Was ist mit über achtzig Jahren für einen Schriftsteller zu tun? Den nächsten Roman beginnen? Warum noch einen alle Geschichten sind erzählt. Doch was jeder Tag aufs Neue bringt, das sind Begegnungen und Erkenntnisse. Erich Loest hat sie notiert und ausgeformt zu Miniaturen voller Weisheit und trockenem Humor. Zwischen August 2008 und September 2010 hielt er fest, was ihn beschäftigte und bewegte: Politisches und Persönliches, Geschichten von unterwegs und vor seiner Haustür. Heiter-gelassen beobachtet er auch sich selbst. Um das Leben von Tag zu Tag auf den Punkt zu bringen, ist das Tagebuch die ideale Form für sein erklärtes "Letztbuch" bedient sich Erich Loest ihrer zum ersten Mal.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.2011Sprengmeister der Erinnerung
Auch wenn er heute 85 Jahre alt wird: In seinem Tagebuch zeigt sich Erich Loest als frischer, energischer Kritiker der deutschen Geschichte. Noch einmal werden falsche Zeugen benannt und laue Legenden korrigiert.
Es soll sein letztes Buch sein, hat Erich Loest angekündigt, aber glauben muss man ihm das nicht. Nur dass er keine Romane mehr schreiben will, aus altersbedingten Beschwerlichkeitsgründen, wäre einzusehen. Dieses letzte ist auch darum ein Tagebuch; zum Glück unterwirft sich der Autor keiner strikten Chronologie. "Mit meinem Tagebuch beginne ich unvermittelt und höre vermutlich aus irgendwelchen Gründen irgendwann auf", teilt er seinen bis dahin vermutlich schon sehr überraschten Lesern auf Seite zwölf mit.
"Man ist ja keine Achtzig mehr" beginnt mit einem Paukenschlag, einem Brief des Sohnes, der seinem alten Vater mitteilt, er werde ihm, wenn er nicht zahle, den Gerichtsvollzieher schicken. Es geht um den Linden-Verlag, den Erich Loest selbst gegründet hat und in die Hände seines Sohnes legte, mitsamt seinen Büchern. Der Sohn hat sie lange, doch mit wenig Fortune betreut, bis es offensichtlich nicht mehr ging. Viele hatten Loest vor dieser Konstruktion gewarnt und warum er das trotzdem so machte, kann man nur ahnen. Als dieser, sein erstgeborener Sohn, sieben Jahre alt war, holte die Stasi die Eltern ab. Die Mutter kam nach Monaten frei, der Vater blieb siebeneinhalb Jahre im Zuchthaus, zum Feind jenes Staates erklärt, den er nach dem Krieg mit allergrößten Hoffnungen und viel Leidenschaft mit aufzubauen begann.
"Nie gelang es mir, den Jungen von sieben und den von vierzehn innerlich zur Deckung zu bringen, es blieben für mich zwei Menschen", notiert Loest über seinen Verlegersohn im Tagebuch, das bis dahin immer mal wieder von aberwitzigen Prozessen um die Urheberrechte, vor allem die des Romans "Völkerschlachtdenkmal" berichtet. Loest schreibt, um seine Freiheit als Autor zurückzugewinnen, schließlich alles noch einmal, nur anders, als "wasserdichtes Remake", dem er den Titel "Löwenstadt" gibt. Auch in diesem Roman durchleidet der Sprengmeister Fredi Linden die DDR, aber er erlebt nun auch, glücklich, ihren Untergang und reibt sich alsbald an neuen Querelen in der freien, der anderen Zeit. Wer Erich Loest kennt - wer nicht, lese dieses Tagebuch -, erblickt hinter neuen Konflikten den Autor, der wie Fredi Linden seiner geliebten Löwenstadt ein ziemlich unbequemer, weil unbestechlicher Zeitgenosse bleibt.
