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Die Welt der russisch-jüdischen Familie aus Hamburg, um die es in Maxim Billers neuem Roman »Mama Odessa« geht, ist voller Geheimnisse, Verrat und Literatur. Wir lesen aber auch ein kluges, schönes und wahrhaftiges Buch über einen Sohn und eine Mutter, beide Schriftsteller, die sich lieben, wegen des Schreibens immer wieder verraten - und einander trotzdem nie verlieren.
Mit beeindruckender Leichtigkeit spannt Maxim Biller einen Bogen vom Odessa des Zweiten Weltkriegs über die spätstalinistische Zeit bis in die Gegenwart. Alles hängt bei der Familie Grinbaum miteinander zusammen: das
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Produktbeschreibung
Die Welt der russisch-jüdischen Familie aus Hamburg, um die es in Maxim Billers neuem Roman »Mama Odessa« geht, ist voller Geheimnisse, Verrat und Literatur. Wir lesen aber auch ein kluges, schönes und wahrhaftiges Buch über einen Sohn und eine Mutter, beide Schriftsteller, die sich lieben, wegen des Schreibens immer wieder verraten - und einander trotzdem nie verlieren.

Mit beeindruckender Leichtigkeit spannt Maxim Biller einen Bogen vom Odessa des Zweiten Weltkriegs über die spätstalinistische Zeit bis in die Gegenwart. Alles hängt bei der Familie Grinbaum miteinander zusammen: das Nazi-Massaker an den Juden von Odessa 1941, dem der Großvater wie durch ein Wunder entkommt, ein KGB-Giftanschlag, der dem Vater des Erzählers gilt und die Ehefrau trifft, die zionistischen Träumereien des Vaters, der am Ende mit seiner Familie im Hamburger Grindelviertel strandet, wo nichts mehr an die jüdische Vergangenheit des Stadtteils erinnert - und wo er aufhört seine Frau zu lieben, um sie wegen einer Deutschen zu verlassen. Dennoch scheint ständig ein schönes, helles Licht durch die Zeilen dieses oft tieftraurigen, außergewöhnlichen Buchs.

»Mama Odessa« ist ein literarisches Meisterstück von größter Präzision und poetischer Kraft, wie es auf Deutsch nur selten gelingt.
Autorenporträt
Maxim Biller , geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Von ihm sind bisher u.a. erschienen: der Roman »Die Tochter«, die Erzählbände »Wenn ich einmal reich und tot bin«, »Land der Väter und Verräter« und »Bernsteintage«. Sein Roman »Esra«, den die FAS als »kompromisslos modernes, in der Zeitgenossenschaft seiner Sprache radikales Buch« lobte, wurde gerichtlich verboten und ist deshalb zurzeit nicht lieferbar. Seine Bücher wurden in neunzehn Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen sein Memoir »Der gebrauchte Jude« (2009), die Novelle »Im Kopf von Bruno Schulz« (2013) sowie der Roman »Biografie« (2016), den die SZ sein »Opus Magnum« nannte, und »Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten« (2020). Sein Bestseller »Sechs Koffer« stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Zuletzt erschien sein Roman »Der falsche Gruß« (2021).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Äußerst angetan ist Rezensent Volker Weidermann von Maxim Billers Roman. Leicht verfremdet erzählt dieser die Lebensgeschichte von Rada Biller, der Mutter des Autors. Die war, lernen wir, selbst Schriftstellerin, hatte jedoch lange nicht die Möglichkeit, ihre Texte zu veröffentlichen. Weidermann nennt das Buch eine Liebesgeschichte, in der es auch darum gehe, wie der Sohn sich gegen eine feindliche Umwelt schützt, indem er seinen Hass kultiviert. Die Mutter im Buch freut sich laut Kritiker, dass der Sohn an ihrer statt zum Schriftsteller wird, findet aber auch, dass er ihr gelegentlich die Themen stiehlt, etwa wenn es um seinen Vater geht. Vielschichtig und ehrlich ist dieses Buch, lobt der Rezensent, im Blick auf die Mutter, die oft allein und einsam bleibe, und auf den Sohn, der lerne, seiner Umwelt gegenüber hart zu werden. Es ist dieses Wechselspiel von mütterlicher Prosa und Fortschreibungen des Sohnes im Leben, das Weidermann besonders für das Buch einnimmt.

