oder zerdrückt zu werden, und können, befreit von dem ,Blickpunkt', uns in voller Größe bis in die Fernen führen ..."
ELMAR SCHENKEL
Victor Segalen: "Malereien". Aus dem Französischen übertragen und herausgegeben von Rainer G. Schmidt. Gemini Verlag, Berlin 2003. 215 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fenster in eine flüchtige Welt: Victor Segalens imaginäre Malereien
Rätselhaft wie sein Leben ist das Schicksal der Bücher Victor Segalens auf dem deutschen Markt. Anfang der achtziger Jahre erschienen mehrere schön aufgemachte Bände im Frankfurter Qumran Verlag und waren leider ebenso schnell vergessen, dann tauchte im Grazer Droschl Verlag vor einigen Jahren ein Buch auf, das wie eine Stele aussah und "Stelen" hieß. Auch dieses merkwürdige, mit chinesischen Schriftzeichen verzierte Werk löste sich alsbald in den Fluten der Bücherströme auf.
Ähnlich erratisch und dem Vergessen zustrebend war das Leben Segalens, der 1878 in Brest geboren wurde und als Marinearzt in die Südsee und nach China kam, dort zum Ethnologen, Archäologen und Schriftsteller wurde und bis an die Grenze von Tibet kam. 1919 jedoch wurde er in einem bretonischen Wald tot aufgefunden, neben ihm ein Exemplar des "Hamlet". Nun liegt wieder einmal ein schön gemachtes Buch von ihm in deutscher Sprache vor, übersetzt von Rainer G. Schmidt, der immer auch mit hilfreichen Anmerkungen aufwartet. "Malereien", das 1916 erstmals erschien, kann fast als Gegenprogramm zu "Stelen" von 1912 gelesen werden. Wo die letzteren Zeichen und Inschriften auf Steine setzen, werfen die "Malereien" Lasuren und Pigmente an transparente Wände, ja Wolken. Flüssige Schriften entstehen so, zwischen Zeichen und Bildern, durch die die Phantasmen und Namen der chinesischen Geschichte ziehen.
Während Segalen die Texte schrieb, konnte er sich keine Gattung für sie vorstellen; das einzige, was ihm einfiel, war "Marktschreierei" oder "Jahrmarktbühne". Der Gestus der Texte ist in der Tat der des Schaustellers, der Moritaten und Balladen entrollen läßt und mit großem Getöse Blutrünstiges und Geschichtsträchtiges ausschreit. Das Visuelle, das wir mit den Worten vor uns aufsteigen lassen, ist akustisch erhöht: Seht her! "Was ihr gleich sehen werdet, ist dagegen unwiderruflich die letzte der magischen Malereien." So ist auch die Geisterbahn nicht weit, der "Reigen der Unsterblichen", da gehen Dynastien unter und feiern sich in perversen Machtspielen, und schließlich gibt es Paraden, Auf- und Umzüge, in denen Trophäen und Tribute der unterworfenen Völker gefeiert werden. Auch aus weiter Ferne sind Gäste da, Japaner, die alles erlernen wollen, oder die rundköpfigen Kurzhaarigen mit den gewaltigen Nasen, die Römer. Menschen auch, die nichts anderes tun, als das Schriftzeichen für zehn zu kommentieren. Die chinesische Zehn gleicht einem Kreuz, und ihre Kommentatoren nennt man Missionare. Segalen imaginiert, mitten in kolonialen Zeiten, an diesen Kreuzungen der Kulturen ein sinozentrisches Weltbild. Doch bietet ihm die chauvinistisch-chinesische Karikatur der anderen die Möglichkeit, einen surrealistischen Karneval zu feiern.
Borges hat uns in einem seiner anmutigen Essays auf den Gelben Kaiser aufmerksam gemacht, Shi Huangdi, der die Bücher verbrennen und die Chinesische Mauer bauen ließ. Kein Zufall, daß auch Segalen sich von diesem Herrscher angezogen fühlte, der sich zum Ursprung erklärt, "zum Kaiser EINS". Er "knetet die Königreiche zu einem einzigen Brot". Er ist Begründer und Schlächter zugleich, zwei Funktionen, die sich bei Segalen ergänzen. Der Gelbe Kaiser leugnet alle Vorläufer und macht aus Büchern wie Lesern einen einzigen Scheiterhaufen. 1914 entdeckte Segalen den Tumulus seines Grabes nordöstlich von Xi'an und beschrieb die Lokalität in einem archäologischen Artikel. Der Hügel ist bis heute nicht geöffnet worden, doch Segalen stellt sich das Innere vor.