Die Tragödie mit dem Sohn, der den Vater zwar nicht mehr verlegen will, aber auch nicht loslassen kann, durchzieht dieses Tagebuch; sie ist neben den Zumutungen des Alters eine der wenigen Niederlagen, die dem großen Chronisten im Sinne des Wortes ans Herz greift. Ansonsten ist "Man ist ja keine Achtzig mehr" ein typischer Loest, dessen reiches Werk den Resonanzboden hergibt für diese in alltägliche Notizen eingebetteten Erinnerungen. Zuweilen scheint es nur kleinkariertes Hadern mit den Kulturbürokraten seiner Heldenstadt zu sein, das ihm die Tage vergällt. Das Marx-Relief an der Universität, das Loest mit guten Gründen weghaben will, oder die vor sich hin dümpelnde SPD, seine politische Traumheimat, die das Feld ohne Not immer wieder den alten Seilschaften von der Linken überlässt; die peinlichen Auftritte zu den Jubiläumsfeiern der Revolution von 1989 - das alles fügt sich zu einer eigenwilligen Chronik der zwei Jahrzehnte nach der Epochenzäsur. Eingewebt in diesen Flickenteppich sind die Erinnerungen eines exemplarischen Lebens, das von den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts heimgesucht und geprägt worden ist.
Erich Loest, der heute 85 Jahre alt wird, behauptet zwar, sein Kurzzeitgedächtnis lasse nach. Aber in dieser als Tagebuch angelegten Biographie beweist er, dass er die lange Strecke zurück ohne Mühe durchmessen kann und ihm keiner entkommt, der mit faden Glaubensbekenntnissen die Wahrheit verkleistern will. Die Fähigkeit, sich selbst zu korrigieren, sich Irrtümer einzugestehen, unterscheidet diesen deutschen Autor von vielen seiner Zeitgenossen von Anfang an. Von Christa Wolf, Stefan Heym oder Gregor Gysi, Hans Modrow und anderen, die er in diesem Buch (und zuvor in vielen Artikeln) "Bremser" der Wiedervereinigung nennt.
Erich Loest ist kein Enthüller, nur ein nachdrücklicher Chronist, der sich anlässlich des Todes von Solschenizyn auch daran erinnert, wie und warum der "Zensurminister" der DDR, Klaus Höpcke, noch am Ende seines Staates sich rühmte, dessen Werke verhindert zu haben. Höpcke förderte stattdessen einen Schundroman von Harry Thürk, der das Leben des großen Russen in übelster Weise verfälscht. Loest, der sich wie viele, die er heute mit bitterer Lakonie triezt, nachvollziehbar für den Sozialismus entschied, hatte dessen stalinistische Ära erlebt und rasch begriffen, dass so weder Freiheit noch Gleichheit noch Vernunft eine Chance haben würden.
Im Jahr des Volksaufstandes, 1953, war Loest noch Vorsitzender des Leipziger Schriftstellerverbandes. Als er unter dem Titel "Elfenbeinturm und rote Fahne" im Börsenblatt eine bittere Analyse der Fehler und Lügen der SED veröffentlicht, werden für ihn die Weichen ins Abseits der angeblichen Arbeiterrepublik gestellt. 1957 wird er aus der SED ausgeschlossen, ein Jahr später verhaftet und verurteilt. Sein eigenes Leben hat ihn unempfänglich gemacht für faule Kompromisse und unnachgiebig, wenn er etwas als falsch und verlogen erkannt hat. Das ist sicher zuweilen schwer zu ertragen. Aber er kann wohl auch darum Brüche und Umwege besser verstehen. So notiert er im Tagebuch noch einmal die Geschichte jenes Mannes, der mit anderen half, ihn ins Zuchthaus zu bringen. Hans Vogelsang, Ehrenbürger seiner Heimatstadt Mittweida wie Loest, saß drei Jahre im KZ Buchenwald. Vogelsangs Sohn war Loests erster Jungvolkführer.
Diese frühe Jugend, seine Zeit in Hitlers letztem Aufgebot - beschrieben in seinem ersten Roman "Jungen, die übrigblieben" - sollte ihm kürzlich noch einmal vorgehalten werden. Dass der Journalist, der im Bundesarchiv nach Loests NSDAP-Mitgliedskarte suchte, zuvor viel von ihm gelesen hatte, darf bezweifelt werden. Doch außer einer knappen Nachricht, die eigentlich keine war, hat es nichts gebracht. Die Empörungsroutine blieb aus.
REGINA MÖNCH
Erich Loest: "Man ist ja keine Achtzig mehr". Tagebuch.
Steidl, Göttingen 2011. 233 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auch wenn er heute 85 Jahre alt wird: In seinem Tagebuch zeigt sich Erich Loest als frischer, energischer Kritiker der deutschen Geschichte. Noch einmal werden falsche Zeugen benannt und laue Legenden korrigiert.