© Perlentaucher Medien GmbH
»... ein leichtes, schweres Meisterwerk - und das gegenwärtig beste erste Kapitel der deutschen Literatur« Marlene Knobloch Süddeutsche Zeitung 20230816

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.2023

Die Mutter aller Geschichten

Diesmal hatte ich mir sogar noch weniger

ausgedacht als davor: Maxim Billers "Mama Odessa" ist die Reflexion eines traurigen

Emigrantenromans.

Ein rotes Sofa, auf dem erst Mutter und Vater sitzen, dann Mutter und Sohn und schließlich der Sohn allein: Dieses vergleichsweise simple, aber wirkungsvolle Motiv von Familienzusammengehörigkeit wie auch deren Auseinandergehen bringt das Thema von Maxim Billers neuem Roman Mama Odessa bereits auf den Punkt. Noch dazu handelt es sich um eine motivische Übernahme, denn das Sofa tauchte bereits im vorherigen Familienroman des Schriftstellers auf: In "Sechs Koffer" (2018) ruht sich der Vater des Erzählers nach der Arbeit auf dem Sofa im Arbeitszimmer aus, er liebt das Sofa. Die Mutter hingegen hat es von Anfang an gehasst, das gilt in "Sechs Koffer" genauso wie nun in "Mama Odessa".

Trotz dieser Analogie liegen auch einige Unterschiede zwischen den beiden Romanen. Während in "Sechs Koffer" die Fluchtgeschichte nach Prag und Hamburg als unmittelbar zurückliegende Erinnerung erzählt wird, liegt sie in "Mama Odessa" ferner, erklingt in den Figuren nur noch als Echo. In gewisser Weise wird der Herkunftsort Odessa für den Erzähler Mischa, seine Mutter und seinen Vater zum Sehnsuchtsort, unerreichbar, aber nach wie vor mit allem Gegenwärtigen verwoben. "Warum war keiner von uns Dreien jemals wieder nach Odessa gefahren, wenn es uns in Deutschland so wenig gefiel?": Darauf sucht Mischa im Erzählen eine Antwort. Neben der Herkunft handelt der Roman somit von einem weiteren Biller-Evergreen, dem - in den Worten des Literaturwissenschaftlers Kai Sina - "meist verkrampften, oft auch verlogenen, in jedem Fall aber komplizierten Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Deutschland".

Der Titel "Mama Odessa" spielt auf beide der zentralen Themen an: Zum einen ist das die bereits geschilderte Beziehung zur Herkunft aus Odessa, in der sich für den Erzähler eine Art Mutter aller Geschichten verbirgt, da sein Schreiben über die Familiengeschichte besonders um diesen Ort kreist. Und zum anderen geht es um die Beziehung Mischas zur eigenen Mutter Aljona Grinbaum, die seit ihrer Kindheit davon träumt, Schriftstellerin zu werden und schließlich im Alter von 68 Jahren ihren ersten Band mit Erzählungen veröffentlicht. Dabei hatte ihr Sohn ihre Erzählungen eher als Notlösung - aufgrund von "immer länger werdenden Telefongesprächen" - an seine Lektorin geschickt, um seiner Mutter über die Scheidung und die Einsamkeit im Alter hinwegzuhelfen: "Statt aber für ein paar Tage zu ihr zu fahren, sie ein bisschen zu trösten und ihre Hand zu streicheln, hatte ich bald eine bessere Idee, wie ich ihr helfen könnte, ohne für eine solche sinnlose Reise Zeit und Konzentration zu opfern."