Er malt sich den jungen Kaiser aus, der mit dreizehn Jahren beginnt, sich ein Grabmal zu bauen, der größenwahnsinnig ist, Steine auspeitschen läßt. Segalen sieht auch "Tausende von Figürchen", eins neben dem anderen in drei Registern übereinander. Nicht weit vom Tumulus entfernt hat man 1974 die berühmten Terrakotta-Krieger entdeckt. Segalen übernahm historische Quellen aus einer französischen Sammlung von 1903, die in vielerlei Hinsicht kritisch zu betrachten ist. Aber darin sah er nicht seine Aufgabe. Die historischen Texte sind Sprungschanzen in eine weiße Welt der Imagination, die sich schnell mit Blut und Himmelsblau anfüllt und in deren leerem Zentrum immer wieder der Kaiser erscheint.
Als Segalen 1909 in China ankam, hatte er eine Gewißheit: Die alles überragende Gestalt seines ersten Buches über China würde der Kaiser sein. Die Revolution von 1911 sah er als eine "Gedankenpest", die eine der wundervollsten Fiktionen der Welt hinraffen würde, den Sohn des Himmels. Dieses flimmernde Kaiserbild ist mit langsamer, ständig überbelichtender Kamera aufgenommen, es flackert als Stimme über den Phonographen, es ist das andere des modernen Menschen, eine rimbaudsche Halluzination.
Segalens Denken kreiste immer wieder um den Begriff des Exotischen, in dem er jene Andersartigkeit suchte, jene Diversität, die der Moderne, dem Tourismus, der Demokratie, der Globalisierung zum Opfer fallen mußte. Er wurde kein Gold- oder Sklavenhändler in Äthiopien wie Rimbaud, aber er bewegte sich als Ethnologe und Schriftsteller in ähnlichen Randgebieten und wurde von der Profession genausowenig ernst genommen wie der Schriftsteller-Ethnologe Michel Leiris. Beide haben sich Zwischenbereiche zu eigen gemacht, in denen das Objektive und das Subjektive zu oszillieren beginnen.
Segalens Texte sind dennoch Teil zweier französischer Traditionen, der des Prosagedichtes und des des literarischen und philosophischen Orientalismus. Das Malen in Worten, die poetische Erfassung der Übergänge zwischen Bild und Sprache, das Erkunden imaginärer Räume stehen in einer Linie, die von Baudelaire und Rimbaud bis hin zu Henri Michaux, René Daumal und Roger Caillois' "Steinen" reicht. Zugleich konnten französischsprachige Autoren sich in einem orientalistischen Diskurs wiederfinden, der von großen Ethnologen und Philosophen wie Henri Maspéro, Marcel Granet oder Henry Corbin gespeist wurde, esoterische Ableger wie René Guenon eingeschlossen - eine Diskussionswelt, die hierzulande kaum denkbar wäre.
Segalen war zwar nie Mitglied solcher Zirkel, aber er verkörpert in einer Person diesen befruchtenden Dialog, in dem Europa auf eine aperspektivische Welt vorbereitet wird. Diese Welt besteht aus wechselnden Blickpunkten wie die Stellschirme eines Ming-Fürsten: "In diesem isometrischen Raum brauchen wir nicht zu fürchten, von den Vordergründen gebremst oder zerdrückt zu werden, und können, befreit von dem ,Blickpunkt', uns in voller Größe bis in die Fernen führen ..."
ELMAR SCHENKEL
Victor Segalen: "Malereien". Aus dem Französischen übertragen und herausgegeben von Rainer G. Schmidt. Gemini Verlag, Berlin 2003. 215 S., geb., 23,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Victor Segalens 1916 unter dem Titel "Peintures" (Malereien) veröffentlichte Prosagedichte, die nun erstmals in deutscher Übersetzung erschienen sind, haben es dem "zin" zeichnenden Rezensenten offensichtlich angetan. Segalen, so der Rezensent, habe eigentlich vorgehabt, einen Essay über chinesische Malerei zu schreiben, habe es dann jedoch vorgezogen, "imaginäre" chinesische Bilder "aus Sprache" zu schaffen, anstatt reale zu beschreiben. Diese Volte sei natürlich nicht frei von Ironie, wie auch aus der Anrede an den Leser ersichtlich sei, in der ein als "Jahrmarktschreier" agierender Segalen das Publikum auffordere, die Ohren zu spitzen und bis zum Ende alles anzuschauen. Der Text entfalte eine "vielgestaltige Parade" chinesischer Bildrollen, die in "synästhetischer Verdoppelung" aus Wörtern Bilder mache, und die "chinesische Geschichte, Mythologie und Kunst" reflektiere, zugleich aber eine Vision der "Rückkehr auf den Grund des Selbst" darstelle. Wenn am Schluss der Zuschauer-Zuhörer-Leser verabschiedet wird, so der Rezensent, dann scheinen die "Malereien" vom Gesicht abzupellen wie eine Maske, und einen verstörten Leser zu hinterlassen, dem jemand "zu nahe getreten" ist. Das Fazit des Rezensenten: Ein wichtiges, nach hundert Jahren immer noch modernes Buch, das dank des mutigen Gemini Verlags dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht wurde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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