Es soll sein letztes Buch sein, hat Erich Loest angekündigt, aber glauben muss man ihm das nicht. Nur dass er keine Romane mehr schreiben will, aus altersbedingten Beschwerlichkeitsgründen, wäre einzusehen. Dieses letzte ist auch darum ein Tagebuch; zum Glück unterwirft sich der Autor keiner strikten Chronologie. "Mit meinem Tagebuch beginne ich unvermittelt und höre vermutlich aus irgendwelchen Gründen irgendwann auf", teilt er seinen bis dahin vermutlich schon sehr überraschten Lesern auf Seite zwölf mit.
"Man ist ja keine Achtzig mehr" beginnt mit einem Paukenschlag, einem Brief des Sohnes, der seinem alten Vater mitteilt, er werde ihm, wenn er nicht zahle, den Gerichtsvollzieher schicken. Es geht um den Linden-Verlag, den Erich Loest selbst gegründet hat und in die Hände seines Sohnes legte, mitsamt seinen Büchern. Der Sohn hat sie lange, doch mit wenig Fortune betreut, bis es offensichtlich nicht mehr ging. Viele hatten Loest vor dieser Konstruktion gewarnt und warum er das trotzdem so machte, kann man nur ahnen. Als dieser, sein erstgeborener Sohn, sieben Jahre alt war, holte die Stasi die Eltern ab. Die Mutter kam nach Monaten frei, der Vater blieb siebeneinhalb Jahre im Zuchthaus, zum Feind jenes Staates erklärt, den er nach dem Krieg mit allergrößten Hoffnungen und viel Leidenschaft mit aufzubauen begann.
"Nie gelang es mir, den Jungen von sieben und den von vierzehn innerlich zur Deckung zu bringen, es blieben für mich zwei Menschen", notiert Loest über seinen Verlegersohn im Tagebuch, das bis dahin immer mal wieder von aberwitzigen Prozessen um die Urheberrechte, vor allem die des Romans "Völkerschlachtdenkmal" berichtet. Loest schreibt, um seine Freiheit als Autor zurückzugewinnen, schließlich alles noch einmal, nur anders, als "wasserdichtes Remake", dem er den Titel "Löwenstadt" gibt. Auch in diesem Roman durchleidet der Sprengmeister Fredi Linden die DDR, aber er erlebt nun auch, glücklich, ihren Untergang und reibt sich alsbald an neuen Querelen in der freien, der anderen Zeit. Wer Erich Loest kennt - wer nicht, lese dieses Tagebuch -, erblickt hinter neuen Konflikten den Autor, der wie Fredi Linden seiner geliebten Löwenstadt ein ziemlich unbequemer, weil unbestechlicher Zeitgenosse bleibt.
Die Tragödie mit dem Sohn, der den Vater zwar nicht mehr verlegen will, aber auch nicht loslassen kann, durchzieht dieses Tagebuch; sie ist neben den Zumutungen des Alters eine der wenigen Niederlagen, die dem großen Chronisten im Sinne des Wortes ans Herz greift. Ansonsten ist "Man ist ja keine Achtzig mehr" ein typischer Loest, dessen reiches Werk den Resonanzboden hergibt für diese in alltägliche Notizen eingebetteten Erinnerungen. Zuweilen scheint es nur kleinkariertes Hadern mit den Kulturbürokraten seiner Heldenstadt zu sein, das ihm die Tage vergällt. Das Marx-Relief an der Universität, das Loest mit guten Gründen weghaben will, oder die vor sich hin dümpelnde SPD, seine politische Traumheimat, die das Feld ohne Not immer wieder den alten Seilschaften von der Linken überlässt; die peinlichen Auftritte zu den Jubiläumsfeiern der Revolution von 1989 - das alles fügt sich zu einer eigenwilligen Chronik der zwei Jahrzehnte nach der Epochenzäsur. Eingewebt in diesen Flickenteppich sind die Erinnerungen eines exemplarischen Lebens, das von den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts heimgesucht und geprägt worden ist.