Nun ist Aljona verstorben, und als Mischa in ihre Wohnung in der Bieberstraße in Hamburg einzieht, findet er in ihrem Arbeitszimmer unveröffentlichte Geschichten und an ihn adressierte Briefe, die seine Mutter nie abgeschickt hat. Mit dem Lesen dieser Dokumente erwachen im Erzähler alte Erinnerungen an die Mutter, den Vater, aber auch die kurze Kindheit in Odessa: den Hof in der Gogolskaja, in dem alle Erwachsenen der jüdischen Nachbarschaft zusammensaßen und redeten, aber auch die Verhöre, zu denen sein Vater teilweise tagelang festgehalten wurde. Dabei ist diese Retrospektive, egal ob die eigene oder die der Mutter, für Mischa mit Schmerz verbunden: "Würden noch mehr von diesen Erinnerungen zu mir zurückkommen, wenn ich über das lange Sterben meiner Mutter weiterschreiben würde? Ja, das glaube ich. Aber will ich das?"

Wie gewohnt erzählt Biller dabei eng an seiner eigenen Lebensrealität entlang, ein Verfahren, zu dem er sich unter anderem in seinen Essays stark selbst bekennt, und das seit dem inzwischen verbotenen Roman "Esra" nicht mehr nur literaturwissenschaftlich, sondern auch vor Gericht diskutiert wurde. Und auch im aktuellen Roman wird thematisiert, wie das Umfeld des Erzählers wütend darauf reagiert, selbst zu Literatur verarbeitet zu werden: "Diesmal hatte ich mir sogar noch weniger ausgedacht als davor, und dafür mochten mich die Leute noch lieber - aber mein Vater redete deswegen kaum noch ein Wort mit mir." Das Schreiben über die eigene Familie und das eigene Leben belastet dabei auch das Verhältnis zwischen Mischa und seiner Mutter; besonders da nun ausgehandelt werden muss, wer von beiden über welche Ereignisse der Familiengeschichte schreiben darf. Als der Erzähler eine Erinnerung der Mutter zum Thema einer seiner Geschichten macht, wirft sie ihm vor: "Das war mein Stoff, verstehst du? Du hast ihn mir geklaut. Du warst doch damals gar nicht dabei und du weißt auch nicht, wie es ist, so krank zu sein."

Dadurch liest sich "Mama Odessa" wie ein klassischer Biller - oder, in den Worten Mischas, wie ein weiterer "trauriger Emigrantenroman", in dessen rührender und zugleich bissiger Sprache die Verletztheit des Erzählers durchschimmert. Auch sein Gespür für das kurzweilige Erzählen stellt Biller abermals unter Beweis, denn jeder der insgesamt 34 Abschnitte ist in sich geschlossen, steht für sich allein. Meist durch einen alten Brief der Mutter oder ein anderes Relikt eingeleitet, taucht Mischa in die Vergangenheit ein und schließt mit einem Fazit oder einem Kommentar dazu. Erinnerung nach Erinnerung wird in dieser Weise ausgeführt; jede einzelne sticht wie eine feine Nadel. Von dem selbst zugefügten Schmerz verspricht sich der Erzähler vielleicht aber doch eine therapeutische Wirkung. EMILIA KRÖGER

Maxim Biller: "Mama Odessa". Roman.

Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 240 S., geb., 24,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.08.2023