Erich Loest, der heute 85 Jahre alt wird, behauptet zwar, sein Kurzzeitgedächtnis lasse nach. Aber in dieser als Tagebuch angelegten Biographie beweist er, dass er die lange Strecke zurück ohne Mühe durchmessen kann und ihm keiner entkommt, der mit faden Glaubensbekenntnissen die Wahrheit verkleistern will. Die Fähigkeit, sich selbst zu korrigieren, sich Irrtümer einzugestehen, unterscheidet diesen deutschen Autor von vielen seiner Zeitgenossen von Anfang an. Von Christa Wolf, Stefan Heym oder Gregor Gysi, Hans Modrow und anderen, die er in diesem Buch (und zuvor in vielen Artikeln) "Bremser" der Wiedervereinigung nennt.
Erich Loest ist kein Enthüller, nur ein nachdrücklicher Chronist, der sich anlässlich des Todes von Solschenizyn auch daran erinnert, wie und warum der "Zensurminister" der DDR, Klaus Höpcke, noch am Ende seines Staates sich rühmte, dessen Werke verhindert zu haben. Höpcke förderte stattdessen einen Schundroman von Harry Thürk, der das Leben des großen Russen in übelster Weise verfälscht. Loest, der sich wie viele, die er heute mit bitterer Lakonie triezt, nachvollziehbar für den Sozialismus entschied, hatte dessen stalinistische Ära erlebt und rasch begriffen, dass so weder Freiheit noch Gleichheit noch Vernunft eine Chance haben würden.
Im Jahr des Volksaufstandes, 1953, war Loest noch Vorsitzender des Leipziger Schriftstellerverbandes. Als er unter dem Titel "Elfenbeinturm und rote Fahne" im Börsenblatt eine bittere Analyse der Fehler und Lügen der SED veröffentlicht, werden für ihn die Weichen ins Abseits der angeblichen Arbeiterrepublik gestellt. 1957 wird er aus der SED ausgeschlossen, ein Jahr später verhaftet und verurteilt. Sein eigenes Leben hat ihn unempfänglich gemacht für faule Kompromisse und unnachgiebig, wenn er etwas als falsch und verlogen erkannt hat. Das ist sicher zuweilen schwer zu ertragen. Aber er kann wohl auch darum Brüche und Umwege besser verstehen. So notiert er im Tagebuch noch einmal die Geschichte jenes Mannes, der mit anderen half, ihn ins Zuchthaus zu bringen. Hans Vogelsang, Ehrenbürger seiner Heimatstadt Mittweida wie Loest, saß drei Jahre im KZ Buchenwald. Vogelsangs Sohn war Loests erster Jungvolkführer.
Diese frühe Jugend, seine Zeit in Hitlers letztem Aufgebot - beschrieben in seinem ersten Roman "Jungen, die übrigblieben" - sollte ihm kürzlich noch einmal vorgehalten werden. Dass der Journalist, der im Bundesarchiv nach Loests NSDAP-Mitgliedskarte suchte, zuvor viel von ihm gelesen hatte, darf bezweifelt werden. Doch außer einer knappen Nachricht, die eigentlich keine war, hat es nichts gebracht. Die Empörungsroutine blieb aus.
REGINA MÖNCH
Erich Loest: "Man ist ja keine Achtzig mehr". Tagebuch.
Steidl, Göttingen 2011. 233 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Regina Mönch legt denjenigen, die Erich Loest noch nicht kennen, sein (angeblich letztes) Buch ans Herz, das sich als Erinnerungsbuch im Gewand eines Tagebuchs der Zeit nach dem Mauerfall präsentiert. Der heute auf den Tag 85-Jährige zeigt sich darin so frisch und unbeirrbar wie eh und je, stellt die Rezensentin fest, die Loest besonders dafür schätzt, dass er, im Gegensatz zu Christa Wolf, Gregor Gysi oder Hans Modrow, keine Schwierigkeiten hatte, Fehler und Irrtümer in seinem Leben einzugestehen. Das Tagebuch hebt mit dem hässlichen Urheberstreit um Loests Roman "Völkerschlachtdenkmal" mit seinem Sohn an, ein Konflikt, der sich durch den ganzen Band zieht, wie Mönch feststellt. Aber er macht auch seiner Enttäuschung über die "Kulturbürokraten" Leipzigs und die SPD Luft und zeigt sich auch sonst als "unbequemer Zeitgenosse", so die Rezensentin mit unverhohlener Bewunderung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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