Halbe Wahrheiten, feine Lügen
Maxim Biller widmet sich in seinem Roman seiner Mutter. Ihm gelingt ein
leichtes, schweres Meisterwerk – und das gegenwärtig beste erste Kapitel
Ziemlich früh im Roman sagt der Erzähler zu seiner Mutter schlüsselsatzreif: „Keine deiner Geschichten ist ausgedacht. Darum sind sie so gut.“ Was da allerdings nicht steht: Alles ist exakt so passiert, und die guten Geschichten sind die, die man selbst erlebt hat. Die interessantesten Geschichten aber sind die, die einem nicht passiert sind. Zumindest nicht so, wie man dachte. Oder weil man ein Leben lang gehofft hat, dass sie noch passieren, so lange, bis die Hoffnung in Reue umschlägt. Genau davon erzählt „Mama Odessa“. Von den verpassten Gelegenheiten, halben Wahrheiten, ganzen Lügen, von der Sehnsucht nach den Orten, an denen man eigentlich sein sollte, Israel statt Deutschland, München statt Berlin, Odessa statt Hamburg, und von der allergrößten Sehnsucht überhaupt, ewig und immer: der nach der Literatur.
Maxim Biller gehört zu den beständigsten und fleißigsten Schriftstellern Deutschlands. Seit mehr als zwei Jahrzehnten erschreibt er sich neben einer beachtlichen Zahl an Büchern eine beachtliche Zahl Feinde, opfert für klare Urteile langjährige Freundschaften, stampfte eine ganze Generation von Schriftstellern zur „Schlappschwanz-Literatur“, schimpft leidenschaftlich und mit gewisser Trefferquote auf die Deutschen, denkt stets laut, schnell, aufrecht und mit scharfen, aber präzisen Worten. Genau das verwendete einst Marcel Reich-Ranicki gegen ihn: Biller habe eine „journalistische, keine epische Begabung“, es fehlten die Zwischenräume in seinen Romanen, die Wörter zwischen den Zeilen.
„Mama Odessa“ liefert den Gegenbeweis. Vom Pamphletisten hört man kaum was in diesem – um mal typisch Biller’sche Gegensatz-Adjektive zu gebrauchen – leichten, schweren Roman. Hier erzählt kein Polemiker, kein Provokateur. Hier erzählt jemand so zugewandt, dass man ihn trotz leiser Stimme sehr gut versteht.
Manche Romane verdienen völlig unnachprüfbare Superlativ-Urteile, und das hier ist unbedingt einer davon: „Mama Odessa“ beginnt mit dem gegenwärtig besten ersten Kapitel der deutschen Literatur. Biller zaubert mit scheinbar locker hingeworfenen Sätzen eine Familiengeschichte, die einen sofort in den Bann zieht. Deren Protagonisten sind: der Erzähler Mischa und dessen Mutter, der man sehr bald aus der nach Nikotin riechenden Hand frisst. „Im Mai 1987 – ich war erst sechsundzwanzig Jahre alt – schrieb mir meine Mutter auf einer alten russischen Schreibmaschine einen Brief, den sie nie abschickte“, lautet der erste Satz. Ein harmloses, feines Rätsel – warum hat sie den Brief nie abgeschickt? Ein dramaturgisches Versprechen, das der Roman bis zum Schluss zu halten weiß.
Die Mutter heißt Aljona Grinbaum und liegt in Hamburg auf einer „riesigen, roten Rolf-Benz-Couch“, legt Patiencen, raucht lange dünne Kim-Zigaretten und verflucht die Menschen im Westen, „die immer so tun mussten, als ob sie sehr beschäftigt wären“. Der Frust und die Wut hängen tragisch mit dem schlechten Gewissen zusammen, das bis in die Sowjetunion, ins einst jüdisch geprägte Odessa reicht. Wo ihr Vater an einem Herzinfarkt starb, ohne dass ihm die Tochter noch einmal über den Handrücken streichelte.
Neben dieser genervten Mutter, die, wie man schon erfährt, einen „scheußlichen, einsamen Tod“ sterben wird, wirbeln in dieses erste Kapitel ein untreuer Ehemann, der auf jener Couch wahrscheinlich „mit seiner deutschen Nutte“ gelegen hatte, ein „schöner, fröhlicher, armenischer Großvater“, der trotzdem „genauso oft an Selbstmord" dachte „wie andere Leute an Liebe und Essen“, und die große, treibende Frage des Erzählers: „Konnte es sein, dachte ich plötzlich, dass ich inzwischen auch so ein verwirrter, trauriger Erwachsener war wie meine Eltern?“ Drei Seiten, mehr nicht. Aber auf ihnen verdichten sich ganz unangestrengt die Lebenslasten dreier Generationen, politischer Ideen und ihrer gescheiterten Anhänger.
Damit kennt man im Grunde fast die ganze Handlung. Angenehmerweise folgt kein irrer Plot, vielmehr streifen die nächsten knapp 240 Seiten durch die Jahre dieser Familie Grinbaum, die endlosen Ketten entlang, die einen deutschen Wehrmachtssoldaten, Großvater, Mutter, Stalin, Kissinger und Sohn verbinden. Der Roman dröhnt weniger krass und exzentrisch als frühere Werke Billers, es geht weniger um wütende Schriftsteller, um verräterische Onkel, um Hitlergrüße, brutalen Sex. „Mama Odessa“ erzählt fast flüsternd von einer Frau, an deren Händen irgendwann Rattengift vom KGB klebt, die von Heimweh und Ost-Sehnsucht geplagt die großen russischen Poetinnen zitiert, schweres Parfüm trägt und Erzählungen über ihr Leben schreibt.
Auch wenn es um viele Figuren, um mehrere Generationen geht, um den kommunistischen Geheimdienst wie um das Nazi-Massaker in Odessa am Tolbuchin-Platz 1941, strahlt über die gesamte Erzählung die Mutter Aljona hinweg. Die Historie funkelt im Hintergrund, Biller webt sie um seine Protagonisten mit poetischen, sanften Kniffen: „Vielleicht begann sie ja mit dem Schreiben während der ersten Tauwetter-Jahre, als die Menschen zwischen Brest und Wladiwostok wieder das Wort ,morgen‘ lieben lernten.“
Genau das macht den Roman großartig: So scharf und flink Biller seine Charaktere schnitzt, so leicht hätte der Roman ins Dickicht aus Kurzgeschichten, Nebenstränge abrutschen können, verworren und politisch aufgeladen, da ein bisschen KGB, dort die Nazis, dazwischen die neurotischen Deutschen. Aber statt sich ablenken zu lassen von Stalin, von seiner Wut auf die Deutschen oder von sich selbst, statt sich in Eitelkeit oder Provokation zu verlieren, bleiben die prägendsten Szenen Telefonate zwischen einer enttäuschten Mutter und einem enttäuschten Sohn. Bleibt die erste Lesung der Mutter Aljona, bei der nichts Außergewöhnliches passiert, außer dass sie in einem weiten schwarzen Blazer von Jil Sander oder Armani vor dem Publikum sitzt und nicht aufhört zu lesen. Bleibt ein verstörter Sohn, der im Bad seiner schon alten, kranken Mutter steht und plötzlich einen kleinen weißen Plastikhocker in der Wanne entdeckt, neue Chromgriffe in der Dusche und Windeln über dem Waschbecken.
Und meistens liegt der Erzähler auf einem Sofa oder schaut aus dem Fenster und denkt über das Leben seiner Mutter nach, liest ihre Briefe und ihre Erzählungen. In diesem Piano erscheint wenig inszeniert, selbst der Erzähler geht wenig zimperlich mit sich um, zeigt sich egozentrisch, abhängig. Biller liebt seine Figuren, und genau das macht die Geschichte so schmerzhaft. Aljona Grinbaum ist keine klassische Heldin, aber man liebt sie am Ende des Romans mindestens ein kleines bisschen so sehr wie der Erzähler.
Selbstverständlich blitzen ständig Parallelen zu Billers Biografie auf: Es ist das Lebensthema Billers, das Schreiben über die eigene Vergangenheit, die Entscheidungen der Familie, die einen formten. Egal, wohin man als erwachsener, mündiger Mensch zieht, hinter sich schleift man ein Paket aus alten Legenden, Wünschen und Wunden. Da ist der frühe Umzug von der Sowjetunion nach Hamburg, wobei es im Roman nicht Prag, sondern Odessa ist, das die Familie hinter sich lässt. Ein Sohn, der als Journalist und Schriftsteller arbeitet, erst in München lebt, später schlecht gelaunt nach Berlin zieht, dort in der Paris Bar mit einem stark an den verstorbenen Jakob Arjouni erinnernden Schriftsteller abhängt. Da ist ein gelegentlicher Seitenhieb gegen Thomas Mann oder eine zärtliche Beschreibung von Ulf Poschardt („tiefe, warme Stimme, er lachte viel und schnell“ und „Wenn ich versuchen wollte, sein Gesicht zu beschreiben, würde ich es gleich wieder sein lassen, um nicht auf irgendwelche verrutschten Weltkriegs- und Heydrich-Vergleiche zu kommen“).
Vor allem ist da die große Frage, warum eine Frau erst mit 72 Schriftstellerin wird. Tatsächlich veröffentlichte Billers Mutter Rada ihren ersten Roman in genau diesem Alter. „Mama wurde als Schriftstellerin geboren, aber sie wurde es zu spät, um wirklich eine zu werden.“ Es sind diese knappen, melancholischen Sätze, die sehr genau ins Zentrum der gemeinen Wahrheit zielen.
Nein, das ist eben nicht die Geschichte vom späten Glück, von einer alten Frau, die nach einer erfüllten akademischen Karriere eines Nachmittags auf dem Sofa von der Muse geküsst wird und über einer Tasse Fencheltee beschließt, mit 70 als Schriftstellerin zu debütieren. Es ist die Geschichte eines verpassten Lebens. Von einer Frau, die auf dem Parkplatz vor dem Toom-Markt Geschichten schreibt, bevor sie nach Hause kommt, zur kaputten Ehe, ins kaputte Grindelviertel, das die Nazis auf ewig verwüstet haben, und die doch nichts lieber in ihrem Leben gewesen wäre als die „berühmte Nina Agadschanowa“.
Warum muss jemand etwas geworden sein, kann man sich da fragen, wozu die Dramatik um eine Schriftstellerkarriere? Reicht diese intellektuelle Eitelkeit als Fallhöhe? Ja, denn Literatur bedeutet mehr als Erfolg oder Ruhm. Literatur ist der Sinn zwischen allen sinnlosen Entscheidungen. Zwischen den Grausamkeiten der Geschichte, zwischen einer jüdischen Nachbarin, deren Nazivater ihre jüdische Mutter vergewaltigt hatte, zwischen der großen Hoffnung Israel, für die die Familie Grinbaum so viel riskiert hat und die sich trotzdem nie eingelöst hat, zwischen der Tatsache, dass man nicht den Mann geheiratet hat, den man dachte zu heiraten und der einen schließlich für eine Deutsche verlassen hat.
Billers Figuren sind das Gegenteil der Alles-gut-Menschen. Sie sind von Entscheidungen, Reue und Widersprüchen komplex geflochtene Wesen, und Biller folgt ihren Fasern, ohne zu konstruieren, ohne zu korrumpieren. Das Schreiben verspricht ihnen kein Glück, es verbessert noch nicht mal die Welt. Aber es ist nun mal der Sinn, für den sie sich entschieden haben.
Ein zweites Buch kann Aljona – anders als Billers Mutter – nicht mehr veröffentlichen, sie stirbt zu früh. Der Sohn, der sie und sich nicht so genau verstehen wollte, als die Eltern noch lebten, durchkramt nach ihrem Tod den Sekretär nach dem neuen Manuskript. In der Hoffnung, dass darin mehr als in seiner Erinnerung stünde, weil es darin „vielleicht mehr um mich gehen würde“ als in ihrem ersten Buch. Nicht die Realität führt zur Wahrheit, sondern die Literatur.
MARLENE KNOBLOCH
Biller liebt seine Figuren,
das macht seine Geschichten
so schmerzhaft
Die große Frage lautet,
warum eine Frau erst mit
72 Schriftstellerin wird
Beachtliche Anzahl an Büchern und an Feinden: Maxim Biller.
Foto: Thomas Lohnes/Getty
Maxim Biller: Mama Odessa. Roman. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2023. 240 Seiten. 24 Euro
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